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Beitrag vom 02.11.2019
Helga Bürster – Luzies Erbe
Silvy Pommerenke
Die 100jährige Matriarchin Luzie Mazur stirbt und hinterlässt eine "aus den Fugen geratene Zeit" - jedenfalls für ihre unmittelbaren Angehörigen. Allen voran ihre Enkelin, die Mittfünfzigerin Johanne (die zugleich das Alter Ego von Helga Bürster ist), und deren Tochter Silje. Luzies Erbe ist ein bislang gut gehütetes Geheimnis.
Dieses Geheimnis betrifft Luzies früheren Ehemann, dessen Name auszusprechen in der Familie als Tabu gilt, aber mit Luzies Tod soll es nun endlich gelüftet werden. Eine Lösung könnte der gutbehütete Koffer sein, den Luzie nie aus der Hand gegeben hat und dessen Inhalt niemand außer der Matriarchin kennt. Erst nach dem Tod darf Johanne den Koffer öffnen - so verfügt es Luzie.
In Rückblenden, verwoben mit der Gegenwart, werden sukzessive viele, wenn auch nicht alle, Fragen aufgelöst. Johanne nimmt sich dafür selbst in die Pflicht, als sie bei der Totenwache an Luzies Bett sich und ihrer Tochter verspricht, das Schweigen über ihren Großvater Jurek zu brechen. Johanne bittet den Bestatter, Luzie noch zwei Tage zu Hause zu lassen. Zwei Tage, in denen sich alle von Luzie noch einmal verabschieden können, und in denen sie im stummen Zwiegespräch endlich die ganzen unausgesprochenen Konflikte auf den Tisch legen können. Dies führt schließlich dazu, dass Johanne ihren Großvater in Polen aufsucht, um Licht ins Dunkel zu bringen. Das Ergebnis des Besuchs ist allerdings mehr als enttäuschend, da der greise Jurek an Demenz leidet und er die Fragen Johannes entweder gar nicht oder nur wirr beantwortet. Trotzdem deckt Johanne Stück für Stück die Vergangenheit auf, auch dank des Koffers, und findet heraus, warum Jurek kurz nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs Deutschland verlassen und warum er seine große Liebe Luzie und die gemeinsamen Kinder vermeintlich im Stich gelassen hat.
Helga Bürster erzählt in ihrer Familiengeschichte von den Auswirkungen des Krieges und der Naziherrschaft auf die Menschen jenseits der Front. In Dötlingen, einem kleinen Dorf bei Bremen, geht es für die Anwohner*innen oftmals ums nackte Überleben, auch, weil es 1936 zum "Reichsmusterdorf" ernannt wird. Konspirationen mit den Kriegsgefangenen, die auf den Höfen Zwangsarbeit leisten müssen, stehen unter Todesstrafe, die auch leidenschaftslos durch Erschießen oder Hängen von den NS-Schergen durchgeführt wird. Doch trotz der scharfen Reglementierung ergeben sich immer wieder heimliche Kontakte zwischen Deutschen und Pol*innen. Unter anderem der zwischen Luzie und Jurek. Sie haben sich in den ´falschen´ Menschen verliebt, weil es sich nach Kriegsrhetorik um einen Feind bzw. eine Feindin handelt. Selbst nach Ende des Krieges ist diese unheilige Liaison unerwünscht, und die Dorfbewohner*innen strafen das mittlerweile verheiratete Paar mit Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft.
Helga Bürster, die normalerweise Krimis schreibt, hat den Romanstoff über ihre Großeltern schon lange mit sich herumgetragen, bevor sie ihn nun endlich zu Papier gebracht hat. Ihre Recherchen gestalteten sich schwierig, da die Dorfbewohner*innen sich bis heute über die Vergangenheit in Schweigen hüllen. So hat Bürster ihre Phantasie spielen lassen und formuliert, wie es hätte gewesen sein können. Als Schreibort hat sie einen Wohnwagen gewählt, der abgeschieden mitten in der Natur stand und wo sie sich ungestört ihrer Vergangenheit stellen konnte. Drei Jahre hat sie dafür benötigt, und als sie schließlich von Suhrkamp / Insel Verlag die Zusage für die Publikation erhielt, so war das für sie wie "der Sechser im Lotto". Sie bekommt heute noch eine Gänsehaut, wenn sie sich daran zurückerinnert.
AVIVA-Tipp: Helga Bürster hat mit "Luzies Erbe" einen Familienroman geschrieben, der angelehnt an die schwierige Liebe ihre Großeltern während der Nazi-Zeit ist. Gleichwohl es sich hier um ein Einzelschicksal handelt, ist es übertragbar auf die unzähligen Menschen, denen ähnliches widerfahren ist. Mit sprödem nordischem Charme und eingestreuten plattdeutschen Dialogen erzählt sie von vier Frauen unterschiedlicher Generationen, die bis in die Gegenwart mit den Folgen des und dem Schweigen über den Zweiten Weltkrieg zu kämpfen haben.
Zur Autorin: Helga Bürster wurde 1961 geboren und wuchs in Dötlingen auf, dem Dorf bei Bremen, das auch in ihrem Roman "Luzies Erbe" den Schauplatz darstellt, und in dem sie auch heute wieder lebt. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, arbeitete sie als Rundfunk- und Fernsehredakteurin bis sie 1996 freiberufliche Autorin wurde. Neben Kriminalromanen (u.a. "Der letzte Weihnachtsmann", "Flintenweiber" oder "Insel, Wind und Tod") schreibt sie auch historische Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Reiseliteratur.
Helga Bürster im Netz: www.helga-buerster.de und auf Facebook
Helga Bürster – Luzies Erbe
Suhrkamp / Insel Verlag, Erscheinungstermin 09/2019
Gebunden, 288 Seiten
ISBN 978-3-458-17814-9
Euro 22,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
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