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Beitrag vom 21.09.2021
Annette Kehnel - Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit
Helga Egetenmeier
Wie sollten wir leben und wirtschaften, um die Klimakrise zu stoppen? Dies fragte sich die Historikerin und Professorin für Mittelalterliche Geschichte Annette Kehnel und fand darauf weitreichende Antworten bei den vormodernen Gesellschaften. Dass Frauen-Wohngemeinschaften, Mikrokreditbanken, Secondhandmärkte,...
... Recycling und "Rent a Cow" jahrhundertelang die Kreislaufwirtschaft prägten, und zu nachhaltigem Wirtschaften und sozialer Gerechtigkeit beitrugen, beschreibt sie detailliert in diesem Buch.
Die Menschheit steht an einer Zeitenwende, so die zentrale Botschaft von Annette Kehnel. Denn auf die zunehmenden politischen Verunsicherungen, die unter anderem durch die Begrenztheit der Ressourcen, die wachsende Ungleichheit und den Klimawandel entstünden, hätten auch die wirtschaftlich reichsten Länder der Erde bisher keine Lösungen gefunden. Deshalb müsse das Konzept der Moderne, das seit 200 Jahren mit seiner Ideologie der Profitmaximierung weltweit die Gesellschaften prägt, beendet werden.
Wie die Ökonomin Kate Raworth, die Nachhaltigkeitswissenschaftlerin Maja Göpel und viele weitere Wissenschaftler*innen, stellt sich die Historikerin hinter die Anliegen der Fridays for Future-Bewegung. Ihre Recherchen sollen dazu beitragen, "die Fridays-for-Future-Generation mit Rückenwind aus der Vergangenheit zu unterstützen, im gemeinsamen Kampf für die Zukunft unseres wunderbaren Planeten." Für diesen "Rückenwind" findet Kehnel eine Vielzahl an Errungenschaften bei den europäischen Gesellschaften, die vor dem Anthropozän lebten, und die heute als Bausteine für ein zukunftsfähiges Handeln dienen könnten.
Der Blick zurück hinter den Kapitalismus
Mit ihrem Blick hinter die Zeit des Kapitalismus, möchte die Autorin "Inspirationen vermitteln, unseren Möglichkeitssinn wecken und uns helfen, die Grenzen überkommener Denkmuster zu überwinden." Doch bevor sie in ihrem Buch näher auf ihre Recherchen eingeht, präsentiert sie den Leser*innen ein differenziertes Bild dieser Zeit. Dazu grenzt sie sich sowohl von den Kritiker*innen des Mittelalters, wie auch von den "Romantiker*innen" ab, denn diese hätten eines gemeinsam: "Sie ´exotisieren´ die Welt der Menschen, die früher gelebt haben."
Da sich Annette Kehnel auf die erfolgreichen Errungenschaften des Mittelalters konzentriert, befasst sie sich nur am Rande mit der Kritik an den damaligen Macht- und Lebensverhältnissen. Sie ruft ihre Leser*innen dazu auf, sich den Alltag der Menschen nicht nur so vorzustellen, als ob diese "von morgens bis abends schufte[te]n". Dazu führt sie die Studie "Entwicklung der durchschnittlichen Jahresarbeitszeit vom 13. bis zum 20. Jahrhundert", der US-amerikanischen Professorin für Soziologie, Juliet B. Schor an. Anhand der in ihrem Buch "The overworked american" (1991) veröffentlichten Statistik, auf die Annette Kehnel verweist, lag die Zahl der Arbeitsstunden im 14. Jahrhundert bei 1.440 und war damit geringer als mit 1.856 Stunden im Jahr 1988.
Umweltschutz und soziale Verantwortung
Bei ihrer Suche nach erfolgreichen historischen Vorbildern für die nachhaltige Nutzung von endlichen Ressourcen entdeckte sie Wirtschaftsformen, die über Jahrhunderte hinweg funktionierten und gleichzeitig die soziale Verantwortung für die nachfolgenden Generationen einschlossen. Nach diesen Ansätzen, die laut Kehnel heute bereits wieder sichtbar seien, benannte sie ihre Kapitel mit: "Sharing", "Recycling", "Mikrokredit", "Spenden und Stiften" und "Minimalismus".
Mikrokredite und die Teilhabe von Frauen am Markt
Die Teilhabe von Frauen am Wirtschaftsgeschehen behält Annette Kehnel bei ihren Recherchen immer im Blick. So erwähnt sie die geschäftstüchtigen Fugger-Frauen und die Geldgeberinnen, die den Bau der Brücke von Avignon unterstützten. In ihrem Kapitel "Mikrokredite" erklärt sie am Beispiel der Basler Textilunternehmerin Elsi Tieringer darauf, dass Frauen in der Vormoderne am Kreditmarkt, sowohl als Schuldnerinnen, wie auch als Gläubigerinnen, ganz selbstverständlich teilnahmen. Dennoch seien die Informationen zu Tieringer nur deshalb überliefert, weil sie 1480 in die Insolvenz ging. Über ihr florierendes Geschäft und ihre vielfältigen Geschäftsbeziehungen, die Kehnel im Detail ausführt, wäre ohne die Gerichtsverhandlung nicht berichtet worden.
"Sharing" - begrenzte Ressourcen gerecht nutzen
Zu den Beginenhöfen, die im 13. Jahrhundert in Flandern entstanden, gibt es eine gute Quellenlage, aus der Annette Kehnel im Buch auch Zeichnungen einfügt. Ausführlich erklärt sie, wie diese städtischen Wohngebiete es Frauen aus unterschiedlichen sozialen Schichten ermöglichten, unabhängig von Familienstrukturen ein eigenständiges Leben zu führen.Kehnel beschreibt sie als Frauen, die "eine Lebensform intensivierter Frömmigkeit" lebten und sich "zur Einhaltung der Regeln des Hauses" verpflichteten. Sie erwähnt jedoch nicht, dass die Teilnahme an diesen "Ermöglichungsgemeinschaften" zur gemeinsamen Nutzung von Ressourcen ausschließlich christlichen Frauen vorbehalten war.
Im Kapitel "Sharing" nimmt sich Kehnel auch einer der wichtigsten Fragen zur Verteilungsgerechtigkeit an, der nach dem Umgang mit den globalen Allmende-Ressourcen Wasser, Luft und Boden. Eine Antwort dazu hat sie in den mittelalterlichen Sharing Communitys gefunden, wie den Waldgenossenschaften, der Bodenseefischerei und der Fernweidewirtschaft. Deren selbstverständliche Arbeitsweise war es, nachhaltig zu wirtschafteten, so die Wissenschaftlerin, es ging dabei "den Menschen im vorindustriellen Zeitalter nicht um Naturschutz, sondern um die Bewahrung ihrer Lebensgrundlage."
Die Kreislaufwirtschaft - Recycling, Reparieren und Secondhand
Im Kapitel "Recycling" kontrastiert Kehnel die Kreislaufwirtschaft der Vormoderne mit der heutigen kapitalistischen Wegwerfgesellschaft. Als ein prägnantes Beispiel zieht sie dazu die Papierherstellung heran, bei der sich der zugrundeliegende Rohstoff über die Jahrhunderte hinweg mehrfach änderte. Denn bevor dafür wertvolle Baumbestände abgeholzt wurden, galten recycelte Lumpen lange Zeit als der wichtigste Rohstoff für Papier. Als dieser knapp wurde, ersetzten ihn Stroh und schnell wachsende Gräser - Versuche zur Papiererzeugung, die es heute auch wieder gibt. Dass Holz jemals als Grundlage für Papier dienen könnte, so zeigt die Wissenschaftlerin, wurde bis Mitte des 18. Jahrhundert von Expert*innen bezweifelt. Diese Ignoranz gegenüber neuen Ideen sei ein wichtiges Argument dafür, dass Experimente sich auszahlen: "Auch und gerade dort, wo gern Alternativlosigkeit gepredigt wird."
Heute einer der größten Verursacher von Treibhausgasen ist, wie Annalena Baerbock in ihrem Buch "Jetzt. Wie wir unser Land erneuern" erläutert, der Bausektor. Auch hier zeigt Annette Kehnel, dass es in diesem Wirtschaftszweig über viele Jahrhunderte hinweg Erfahrungen mit dem Prinzip des Recyclens gab. Vorhandene Steine wurde als preisgünstige Alternative weitergenutzt, statt neue Blöcke aus Steinbrüchen zu brechen. So spricht auch hier vieles dafür, die bewährte Kreislaufwirtschaft neu aufzubauen.
Damals zentraler Bestandteil städtischen Lebens, gibt es heute kaum mehr Reparaturberufe bedauert die Autorin. Zusammen mit den Secondhandmärkten waren sie alltäglich und "keine Domäne der Armen". Als mögliche Gründe für deren Verschwinden nennt sie die billigen Produktpreise, aber auch die sogenannte "geplante Obsolenz", womit gemeint ist, den gewollten Verschleiß bereits bei der Produktentwicklung einzuplanen.
Ihr Aufruf: Handeln gegen die Klimakrise
Nachdem Annette Kehnel in den weiteren Kapiteln Beispiele für "Spenden und Stiften" angeführt, und "Minimalismus" als vormoderne Form von Konsumverzicht erläutert, fordert sie im Schlusskapitel die Leser*innen auf, sich "aus dem Käfig der Alternativlosigkeit" zu befreien. Dazu verweist sie auf die von der Oxforder Ökonomin Kate Raworth entwickelte "Donut-Ökonomie", als ein Modell, welches Wirtschaften ohne die Zerstörung der Lebensgrundlagen ermöglicht. AVIVA-Berlin hat bereits in der Rezension zu ihrem Buch "Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört" auf die Relevanz dieses Ansatzes hingewiesen, mit dem Kate Raworth für eine ökologische und menschenfreundliche Ökonomie eintritt.
"Was würden sie uns raten, unsere Vorfahr*innen?" fragt Annette Kehnel sich und die Leser*innen zum Schluss ihres Buches. Wir sollten die Trägheit nicht unterschätzen, würden sie antworten, und "den Leuten Beine machen [...] die in ihren Chefsesseln kleben und darauf bestehen, dass die Welt nach ihren Regeln funktionieren muss." Und da "Männer dafür ganz besonders anfällig" sind, gehöre zum Rat unserer Vorfahr*innen, "endlich wieder mehr Frauen Ruder und Steuer zu überlassen." Denn es muss sich was ändern, so die Wissenschaftlerin, "Nachhaltigkeit ist unsere einzige Überlebensstrategie."
AVIVA-Tipp: Dass die Menschen im Mittelalter ressourcenschonend wirtschafteten, beweist die Historikerin Annette Kehnel mit ihrem Buch anhand fundierter Recherchen. Ihre Beispiele zeigen, dass sich die Gesellschaften der Vormoderne jahrhundertelang am Gemeinwohl orientierten, bevor in der Moderne die Ideologie der Profitmaximierung in die Klimakrise führte. So bietet die Wissenschaftlerin in "Wir konnten auch anders", neben einer spannenden Lektüre, auch eine breite Fülle an Alternativen, um das Wohl der nachfolgenden Generationen wieder mitzudenken.
Zur Autorin: Annette Kehnel geboren 1963, wuchs in einem südbadischen Winzer*inennhof auf, ihre Eltern wirtschafteten damals schon nach ökologischen Standards. Sie studierte Geschichte und Biologie an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg, am Somerville College Oxford und an der LMU München. Ihr Promotionsstudium am Trinity College Dublin widmete sie der Erforschung irischer Klostergemeinschaften und arbeitete danach an der TU Dresden, wo sie sich im Jahr 2004 habilitierte. Seit 2005 ist sie Inhaberin des Lehrstuhls für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Mannheim. Sie hat zahlreiche Veröffentlichungen zu ihren Forschungsschwerpunkten Kultur- und Wirtschaftsgeschichte in der historischen Anthropologie vorgelegt.
Mehr Infos: www.phil.uni-mannheim.de
Annette Kehnel
Wir konnten auch anders. Eine kurze Geschichte der Nachhaltigkeit
Blessing-Verlag, erschienen im Mai 2021
Hardcover mit Schutzumschlag, gebunden, 78 s/w Abbildungen, 488 Seiten
ISBN 978-3-89667-679-5
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.penguinrandomhouse.de
Weitere Infos unter:
www.de.scientists4future.org
Scientists for Future sind ein überparteilicher und überinstitutioneller Zusammenschluss von Wissenschaftler*innen aus allen Disziplinen. Sie sehen sich in der Pflicht, angesichts der globalen Klima-, Biodiversitäts- und Nachhaltigkeitskrise, öffentlich und proaktiv die Stimme zu erheben und damit zu sachlichen politischen Diskussionen beizutragen.
www.zdf.de
Annette Kehnel auf dem blauen Sofa im Gespräch über ihr Buch mit Marie Sagenschneider.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Annalena Baerbock - Jetzt. Wie wir unser Land erneuern
Annalena Baerbock, die erste Kanzlerkandidatin von Bündnis 90/ Die Grünen, präsentiert sich in ihrem Buch als Mensch, Mutter und Politikerin. In vier Kapitel verknüpft sie ihre politische Entwicklung mit ihren privaten Erfahrungen und stellt dabei die Themen ihrer Partei vor. Mit viel Detailwissen führt sie an, weshalb die Grünen dazu prädestiniert sind, adäquat auf die Klimakrise zu reagieren und die globale Demokratie zu stärken. (2021)
I am Greta - Dokumentarfilm von Nathan Grossman
Dass Greta Thunberg als Fünfzehnjährige einen Sitzstreik gegen die politische Ignoranz der Klimakrise vor dem schwedischen Reichstag begann, ist vielen bekannt. Dass von Anfang an eine Kamera dabei war, die damit die Entstehung der Fridays For Future Bewegung dokumentieren konnte, war Zufall und ein Glück für die weltweite Initiative für Klimagerechtigkeit. (2020)
Maja Göpel - Unsere Welt neu denken. Eine Einladung
Die Einladung der Mitbegründerin der "Scientists for Future" und Honorarprofessorin an der Leuphana Universität in Lüneburg für ein Umdenken zu Gunsten der Zukunftsfähigkeit unserer Gesellschaft fällt in eine Zeit, die durch die Corona-Pandemie weltweit eine Aufgabe und Herausforderung für Solidarität geworden ist.. (2020)
Naomi Klein - Warum nur ein Green New Deal unseren Planeten retten kann. On Fire. The (Burning) Case for a Green New Deal
Die kanadische Klimaaktivistin Naomi Klein ("Die Entscheidung. Kapitalismus vs. Klima", "Die Schock-Strategie. Der Aufstieg des Katastrophen-Kapitalismus", "No Logo!") ist keine Freundin der leisen Töne. Sie fordert radikales Umdenken in Bezug auf unseren Umgang mit dem Planeten Erde und bietet ein klares Konzept, wie der Klimakollaps aufzuhalten ist. Ihre Antwort ist der Green New Deal. (2019)
Kate Raworth - Die Donut-Ökonomie. Endlich ein Wirtschaftsmodell, das den Planeten nicht zerstört
Aktueller könnte Kate Raworth mit ihrer Kritik am vorherrschenden Wirtschaftsmodell und ihren Vorschlägen zum Umdenken nicht sein. Ganz im Sinne der Fridays-for-Future-Bewegung und deren Engagement für sofortige Klimaschutz-Maßnahmen, stellt sie die veralteten Lehren der Wirtschaftswissenschaften fundiert in Frage. Mit ihrem "Donut-Modell" diskutiert sie Alternativen und plädiert für eine ökologische und menschenfreundliche Ökonomie, die an vorhandene Konzepte anknüpfen kann. (2019)