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Beitrag vom 27.08.2023
Spanien ist Frauenfußball-Weltmeisterin 2023
Sylvia Rochow
Erster Titelgewinn der Ibererinnen wird von sexualisiertem Übergriff des Verbandspräsidenten gegen Mittelfeldspielerin Jennifer "Jenni" Hermoso überschattet. Europameisterin England verliert Endspiel 0:1, Titelverteidigerin USA scheidet im Achtelfinale aus. Olympiasiegerin Kanada und Deutschland müssen bereits nach Gruppenphase die Segel streichen.
Vom 20. Juli bis 20. August 2023 fand in Australien und Neuseeland die neunte Frauenfußball-Weltmeisterinnenschaft statt. Spanien hat sich bei dem Turnier, das viele mitreißende Spiele und häufig Fußball auf höchstem Niveau bot, mit einem verdienten 1:0-Sieg im Finale gegen England den ersten WM-Titel gesichert. Olga Carmona erzielte in der 29. Spielminute das entscheidende Tor mit einem platzierten Flachschuss. "Lionesses"-Coach Sarina Wiegman, Europameisterin mit England 2022 sowie ihrem Heimatland Niederlande 2017, blieb damit auch in ihrem zweiten WM-Endspiel als Trainerin ohne Titel. "Oranje" unterlag 2019 Rekord-Weltmeisterin USA.
Die US-Amerikanerinnen um Megan Rapinoe erreichten "Down Under" schon nur mit Mühe das Achtelfinale und scheiterten dort im Elfmeterschießen an Schweden. Olympiasiegerin Kanada, Brasilien, Co-Gastgeberin Neuseeland und Vize-Europameisterin Deutschland mussten bereits nach der Gruppenphase die Segel streichen. Japan, Weltmeisterin 2011, überzeugte dagegen in der Vorrunde, musste sich im Viertelfinale jedoch ebenfalls "Blågult" geschlagen geben. Die Skandinavierinnen bezwangen schließlich im Spiel um Platz 3 Co-Gastgeberin Australien mit 2:0.
Der erste Titelgewinn von "La Roja" wird vom sexualisierten Übergriff des Präsidenten des spanischen Fußballverbandes (RFEF), Luis Rubiales, überschattet. Der 46-Jährige hatte Mittelfeldspielerin Jennifer "Jenni" Hermoso während der Siegerinnenehrung nach dem Finale im Australia Stadium in Sydney am 20. August 2023 ohne deren Zustimmung auf den Mund geküsst. Zuvor war er auf der Tribüne bereits mit obszönen Gesten aufgefallen. Der Skandal schlug und schlägt in Spanien wie international hohe Wellen. Der sozialistische spanische Ministerpräsident Pedro Sánchez übte beispielsweise beim Empfang der Weltmeisterinnen in Madrid scharfe Kritik an Rubiales´ "inakzeptabler Geste" und dessen zwischenzeitlicher vermeintlicher Entschuldigung, die Sánchez als "unangemessen" bezeichnete.
Die RFEF hatte daraufhin für fünf Tage nach dem WM-Endspiel eine außerordentliche Generalversammlung einberufen. Dort rief Rubiales den Zuhörer*innen in einer dubiosen Rede mehrfach zu, er werde nicht zurücktreten und stellte sich als Opfer einer Intrige dar. Der komplette 23-köpfige WM-Kader sowie zahlreiche weitere spanische Fußballerinnen forderten im Anschluss an das Meeting in einer Stellungnahme der Spielerinnenvereinigung FUTPRO vom 25. August 2023 Konsequenzen für den RFEF-Präsidenten, warben um Unterstützung und brachten ihre Solidarität mit Hermoso zum Ausdruck. Die 33-Jährige äußerte sich im gleichen Communiqué auch selbst: "Ich möchte klarstellen, dass ich, wie auf den Bildern zu sehen ist, zu keinem Zeitpunkt in den Kuss eingewilligt habe, den er mir gegeben hat [...]. Ich dulde nicht, dass mein Wort in Frage gestellt wird und noch weniger, dass Worte erfunden werden, die ich nicht gesagt habe." Abschließend kündigten die seit noch nicht einmal einer Woche amtierenden Weltmeisterinnen an, "nicht in die Nationalmannschaft zurückzukehren, sollte die derzeitige Leitung weiterhin Bestand haben."
AVIVA-Berlin fasst einige Reaktionen in den sozialen Netzwerken aus der Sport- und Politikwelt zusammen, die vielfach die Parole "Se acabó!" (übersetzt: Es ist vorbei!) verbreiten.
Ione Belarra (Spaniens Ministerin für soziale Rechte und die Agenda 2030 von der Partei Podemos): "Es ist sehr einfach. Zwei Menschen küssen sich, wenn beide wollen, wenn Einverständnis besteht. Nur ja ist ja. […] Sexuelle Gewalt, insbesondere weniger intensive, ist weiterhin unsichtbar und normalisiert, aber es ist notwendig, sie beim Namen zu nennen, um ihr ein Ende zu setzen. Es handelt sich nicht nur um Machismo, Machtmissbrauch oder eine sexistische Handlung: Es handelt sich um sexuelle Gewalt."
Nadia Calviño (Spaniens stellvertretende Ministerpräsidentin sowie Ministerin für Wirtschaft): "Der spanische Sport ist ein weltweiter Maßstab und seine Vertreter*innen müssen Vorbild sein. Das Verhalten derjenigen, die den gesamten spanischen Fußball vertreten, ist unbegreiflich und inakzeptabel. Wir stehen an der Seite der Spielerinnen. #SeAcabó"
Cata Coll (spanische Nationaltorhüterin und Weltmeisterin 2023 vom FC Barcelona): "Schade, dass nicht 23 Fußballerinnen die Protagonistinnen sind...Se acabó! Mit dir bis in den Tod, Jenni Hermoso."
Ana Maria Crnogorčević (schweizerische Fußball-Nationalspielerin vom FC Barcelona): "Ich drehe durch… Se acabó. f*** this bulls**t, f**k all this f**king lies. Immer bei dir, Jenni."
Merel van Dongen (niederländische Fußball-Nationalspielerin von Atlético Madrid): "[…] Ich bin stolz darauf, dass sich Frauen, Männer, Medien und Politik in Spanien endlich zusammenschließen, um etwas zu ändern, was seit Jahren nicht richtig war. Se acabó. Es ist Zeit für Gerechtigkeit."
Laura Freigang (deutsche Fußball-Nationalspielerin von Eintracht Frankfurt in einem Beitrag für die Zeitschrift VOGUE): "Für mich zeigt Rubiales´ Verhalten vor allem eines: wie wenig Sensibilität und Selbstreflexion er gegenüber Themen wie Sexualisierung, Sexismus und Machtverhältnissen im Sport besitzt."
Caroline Graham Hansen (norwegische Fußball-Nationalspielerin vom FC Barcelona): "Jenni Hermoso. bei dir! Das sind alles Lügen. Wir alle sehen, was wirklich passiert ist."
Irene Montero (Spaniens Ministerin für Gleichstellung von der Partei Podemos): "Du bist nicht allein. #SeAcabó"
Eli Pinedo (ehemalige spanische Handball-Nationalspielerin): "Inmitten all dieser Peinlichkeiten gibt es etwas sehr Schönes und gleichermaßen Wichtiges: Wir schweigen nicht mehr, wir dürfen nicht schweigen. Eine starke Botschaft für künftige Generationen. Bei dir, Jenni Hermoso."
Alexia Putellas (spanische Weltfußballerin 2021 und 2022 sowie Weltmeisterin 2023 vom FC Barcelona): "Das ist inakzeptabel. Se acabó. Bei dir, Jenni Hermoso."
Andrea Vilaró (spanische Basketball-Nationalspielerin): "Luis Rubiales verfügt über kein bisschen Reflexion. Geschweige denn Selbstreflexion. […] Als Sportlerinnen und als Frauen sollten wir unsere Stimme erheben."
Mehr Infos unter: fifa.com/womensworldcup, FUTPRO und Jennifer Hermosos Twitter-Account
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Copyright Text und Foto: Sylvia Rochow