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Beitrag vom 09.04.2008
Neue Erkenntnisse über den Holocaust und das Leben danach
Kristina Tencic
Das Leben in der "zweiten Generation", untersucht von der Autorin Lea Kirstein. Erkenntnisse der Wissenschaftlerin Laura Palosuo an der Uppsala Universität zum Holocaust.
Das Holocaust-Mahnmal in Berlin ist ein Ort der Erinnerung. Es soll dort an die Opfer des Holocaust erinnert werden, welche durch die Nazis umgekommen sind. Doch was ist, wenn man den Holocaust überlebt hat, wenn man immer noch mit dieser Erinnerung lebt und sie nicht als etwas abgeschlossenes gelten kann? Wenn es nicht etwas ist, das man in eine Schublade gelegt hat und rausholt, wenn ein/e InterviewerIn kommt und Fragen stellt, sondern wenn dieses Etwas die Gegenwart bestimmt? Und wie ist es, als Kind Überlebender aufzuwachsen, das Erlebte immer unterschwellig präsent zu haben und hierdurch selbst zu einem Teil der Geschichte zu werden?
Die studierte Theologin Lea Kirstein hat den Versuch unternommen, genau dieses Leben in der zweiten Generation zu beschreiben. Sie konstatiert gleich zu Beginn, dass die Gedenkstätten, welche in Deutschland errichtet werden, für ihr Gedenken keine Bedeutung haben, da das Geschehene nicht in die Vergangenheit abgeschoben werden kann, sondern stets gegenwärtig bleibt. Die Erinnerung nimmt neue Formen an, kann die anerzogene Art sein, den Kaffee zuzubereiten oder etwa im Umgang mit Lebensmitteln und Pflanzen, Menschen und Dingen entlarvt werden. Es bleibt die Tatsache, dass das "Danach" nicht Leben nach dem Holocaust ist, sondern der Holocaust das Jetzt ist.
"Die physische und psychische Gewalt, Angst und Erniedrigung, Schmerz und Hunger, wurden nicht durchlebt und hinterließen Spuren, sie sind Teil aller Erinnerungen und Teil jeder Gegenwart."
Dieses Jetzt ist geprägt vom Anderssein, das sich aber nicht greifen lässt, den Traditionen, die es nicht gibt und von den Phantasmen, welche die zweite Generation beherrschen. Phantasmen, da zu wenig weitergegeben wurde, Namen verschwiegen werden, Ereignisse unartikuliert bleiben, aber dennoch das Leben bestimmen, also das Schweigen nur immer etwas Bestimmtes verschweigt.
Die Autorin hat ihre "Autobiographischen Reflexionen" unter einem Pseudonym veröffentlicht, was einerseits verständlich ist, da das Buch sehr viel Persönliches preisgibt, aber andererseits wieder nur als Zeugnis dessen angesehen kann, was sie ist: "Die zweite Generation". Sie wurde dazu erzogen, dass man nur in der Unsicherheit und Anonymität sicher sein kann, dass man nicht sagen darf, dass frau Jüdin ist, dass man dieses Anderssein nicht zeigen darf und möglichst "normal" sein muss. Lea Kirstein begibt sich auf eine Identitätssuche, die nicht so sehr davon bestimmt ist, wer sie ist, sondern wie es dazu kommen konnte.
Auch das "Bleiben" und die Lebensrealität in Deutschland wird beschrieben, die durch ein Unzugehörigkeitsgefühl geprägt sind. "Wir sind nicht als Familie geblieben, sondern als Überrest einer gestorbenen Familie. Es gibt kein Generationenerbe und keine generationalen Verpflichtungen" Somit gibt es auch niemanden, der auf die Familienmitglieder hätte stolz sein können.
Sehr wichtig ist ihre Beschreibung des wissenschaftlichen Umgangs mit den Überlebenden. Die ZeitzeugInneninterviews werden dazu genutzt, die geschichtlichen Daten mit individuellen Aspekten auszufüllen, "repräsentativ" zu sein und einzelne Phänomene zu belegen. Es wird nicht darüber nachgedacht, dass das sogenannte Trauma "Teil jeder In-Beziehung-Setzung, jeder Gestaltung von Leben in der Gegenwart" ist, dass "jedes Handeln von der Verfolgungs- und Gewalterfahrung bestimmt" ist. Die wissenschaftlich geforderte Neutralität kann also nicht erfüllt werden, was meist dazu führt, dass nur Arbeiten von Außenstehenden als beachtenswerte Texte gelten.
Es ist etwas schwer, den Einstieg in das Buch zu finden, da der/die LeserIn ohne eine Einleitung mit der die Autobiografie konfrontiert wird. Hat man sich jedoch nach ein paar Seiten in dem, nicht chronologisch, sondern thematisch angeordneten Werk eingefunden, so ist jede Seite des Lesens Wert, da die Verfasserin einen hervorragenden Erzählstil hat.
AVIVA-Tipp: Die unter einem Pseudonym schreibende Lea Kirstein versteht sich auf die Artikulation des Unausgesprochenen, des Schattenhaften ihres Daseins. Es sind, wie die Autorin schon im Titel benennt, Reflexionen, sehr gut erfasste und in anspruchsvolle Prosa gefasste Reflexionen, die nicht nur einen persönlichen sondern auch einen wissenschaftlich-philosophischen Anspruch erfüllen. Sie wirft sehr viele Fragen auf, die sie aber auch stets zu beantworten weiß. Somit ist diese Lektüre Pflicht für alle, die sich mit den Überlebenden, der Generation "danach" und ihrer Lebensrealität in Deutschland auseinandersetzen möchten.
Zur Autorin: Lea Kirstein (Pseudonym) wurde in den Sechziger Jahren in Deutschland geboren. Sie studierte, entgegen der Vorstellung ihres Vaters, Ärztin zu werden (da diese im Konzentrationslager leichter überlebt haben), Theologie. Beruflich beschäftigt sie sich als Autorin mit dem Nationalsozialismus und den Überlebenden.
Wie Lea Kirstein schon beschrieben hat, ist es der Wissenschaft bisher wenig erfolgreich gelungen, den ZeitzeugInnen adäquat zu begegnen und einen für beide Seiten befriedigenden Zugang zu deren Erlebtem zu erlangen. Immer wieder stehen die ForscherInnen vor dem Problem, dass das Gesagte nicht richtig eingeordnet werden kann. Nacherzählte, persönliche Erlebnisse haben meist wenige chronologische Eckpunkte, sind undifferenziert und bewegen sich nicht in den vorgegebenen Fakten der Geschichtsbücher. Dieser Ratlosigkeit im Umgang mit den Berichten der Überlebenden kann wissenschaftlich nur entgegnet werden, indem die Wissenschaft selbst diese Differenzierung unternimmt.
Neue Erkenntnisse in der Holcaust-Forschung
So geschehen bei der schwedischen Forscherin Laura Palosuo der Uppsala Universität, die sich in ihrer Dissertation mit ZeitzeugInnenberichten von Holocaust-Überlebenden aus Ungarn auseinandergesetzt hat. Ihr Forschungsziel war, die unterschiedlichen Wahrnehmungen und Erfahrungen des Holocaust aufzuzeigen und sie in Beziehung zu sozialen Unterschieden zu setzen.
In narrativen Interviews legten die befragten Personen Zeugnis ab über die diskriminierenden Maßnahmen, die ihnen widerfahren sind. Darüber hinaus sollten sie ihre inneren und äußeren Reaktionen beschreiben. Es stellte sich heraus, dass sowohl die Wahrnehmung als auch die Reaktionen stark unterschiedlich waren und nur auf Unterschiede in sozialem Status, Alter, Geschlecht und Aufenthaltsort zurückgeführt werden konnten.
Der Zeitraum der Untersuchungen wurde auf die Jahre 1920 bis 1945 gelegt, also von der ersten gesetzlichen antisemitischen Diskriminierung bis zum Ende des zweiten Weltkrieges. Der Hauptaspekt ist jedoch die Zeit der deutschen Besatzung ab 1944. Von da an führten die Nazi-Deutschen auch Deportationen durch, welchen 800.000 Juden und Jüdinnen, also über die Hälfte der jüdischen Bevölkerung Ungarns, zum Opfer fielen.
Ein Beispiel der Unterschiede ist die sogenannte "Hosen-Inspektion" bei der jüdische Männern auf der Straße entblößt wurden, um feststellen zu können, ob sie beschnitten sind. Jüdische Frauen konnten, wenn sie nicht den Davidstern trugen, nicht so leicht identifiziert werden, was ihnen einen Vorteil in ihrer Bewegungsfreiheit brachte.
Die Nachforschungen machen deutlich, dass bei der Befragung von ZeugInnen zu traumatischen Erlebnissen immer auch ihre individuellen Hintergründe beachtet werden müssen. Dies führt dazu, dass ZeitzeugInnenberichte hinterfragt und unter Heranziehung diesen Kriterien betrachtet werden müssen.
Lea Kirstein hätte den ForscherInnen ihre Arbeit wohl ersparen können, da für sie diese Individualität in den Erzählungen nicht wegzudenken ist. Aber die Wissenschaft hat nun mal ihren eigenen Zugang, und somit auch ihre eigene Arbeitsweise. Das Ergebnis bleibt dasselbe, nämlich, dass die Wissenschaft ihre Fakten mit den Zeugnissen untermauern möchte und vielmehr kategorisiert, statt zu verstehen.
Weitere Informationen finden Sie auf den Internetseiten der Uppsala Universität.
Die zweite Generation. Autobiographische Reflexionen
Lea Kirstein
Wilhelm Flink Verlag, erschienen 2006
Kartoniert, 161 Seiten
ISBN: 978-3-7705-4359-5
19.90 Euro