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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 13.08.2020


Sigrid Undset – Viga-Ljot und Vigdis
Doris Hermanns

Für ihr Hauptwerk, den dreibändigen Roman "Kristin Lavranstochter" erhielt Sigrid Undset 1928 den Nobelpreis für Literatur, "vornehmlich für ihre kraftvollen Schilderungen des nordischen Lebens im Mittelalter". Diese machen auch den von Gabriele Haefs neu übersetzten früheren Roman Viga-Ljot und Vigdis aus, der sich mit den Folgen einer Vergewaltigung beschäftigt.




116 mal wurde der Nobelpreis für Literatur bis heute vergeben, davon nur 15 mal an eine Autorin. Nach Selma Lagerlöf (1909) und Grazia Deledda (1926) war Sigrid Undset 1928 die dritte Frau, die ausgezeichnet wurde. Vor zwei Jahren konnte der Preis aufgrund der Aufdeckung sexueller Übergriffe nicht vergeben werden – der Roman von Sigrid Undset aus dem Jahr 1909 passt thematisch dazu.

In historischen Romanen ging es lange Zeit meist um Helden wie Könige, Ritter und Heilige. Erst die Frauenforschung hat damit begonnen, sich grundlegend mit der Geschichte von Frauen zu beschäftigen. Durch diesen Erkenntnisgewinn wurde es in den letzten Jahrzehnten möglich, mehr Frauenfiguren in der Literatur einzuführen. Ungewöhnlich für ihre Zeit stellt Sigrid Undset in diesem Roman die Bauerstochter Vigdis in den Mittelpunkt des Geschehens. Diese lernt den Isländer Ljot kennen, der in Norwegen Bauholz kaufen will. Schnell kommen sich die beiden näher und Ljot möchte sich mit ihr verloben. Vigdis ist nicht abgeneigt, findet sich aber zu jung, um bereits an eine Ehe zu denken. "Lass mir doch die Frist, um die ich dich bitte; ich möchte ja eigentlich, dass du mich nicht umsonst gefragt hast. Aber ich habe das Gefühl, dich erst wenig zu kennen, und du würdest mich weit weg von allem führen, was mir gehört."

Aber Ljot, alles andere als ein einfühlsamer Mann, ist eifersüchtig auf einen Kinderfreund von Vigdis und macht sich schnell mit seinem Verhalten bei Vigdis und allen anderen unbeliebt. Als sie sich aus diesem Grund gegen ihn entscheidet, vergewaltigt er sie. Selbst danach meint er noch, es wäre besser, wenn sie mit ihm weggehen würde, denn es sei schlimmer, wenn sie nicht zusammenkommen könnten. Dass er gegen ihren Willen "vorgegangen" sei, sagt er zwar, aber das scheint ihm nichts weiter auszumachen.

Vigdis wird dabei keineswegs als schwach beschrieben, sondern macht ihm klar, dass ihr Wille genauso hart ist wie seiner. Sie wirft einen Stein nach ihm und fordert ihn auf zu gehen. Die nachfolgende Schwangerschaft weiß sie auf dem Hof zu verbergen, ihr Kind setzt sie aus.
Als Æsa, ihre Pflegemutter, später erfährt, dass Vigdis diese Entscheidung bereut, auf Rache sinnt und sich wünscht, dass der Sohn zum Verhängnis seines Vaters werden solle, erzählt Æsa ihr, dass sie das Kind gerettet habe.

Der Roman ist die Geschichte der Rache, die Vigdis nehmen möchte. Vieles geschieht dabei anders, als sie es sich gedacht und erhofft hat, was auch zu Schwierigkeiten mit ihrem Sohn Ulvar führt. Aber immer wieder zeigt sie Stärke und trifft ihre eigenen Entscheidungen.

Ljot hingegen hält an dem fest, was er wollte. Zwar heiratet er eine andere Frau, mit der er drei Kinder hat, aber nachdem diese alle vier gestorben sind und er zufällig Ulvar kennengelernt, macht er sich auf den Weg zu Vigdis. Der Sohn würde sich eine Versöhnung seiner Eltern wünschen, die aber für Vigdis völlig undenkbar ist, was sie in einer langen beeindruckenden Rede deutlich macht, die den Höhepunkt des Romans darstellt. Sie beginnt mit "Was weißt du, Ljot, darüber, wie groß mein Zorn gewesen ist – oder du, mein Sohn, wie sehr ich mich nach Rache gesehnt habe – ich habe noch nie gehört, dass ein Mann je von einer Frau mit Gewalt genommen worden ist" und damit endet, dass sie ihm vorwirft: "Schlecht belohnst du die, die dich geliebt haben – und der dümmste und schlechteste aller Männer bist du jedenfalls, Ljot." Trotzdem versinkt Ljot in Selbstmitleid, versteht nicht, was er ihr angetan hat, und hält gar den Kummer über seine verschmähte "Liebe" für genauso groß wie ihren.

Der isländisch-deutsche Übersetzer und Schriftsteller Kristof Magnusson, der in seinem Vorwort darauf verweist, welche Bedeutung dieser Roman in der Literaturgeschichte hatte, schreibt, das Buch wurde "in seiner Sprache stark von der Literatur der Zeit inspiriert, in der es spielt: Von den mittelalterlichen Isländersagas". Er meint, Undset habe damit eine eigene Isländersaga geschrieben, "bei der nicht nur Motive, Erzählweise und Dramaturgie der Welt der Sagas entnommen sind, sondern auch der knappe, kraftvolle Erzählton."

AVIVA-Tipp: Eine alte Geschichte, allerdings mit einem Thema, das bis heute leider sehr aktuell ist. Ein guter Einstieg in das Werk von Sigrid Undset und, sehr gut lesbar in dieser Ãœbersetzung.

Zur Autorin: Sigrid Undset wurde 1882 in Kalundborg, Dänemark, geboren. Seit ihrer frühen Kindheit lebte sie in Oslo. Bereits im Alter von 25 Jahren veröffentlichte sie ihr Debüt: Fru Marta Oulie. Ihre Werke beschäftigen sich im Wesentlichen mit den Themen der Frauenemanzipation, sowie anderen ethischen und moralischen Fragen, was sie bei einigen unbeliebt machte, vor allem im männlich dominierten Norwegischen Schriftstellerverband, dem sie 1907 beitrat, und dessen Vorsitzende sie von 1936 bis 1940 war. 1928 erhielt Undset den Literaturnobelpreis.
Schon seit Anfang der 1930er Jahre war sie engagierte sie sich gegen den aufkommenden Faschismus. Aufgrund der Besetzung Norwegens floh sie 1940 vor den Deutschen über Schweden in die USA. Ab 1940 standen ihre sämtlichen Schriften auf der "Jahresliste des schädlichen und unerwünschten Schrifttums", d. h. sie durften in Deutschland nicht mehr verkauft werden.
In den USA hielt sie zahlreiche Vorträge und arbeitete mit Eleanor Roosevelt zusammen an einer geheimen Rettung europäischer Juden und Jüdinnen. Durch ihre Bekanntheit als Nobelpreisträgerin konnte sie Schweden dazu bewegen, 700 Reisedokumente für ungarische jüdische Frauen und Kinder auszustellen.
Nach 1945 kehrte sie in ihre Heimat, nach Lillehammer, zurück, wo sie 1949 starb.

Zur Übersetzerin: Gabriele Haefs ist Autorin und Übersetzerin von Kinder- und Spannungsliteratur sowie Belletristik. Bereits 1999 übersetzte sie Sigrid Undsets Debüt Frau Marta Oulie ins Deutsche. Haefs erhielt u. a. den Deutschen Jugendliteraturpreis sowie den Königlichen Norwegischen Verdienstorden.

Sigrid Undset
Viga-Ljot und Vigdis

Aus dem Norwegischen von Gabriele Haefs
Mit einem Vorwort von Kristof Magnusson
Hoffmann und Campe Verlag, erschienen 2019
Gebunden. 190 Seiten
ISBN 978-3-455-00612-4
Euro 24,00
Mehr zum Buch unter: www.hoffmann-und-campe.de

Mehr zu Sigrid Undset

www.norwegianamerican.com

www.haaretz.com

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eng.bjerkebek.no

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