AVIVA-Berlin >
Literatur > Romane + Belletristik
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 02.07.2023
Sofi Oksanen – Hundepark
Doris Hermanns
Es sind hochaktuelle Themen, um die es in dem brillanten Roman "Hundepark" der finnischen Autorin Sofi Oksanen, die am 6. Mai 2023 mit dem Usedomer Literaturpreis ausgezeichnet wurde, geht: die Auswirkungen der Reproduktionstechnologien – von Eizellen"spenden" bis zu Mietmutterschaft – auf die betroffenen Frauen und die Anfänge des Krieges in der Ukraine.
In letzter Zeit häufen sich die Meldungen in der Presse, laut denen Paare "glückliche Eltern" geworden seien. Bei genauerem Hinsehen haben sie diese Kinder jedoch gekauft, ausgetragen wurden die jeweiligen Kinder von einer Mietmutter. Noch im Mai 2022 hat das Europaparlament "Leihmutterschaft" ausdrücklich verurteilt und darauf hingewiesen, dass arme Frauen weltweit durch sie dem Risiko der Ausbeutung ausgesetzt sind. Auch in der UN-Kinderrechtskonvention ist ausdrücklich festgelegt, dass jedes Kind das Recht hat, nicht gegen Geld gehandelt zu werden.
Bei den Berichten, wie großartig es doch ist, dass dieses oder jenes Paar nun Eltern geworden ist, werden diejenigen völlig außeracht gelassen und meist nicht einmal erwähnt, die die Kinder austragen (und nur diese sind laut deutschem Recht Mütter): die Mietmütter.
Während sie in der Presse ignoriert werden, stehen die Eizellen"spenderinnen" und Mietmütter im Mittelpunkt dieses spannenden Romans der finnischen Autorin Sofi Oksanen. Wie bei ihr gewohnt spielt sich die Handlung zwischen Finnland und einem osteuropäischen Land ab, diesmal ist es die Ukraine. Der Handel mit Kindern wurde in den letzten Jahren auch denen bekannt, die sich vorher nicht mit Reproduktionstechnologien beschäftigt hatten: Erst konnten die in Auftrag gegebenen Kinder während der Corona-Pandemie aufgrund der Reisebeschränkungen nicht abgeholt werden und während des jetzigen Krieges konnten die Mietmütter nicht ausreisen, da der Verkauf der geborenen Kinder in anderen Ländern illegal gewesen wäre.
Die Romanhandlung setzt 2016 in Helsinki ein, als sich zwei ukrainische Frauen begegnen und eine Familie mit zwei Kindern beobachten. Schnell wird klar, dass es sich um ihre eigenen Kinder handelt, denen sie zusammen im titelgebenden Hundepark zuschauen, die jedoch nichts von ihnen ahnen. Warum diese Begegnung zu einer Gefahr für Olenka, die aus der Ukraine geflohen ist, werden kann, bleibt erst einmal unklar. "Wort für Wort schlug sie einen Stein nach dem anderen aus den Fundamenten meines sorgfältig aufgebauten Lebens."
Sofi Oksanen erzählt die Geschichte von Olenka auf zwei Zeitebenen. Neben ihrer Zeit in Helsinki gibt es Rückblicke auf ihre Kinderzeit in Tallinn in Estland und später in der Ukraine, wohin ihr Vater nach dem Auseinanderbrechen der Sowjetunion unbedingt wieder hin zurück wollte. Nicht nur für einen kurzen Besuch, wie sie dachte, sondern die Familie bleibt dort. Ihr Vater gerät immer mehr in illegale Machenschaften verstrickt, die er letztendlich nicht überlebt. Olenka versucht, der Armut im Land zu entkommen, indem sie eine Karriere als Model in Paris anstrebt, die allerdings schon bald scheitert. Als sie in die Ukraine zurückkehrt, träumt sie nicht wie andere davon zu heiraten. Sie hat ganz andere Pläne: Sie möchte als Dolmetscherin oder Visum-Agentin arbeiten, vielleicht sogar eines Tages ein eigenes Unternehmen gründen. Sicher ist, dass sie nicht in den Mohnanbau einsteigen will, den ihre Familie betreibt. "Auch ich hatte mir mehr gewünscht, als meine Heimat mir zu bieten hatte."
Eher zufällig gerät Olenka in die Reproduktionsindustrie. Sie weiß erst einmal gar nicht, um was für eine Art Arbeit es sich handelt, als sie dort anfängt. Für sie ist die Hauptsache, dass sie damit Geld verdienen kann. Erst nach und nach erkennt sie, worum es geht: Armen Frauen bzw. Mädchen wird ein passender Lebenslauf verpasst. Diese werden in einen Katalog aufgenommen, aus dem sich ausländische KäuferInnen eine Frau als Eizellen"spenderin" aussuchen können, die ihren westlichen Ansprüchen und Erwartungen entspricht. Alle Details beschreibt die Autorin überaus kenntnisreich: die Brutalität dieser Menschen, die sich gerne als zukünftige liebende Eltern ausgeben, wie auch die Auswirkung der Eizellen"spenden" sowie Mietmutterschaft auf die (Körper der) betroffenen Frauen.
Dass die Eizellen"spenden" in keinster Weise mit Samenspenden zu vergleichen sind, wird überdeutlich. "Ich erinnere mich an meinen Zustand nach dem Absaugen der Eizellen, an das ständige Erbrechen, den empfindlichen Magen und die Flaschen mit heißem Wasser. (…) die von den Hormonen verursachten Stimmungsschwankungen."Dabei kann es auch zu Komplikationen – schon eine einzige Spende kann ein Risiko darstellen - bis hin zu Todesfällen kommen. Im Roman muss Olenka, die inzwischen als Vermittlerin arbeitet, Ersatz für eine gestorbene "Spenderin" finden. "Ich war mit diesem Auftrag gescheitert, hatte nicht rechtzeitig eine ethnisch passende Spenderin gefunden und fürchtete, in meinen alten Aufgabenbereich zurückkehren zu müssen." Ersatz findet sie in Daria – und sie ist es, der sie später in Helsinki wieder begegnet.
Deutlich wird, wie die KäuferInnen Frauen wie Ware auf ihre Brauchbarkeit hin prüfen, sie begrapschen sie, sehen sie nicht als Menschen, reden kein Wort mit ihnen. Perfektioniert wird die Unsichtbarkeit dann dadurch, dass die Mütter, also die Frauen, die die Kinder gebären, nicht auf den Geburtsurkunden auftauchen, als ob sie nicht existiert und keine Rolle bei der Geburt gespielt hätten. Gerne wird auch so getan, als ob die Frauen diese Ausbeutung als Berufung sehen (wie es bei der in Deutschland geplanten Legalisierung von "altruistischer" Mietmutterschaft behauptet wird), also ob es ihnen nicht nur darum ginge, aus ihrer Armut herauszukommen. Sehr deutlich wird in diesem Roman jedoch, dass es genau darum geht: Sie stellen ihren Körper gegen Geld zur Verfügung, sei es für Eizellen"spenden" oder auch für Mietmutterschaften, um die es bereits in Sofi Oksanens Roman Die Sache mit Norma ging. In einer wichtigen Szene des Buches beschreibt sie, wie unterschiedlich die Erwartungen von Kindern an ihr Leben im reichen Finnland im Gegensatz zu denen in der Ukraine sind.
Ein anderes Thema dieses vielschichtigen Romans ist die aktuelle Geschichte der Ukraine, das Auseinanderbrechen der Sowjetunion sowie die 2014 bereits begonnenen Besetzung des Landes durch Russland. Deutlich wird, was diese für die dort lebenden Menschen bedeutet. Der Krieg hatte damals bereits begonnen, wie nicht nur aus dem Roman deutlich wird. Die Orte, die uns heute aus den Nachrichten geläufig sind, wie Donezk und Donbass, wären es bei Erscheinen der Originalausgabe des Romans 2019 vermutlich noch nicht gewesen.
AVIVA-Tipp: Ein beeindruckender, hochpolitischer, aktueller Roman, der von der ersten bis zur letzten Seite spannend bleibt, und Frauen, die in der Presse – und damit auch in unserer Wahrnehmung – unsichtbar gemacht werden, eine Stimme gibt.
Da die Regierung derzeit sowohl die Legalisierung von Eizellen"spenden" sowie der "altruistischen" Mietmutterschaft im Zusammenhang mit Abtreibung vorantreiben will, ist diesem Roman zu wünschen, dass er vor allem von denen gelesen wird, die sich bislang noch nicht mit diesen Themen beschäftigt haben und keine Ahnung haben, was die Legalisierung der beiden ersten für Frauen für Auswirkungen haben.
Denjenigen, die gerne etwas zum realen Hintergrund dieser Geschichte erfahren möchten, sei Renate Kleins Sachbuch "Mietmutterschaft. Eine Menschenrechtsverletzung" empfohlen.
Zur Autorin: Sofi Oksanen (geb. 1977) Tochter einer estnischen Mutter und eines finnischen Vaters, studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. Ihr dritter Roman "Fegefeuer" war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und wurde mit zahlreichen Preisen ausgezeichnet, u. a. dem Finlandia-Preis, dem Literaturpreis des Nordischen Rates und dem Prix Femina. Der Roman erschien in über vierzig Ländern und machte die Autorin auch in Deutschland zu einer der wichtigsten Vertreterinnen der internationalen Gegenwartsliteratur. 2010 wurde sie mit dem von der EU verliehenen Europäischen Buchpreis und im Mai 2023 mit dem Usedomer Literaturpreis ausgezeichnet. Sofi Oksanen lebt in Helsinki.
Weitere Informationen zu Sofi Oksanen: www.sofioksanen.com
Zur Übersetzerin: Angela Plöger, geboren 1942, hat in Berlin, Budapest, Helsinki und Hamburg Finno-Ugristik und Slawistik studiert. Sie lebt als freiberufliche Übersetzerin vor allem finnischer Literatur und Dramatik in Hamburg. 2014 erhielt sie den Finnischen Staatspreis für ausländische Übersetzer und 2016 wurde sie für ihre herausragende Übersetzungsarbeit mit dem "Ritterkreuz des Ordens des Löwen von Finnland" ausgezeichnet.
Sofi Oksanen
Hundepark. Roman
Originaltitel: Koirapuisto
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
ISBN 978-3-462-00011-5
Kiepenheuer & Witsch, erschienen 2022
474 Seiten, Hardcover mit Umschlag
Euro 23,00
Mehr zum Buch unter: www.kiwi-verlag.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Sofi Oksanen – Stalins Kühe
"Ich hatte geglaubt, es würde schrecklich, schwierig, schmutzig und schleimig sein (...) Es gab keine Alternative. Es war himmlisch." Ein fulminanter Romanbeginn, der viele Möglichkeiten offen lässt. (2012)