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Beitrag vom 12.10.2020
Peggy Mädler – Wohin wir gehen
Silvy Pommerenke
Zwei Generationen von Frauen hat Peggy Mädler in ihrem Roman in den Fokus gestellt. Dabei beleuchtet sie die Themen Freundschaft und Abschied, und bettet diese Szenarien vor allem in die frühe DDR-Geschichte ein.
Zugegeben, der Roman ist schon vor einiger Zeit, im Februar 2019, veröffentlicht worden. Warum sollte er dennoch gelesen werden? Zum einen, weil Peggy Mädler dafür – zu Recht – 2019 im Jahr des Erscheinens mit dem Fontane-Literaturpreis ausgezeichnet und 2020 für den Europäischen Literaturpreis nominiert wurde, zum anderen, weil sie es schafft, auf gerade mal etwas über zweihundert Seiten in einer formvollendeten, poetischen Sprache einen Zeitbogen von knapp 100 Jahren zu spannen und politische und gesellschaftliche Zeitströme mit den persönlichen Zeitläufen von vier Frauen aus zwei Generationen aus Ost und West zu spannen. Das ist sehr mutig und ambitioniert und löste dennoch nicht überall Begeisterung aus. Frauke Meyer-Gosau, u.a. Redakteurin der Süddeutschen Zeitung, kritisierte einen "biederen" Schreibstil und fand den Roman nicht überzeugend. Dahingegen waren Oliver Jungen von der Frankfurter Rundschau und Helmut Böttiger von Deutschlandfunk Kultur restlos begeistert von dem zweiten Roman der Dresdener Autorin.
Die Geschichte, die Peggy Mädler erzählt, handelt von Almut und ihrer besten Freundin Ida. Sie geraten als junge Mädchen in die Endkriegswirren des Zweiten Weltkriegs und die Aufbruchszeit in der DDR. Während die eine Republikflucht betreibt, bleibt die andere im sozialistischen Staat. Die räumliche Trennung und die unterschiedlichen politischen Systeme tun ihrer Freundschaft aber keinen Abbruch, und sie finden Mittel und Wege, sich dennoch zu treffen und ihre Verbundenheit zueinander aufrechtzuerhalten. Zum anderen geht es um Elli (die Tochter von Almut) und deren beste Freundin Kristine. Auch sie trennen zwischenzeitlich Landesgrenzen, aber auch sie bleiben sich ein Leben lang verbunden.
Peggy Mädler verwendet eine lakonische und dennoch poetische Sprache und zaubert Sätze wie: "Den Druck (auf die Parkbank) noch ein wenig verstärken, weil die Begrenzung gegen die Entgrenzung des Körpers hilft" oder "während die Beine das Tempo zu drosseln versuchen, stürzen die Worte nur so dahin, überlagern sich, verbinden sich, vermischen sich mit einem hellen Mädchenlachen".
Zwischen der asynchronen Erzählung der Geschichte(n) werden Ortsbeschreibungen eingefügt, die die Besonderheit von Flora und Fauna wiedergeben, oder aber, im Falle von Städten oder Wohnungen, die Architektur und Inneneinrichtung darstellen. Diese Zwischenpassagen haben etwas von einem Reiseführer, wodurch unmittelbar Bezug zum Titel genommen wird. "Wohin wir gehen" ist letztendlich eine Reisebeschreibung des Lebens, dessen Wege häufig vom Zufall und von ergriffenen - oder auch verpassten - Chancen bestimmt werden.
Vordergründig ist es also eine Geschichte über Freundschaft und Verbundenheit, hintergründig geht es aber um viel mehr. Peggy Mädler widmet sich der deutsch-böhmischen bzw. deutsch-tschechischen Landesgeschichte und die Verstrickungen, die nach 1945 damit verbunden sind: "Als Kind eines tschechischen Vaters darf Almut das Land nicht verlassen, als Kind einer deutschen Mutter darf sie laut einem anderen Schreiben nicht bleiben. Als noch minderjähriges Kind verstorbener Eltern gehört sie ins Waisenhaus." Nicht zuletzt ist es eine Geschichte über die Nachkriegs- und Aufbruchszeit im Osten Deutschlands.
Obwohl die Lebensläufe der Protagonistinnen ganz unterschiedlich verlaufen, so gleichen sie sich doch in entscheidenden Punkten: wohin wir gehen hängt nicht nur von äußeren Gegebenheiten ab, sondern vor allem von unserer individuellen Entscheidung.
AVIVA-Tipp: Auch 1 ½ Jahre nach Erscheinen des Buches hat "Wohin wir gehen" nichts an Aktualität eingebüßt. Die persönlichen Lebensgeschichten der vier Frauen sind eingebettet in und bestimmt von politischen Systemen und dem historischen Zeitgeschehen. Unabhängig davon bleibt das, was zählt: Verbundenheit und Freundschaft.
Zur Autorin: Peggy Mädler: 1976 in Dresden geboren, hat in Berlin Theater-, Erziehungs- und Kulturwissenschaft studiert und 2008 in den Kulturwissenschaften auch promoviert. 2007 gründete sie zusammen mit Julia Schleipfer die Künstler*innenformation "Labor für kontrafaktisches Denken". Von 2007 bis 2009 gehörte sie dem Gründungsvorstand des LAFT Berlin an, und sie wirkte beim Theaterkollektiv She She Pop mit. Mädler erhielt verschiedene Stipendien, u. a. von der Heinrich-Böll-Stiftung, dem Künstler*innendorf Schöppingen, der Akademie der Künste (ein Alfred-Döblin-Stipendium) und dem Berliner Senat. 2011 erschien ihr erster Roman "Legende vom Glück des Menschen". Für "Wohin wir gehen" erhielt sie 2019 den Fontane-Literaturpreis der Fontanestadt Neuruppin und des Landes Brandenburg. Außerdem wurde sie 2020 für den Europäischen Literaturpreis nominiert. Der Preis wird seit 2009 ausgeschrieben und von der Europäischen Kommission finanziert, mit dem Ziel, besonders ausgezeichnete Werke europäischer Autor*innen auch über nationale Grenzen hinweg bekannt zu machen. Als Dozentin lehrt sie u. a. an der Universität Hildesheim, am Bard College Berlin, an der Hochschule für Musik Berlin und an der Hochschule für Schauspielkunst "Ernst Busch".
Peggy Mädler
Wohin wir gehen
Galiani-Verlag, Erscheinungstermin 02/2019
Gebunden, 224 Seiten
ISBN 978-3869711867
Euro 20,00
Mehr zum Buch unter: www.kiwi-verlag.de
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