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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 13.09.2012


Sofi Oksanen - Stalins Kühe
Dana Strohscheer

"Ich hatte geglaubt, es würde schrecklich, schwierig, schmutzig und schleimig sein (...) Es gab keine Alternative. Es war himmlisch." Ein fulminanter Romanbeginn, der viele Möglichkeiten offen...




... lässt.

Geht es um eine Geburt oder eine Operation? Nein, es ist der Zustand der absoluten Glückseligkeit, den die Protagonistin Anna immer wieder erleben möchte. Sie erreicht ihn, nachdem sie Unmengen von Essen vertilgt hat und diese dann wieder von sich gibt.

Aus Annas Sicht schildert die finnische Erfolgsautorin Sofi Oksanen, wie schrecklich schön das Verlangen nach dem Rausch sein kann und wie intensiv sich die Protagonistin der Droge und Krankheit "Essstörung" hingibt.

Der kurze Weg vom "Gewichthalten" zur schweren Erkrankung

Angefangen hat bei Anna alles im Schulmädchenalter. Gemeinsam mit einer Freundin begann sie die Kalorien von Lebensmitteln zu zählen. Unterstützt wurden diese Bestrebungen durch ein streng geführtes Regime der Mutter der Freundin, die ihre Tochter regelmäßig der Prozedur "Datum, Größe, Gewicht. Einmal pro Woche" unterzog.

Dieser Wettbewerb setzte sich fort, irgendwann zog die Freundin weg, aber der Kampf um jedes Gramm Körpergewicht blieb. Gleichzeitig kennt sich Anna mit ihrem Stoffwechsel und den Funktionsweisen ihres Körpers genau aus, sie weiß, wie sich verhalten muss, um ihm nicht größeren Schaden zuzufügen – oder zumindest ist sie selbst überzeugt, das Richtige zu tun. Denn ihr "Herr", wie Anna ihre Sucht bezeichnet, wird im Laufe der Jahre immer fordernder. Sie teilt die Lebensmittel in "sichere" (kalorienarme) und "unsichere" ein, nimmt Medikamente und versucht es mit Therapien.

Nach und nach verdrängt die gedankliche Beschäftigung mit dem Essen alles andere aus Annas Leben – Studium, Verdienstmöglichkeiten, persönliche Beziehungen. Nichts hilft gegen ihr Verlangen, einen "vollkommenen Körper" zu besitzen, der nur ihr gehört und der sie vor der Umwelt schützt.

Das große Schweigen hinter der Sucht

Mit ihrer unbedingten Selbstkontrolle will die Protagonistin den Makel ihrer Herkunft entkräften, der als unausgesprochenes Tabu in der Familiengeschichte existiert. Ihre Mutter Katariina ist Estin und heiratete in den 1970er Jahren einen Finnen, Annas Vater. Die Mutter, selbst Ingenieurin, ging aus Liebe zum Mann und aus Patriotismus gegenüber dem sowjetisch besetzten Estland fort. Doch die Wirklichkeit im "Paradies" stellt sich als trügerisch heraus: Von den Finnen wird sie als "Russenhure" bezeichnet, die sich einen einheimischen Mann "geangelt" hat, um auf dessen Kosten zu leben.

All diese Erfahrungen führen dazu, dass Katariina ihrer einzigen Tochter einschärft, nie über ihre estnische Vergangenheit zu sprechen: "Mutter hat mit mir kein einziges Wort estnisch gesprochen, nicht einmal aus Versehen."
Oksanens Erzählton ist eindringlich und kühl, in Rückblenden erzählt sie die Geschichte von Mutter, Tochter und Großmutter zu Zeiten der Sowjetunion und danach.

Rückzug ins Selbst

Trotz bürokratischer Hürden besuchen Katariina und Anna immer wieder die Großmutter in deren estnischen Dorf, allerdings sind diese Aufenthalte immer aufreibend. So müssen die ewig unzufriedenen Verwandten und FreundInnen mit Geschenken bedacht und die GrenzbeamtInnen bestochen werden. Darüber hinaus ist der sowjetische Geheimdienst immer darauf bedacht, Angst und Schrecken zu verbreiten. Später erfährt sie, dass ihr Vater (der weiterhin als Ingenieur in Russland arbeitet), sich mit Mädchen vergnügt, die für eine Nylonstrumpfhose ihren Körper hergeben. Beschämt schildert Anna, wie ihr Vater mit ihr einkaufen geht und sie als Tochter Unterwäsche anprobieren soll – da sie ungefähr die gleiche Konfektionsgröße hat wie seine russische Geliebte.

All diese verstörenden Erlebnisse führen zu Annas Rückzug in den eigenen Körper: "So mächtig ist mein Herr und Schöpfer, und so genehm bin ich meinem Herrn, in dessen starker Umarmung mein Frauenfleisch erblüht (…) Beauty hurts, baby."

AVIVA-Tipp: Die LeserInnen erfahren viel über die Krankheit / Sucht "Essstörung" – der Begriff wirkt geradezu verharmlosend. Durch die drastischen Schilderungen gewinnt die Erzählung noch an Stärke. Nach der Lektüre sieht mensch möglicherweise auch das Coverbild des Buches mit anderen Augen.

Zur Autorin: Sofi Oksanen geboren 1977 im finnischen Jyväskylä, hat eine estnische Mutter und einen finnischen Vater. Sie studierte Dramaturgie an der Theaterakademie von Helsinki. 2003 veröffentlichte sie ihren ersten Roman "Stalins Kühe", der ihr eine Nominierung für den prestigeträchtigen finnischen Literaturprize "Runeberg Award" einbrachte und nun in deutscher Übersetzung vorliegt. 2005 folgte "Baby Jane". Ihr dritter Roman, "Fegefeuer" (2008) war monatelang Nummer eins der finnischen Bestsellerliste und erschien in über 40 Ländern. 2008 erhielt Oksanen den "Finlandia-Preis sowie 2010 den "Literaturpreis des Nordischen Rates". Oksanen ist die bisher jüngste Autorin, der dieser Preis verliehen wurde. Ebenfalls 2010 wurde sie mit dem "Femina Prize" ausgezeichnet. Die Autorin ist verheiratet und lebt in Helsinki. (Quelle: Verlagsinformationen)

Weitere Informationen finden Sie unter:

www.sofioksanen.com

Sofi Oksanen
Stalins Kühe

Originaltitel: Stalinin Lehmät / Stalin´s Cows
Aus dem Finnischen von Angela Plöger
Kiepenheuer und Witsch, erschienen August 2012
Gebunden, 496 Seiten
ISBN 13: 978-3-462-04374-7
22,99 Euro
www.kiwi-verlag.de

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Beitrag vom 13.09.2012

AVIVA-Redaktion