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Beitrag vom 15.04.2020
Maya Lasker-Wallfisch – Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen
Doris Hermanns
Die Tochter von Anita Lasker-Wallfisch, einer der letzten Überlebenden des Frauenorchesters in Auschwitz, erzählt in diesem Buch sowohl die Lebensgeschichten ihrer Mutter und ihrer beiden Tanten als auch ihre eigene und macht dabei deutlich, welche Auswirkungen der Holocaust auf diejenigen gehabt hat, deren Eltern ihn überlebt haben.
Maya Lasker-Wallfisch, geboren 1958 in London, wuchs in einer Atmosphäre von Verwirrung und Unsicherheit auf, und mit dem Gefühl auf, anders zu sein, jedoch ohne den Grund dafür zu verstehen. Deutlich war ihr nur, dass sie die beiden Sprachen, die bei ihr Zuhause gesprochen wurden, nicht verstand: weder Deutsch, noch Musik; zu beidem hatte sie keine Verbindung. Ihre Eltern waren BerufsmusikerInnen, ihre Mutter Cellistin, ihr Vater Pianist und auch ihr Bruder spielte Cello. Bei den regelmäßigen Gesprächen ihrer Familie, in denen es im Wesentlichen um Musik ging, konnte sie sich nicht einbringen, da sie nichts davon verstand. Aber auch in der Schule wurde es nicht besser, dort wurde sie als das einzige jüdische weiße Mädchen gemobbt. Sie fühlte in ihrer Kindheit eine große innere Leere und hatte das Gefühl, dass ihr aufgrund des Minimalismus ihrer Mutter außer der "Grundversorgung" praktisch alles vorenthalten wurde. Erst später lernte sie, dass es in Ordnung ist, sich schöne Dinge zu wünschen.
Wie in vielen Familien von Holocaust-Überlebenden wollten auch ihre Eltern, dass die Kinder in einer "normalen Atmosphäre" aufwachsen sollten, versuchten, ihnen Albträume ersparen, und sprachen auch nicht über die Großeltern. In der Familie spielte Religion keine große Rolle, ihre Eltern lehnten jede Form von organisierter Religion ab.
Ausführlich beschreibt Maya Lasker-Wallfisch in ihrem Buch ihr weiteres Leben, ihre Ausbildung als Kinderkrankenschwester, ihre wachsende Begeisterung für Rockmusik, das Leben im London der 1970er Jahre, aber auch schonungslos ihr Abgleiten in die Drogensucht. Ihr Leben empfand sie als ein einziges Chaos. Auch wenn sie zeitweilig so gut wie keinen Kontakt mehr zu ihren Eltern hatte, erhielt sie dennoch Unterstützung von ihrer Mutter, die ihr half, als sie sich am Tiefpunkt ihres Lebens sah, aber sie stellte auch die klare Forderung, einen Entzug zu machen.
Später arbeitete Maya Lasker-Wallfisch erst längere Zeit mit Drogenabhängigen, denen sie half von ihrer Sucht wegzukommen, bis sie schließlich eine Ausbildung als psychoanalytische Psychotherapeutin machte. Was Menschen veranlasst, so zu handeln, wie sie es tun, und welchen Einfluss die Vergangenheit auf ihre Gegenwart hat, hatte sie schon immer interessiert.
Durch ihren zweiten Ehemann, Sohn eines bekannten Rabbiners, kam sie nun näher mit jüdischem Leben in Berührung: So lernte sie erst jetzt die jüdischen Rituale kennen, und sie ging gerne in die Synagoge – was alles neu für sie war und was ihr zunehmend wichtiger wurde.
Erst als ihre Mutter Anita Lasker-Wallfisch ihre eigene Lebensgeschichte aufschrieb (1997 in Deutschland unter dem Titel Ihr sollt die Wahrheit erben veröffentlicht), sollten sie deren Hintergrund verstehen lernen: Mit zwei älteren Schwestern war sie in einem bürgerlichen jüdischen Elternhaus in Breslau aufgewachsen und 1943 ins KZ nach Auschwitz deportiert worden. Als Cellistin im Frauenorchester von Auschwitz konnte sie ihr eigenes Leben und das ihrer Schwester retten. Das Orchester wurde von der SS gezwungen, jeden Morgen und jeden Abend für die tausenden von KZ-Insassen am Lagertor zu spielen, die außerhalb des Lagers zur Zwangsarbeit gezwungen wurden. Aber auch für Deportierte, die sofort ermordet wurden, mussten sie spielen, bei einigen Gelegenheiten auch für die Mitglieder der SS.
Erst als sie von der Geschichte ihrer Mutter erfuhr, konnte sie anfangen zu verstehen, was in ihrer Familie anders war und was es mit dem Schweigen auf sich hatte.
Maya Lasker-Wallfisch sollte großen Respekt dafür entwickeln, dass ihre Mutter, die im Bezug auf persönliches Eigentum Minimalistin war, durch einfache simple, binäre Prinzipien ein hohes Maß an Selbstdisziplin entwickelt hatte. Sie selber war aber von deren Anforderungen oft einfach nur überfordert, was auch zu Schuldgefühlen führte. Denn natürlich schienen ihre eigenen Probleme trivial im Vergleich zu dem, was ihre Mutter durchgestanden hatte.
Das Schweigen wurde nicht nur durch ihre Mutter und deren Lebensbericht gebrochen, sondern auch dadurch, dass vor allem in Israel, langsam aber auch in Europa, mehr über Traumata geforscht und erkannt wurde, wie sich diese auf die Zweite Generation auswirken. Ausführlich geht Maya Lasker-Wallfisch dann auch auf Epigenetik und transgenerationale Traumata ein, die endlich ein Thema wurden. Denn, wie sie zu Recht feststellt, wurde der Holocaust nicht mit der Befreiung der Konzentrationslager beendet, sondern lebt in allen weiter, die von ihm betroffen waren.
Ursprünglich war dieses Buch als Sammlung fiktiver Briefe der Autorin an ihre Großeltern geplant, denen sie erzählen wollte, was nach ihrer Deportation aus den Töchtern geworden war. Diese berührenden Erzählungen hat sie nun um ihre eigene Lebensgeschichte erweitert, um die drei Generationen der Familie Lasker zu verbinden. So berichtet die Autorin zwischen diesen Briefen von ihrem eigenen Leben und wie sich ihr Verhältnis zu ihrer Mutter entwickelt hat. Nach der Veröffentlichung von deren Lebensbericht hat sie diese häufig auf Reisen und zu Veranstaltungen begleitet. Die Familie scheint enger zusammengewachsen zu sein, was sich auch im vorigen Jahr bei einer gemeinsamen Veranstaltung mit Text und Musik im Berliner Jüdischen Museum am 27. Januar 2019 zeigte. Dort hätte jetzt auch die Präsentation dieses Buches stattfinden sollen, die aber leider aufgrund der derzeitigen Coronakrise abgesagt werden musste.
Auf ausdrücklichen Wunsch der Autorin erscheint das Buch, das sie zusammen mit dem Historiker Taylor Downing verfasst hat, jetzt zuerst in der Übersetzung von Marieke Heimburger in Deutschland.
AVIVA-Tipp: Ein wichtiges Buch, das auf eindringliche Weise deutlich macht, wie sich der Holocaust nicht nur auf die Überlebenden, sondern auch auf die Zweite Generation ausgewirkt hat, auf die Kinder der Überlebenden, die nichts über die Familiengeschichte wussten, da ihre Eltern sie vor dem Wissen um das Grauen der Shoah schützen wollten und daher lange Zeit geschwiegen haben. Erst die Beschäftigung mit diesen Traumata lieferte der Autorin den nötigen Kontext, der für sie zu einer Sprache führte, die sie verstand – und in der sie uns mit ihrem Buch diese Situation näher bringt.
Zur Autorin: Maya Lasker-Wallfisch , geboren 1958 in London, arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren als psychoanalytische Psychotherapeutin. Ihr Schwerpunkt liegt auf der Behandlung von transgenerationalen Traumata. Sie ist die Tochter von Anita Lasker-Wallfisch, gemeinsam kämpfen sie für eine lebendige Erinnerungskultur und gegen Antisemitismus.
Zur Übersetzerin: Marieke Heimburger, studierte in Düsseldorf Literaturübersetzen für Englisch und Spanisch. Seit 1998 übersetzt sie aus dem Englischen, seit 2010 auch aus dem Dänischen. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt mehrere Förderungen von der Dänischen Kulturbehörde.
Maya Lasker-Wallfisch mit Taylor Downing
Briefe nach Breslau. Meine Geschichte über drei Generationen
Aus dem Englischen von Marieke Heimburger
Suhrkamp Verlag, erschienen als eBook am 4. April 2020, erscheint am 15. Juni 2020 als gedrucktes Buch
Gebunden. 254 Seiten
ISBN 978-3-458-17847-7
eBook: Euro 20,99
Gebundenes Buch: Euro 24,00
Zum Buch: www.suhrkamp.de
Mehr unter:
Ein Porträt von Anita Lasker-Wallfisch auf FemBio www.fembio.org
Der Video-Mitschnitt des Zeitzeuginnengesprächs mit Anita Lasker Wallfisch vom 28. Mai 2018 im Jüdischen Museum Berlin www.jmberlin.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
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Die Chefreporterin des Deutschlandfunks Sabine Adler porträtiert in ihrem Buch die 1927 in Chust geborene israelische Trauma-Therapeutin bei AMCHA, Dr. Giselle Cycowicz und erzählt die Biographie der Psychologin. Deren Lebensgeschichte wird umrahmt von Kurzporträts einiger ihrer fast gleichaltrigen Patienten und Patientinnen, die wie Cycowicz, den vom deutsch-nationalsozialistisch geprägten Rassenhass angefachten millionenfachen Mord am Jüdischen Volk überlebten. (2018)
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