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Beitrag vom 08.12.2019
Literaturnobelpreis 2019 – Würdigung der großartigen Schriftstellerin Olga Tokarczuk und die skandalöse Entscheidung der Schwedischen Akademie. Eine Chronologie
Bärbel Gerdes
Wenn am 10. Dezember 2019 die Feierlichkeiten zur Überreichung gleich zweier Literaturnobelpreise beginnen, werden sie aller Wahrscheinlichkeit nach von starken Protesten begleitet: Die Organisation "Mütter von Srebrenica" ("Majke Srebrenice") wird in Stockholm gegen die Preisvergabe an Peter Handke protestieren.
Es ist gut ein Jahr her, dass der Franzose Jean-Claude Arnault wegen Vergewaltigung zu einer zweijährigen Haftstrafe verurteilt wurde. Das Urteil schien der Schlusspunkt hinter den unglaublichen Vorgängen in der Schwedischen Akademie zu sein, die den Literaturnobelpreis vergibt. Diese war im April 2018 zerfallen, nachdem die Ehefrau Arnaults, die Lyrikerin Katarina Frostenson, aus der Akademie ausgeschlossen worden war, ein beispielloser Vorgang.
Es war bekannt geworden, dass Frostenson ihrem Mann bereits vor der offiziellen Bekanntgabe die Namen der Literaturpreisträger*innen nannte. Zudem unterhielt Arnault einen privaten Kunstclub, in dem Frostenson Teilhaberin war. Dieser wiederum erhielt Zuwendungen aus Mitteln der Schwedischen Akademie, über deren Vergabe Frostenson mutmaßlich mitentschied. Im Zuge dieser Ermittlungen meldeten sich 18 Schriftstellerinnen zu Wort, die im Kunstclub gearbeitet hatten. Sie bezichtigten Arnault sexueller Übergriffe. Er habe seine Nähe zur Schwedischen Akademie betont, um sexuelle Gefälligkeiten zu erpressen. Verurteilt wurde er letztlich wegen der zweifachen Vergewaltigung einer jungen Frau. Außerdem habe er, so berichtet der Tagesspiegel, jahrelang weibliche Mitglieder der Akademie, Mitarbeiterinnen sowie Frauen und Töchter von Akademiemitgliedern sexuell belästigt oder missbraucht.
Die Akademie zerbrach – 2018 wurde kein Literaturnobelpreis vergeben.
Im März 2019 ließ die Schwedische Akademie schließlich verlautbaren, sie sei wieder arbeitsfähig und vertrauenswürdig. Schon zu diesem Zeitpunkt berichtete die Welt, dass es mitnichten eine Erneuerung gegeben habe. Zwar sei Frostenson aus der Akademie ausgeschlossen und mit einem monatlichen Bezug von 1250 € abgefunden worden, zwar gäbe es fünf neue externe Juroren, die - mit einem wesentlich geringeren Gehalt – gemeinsam mit fünf Akademiemitgliedern eine Kandidat*innenliste erstellten. Entscheiden aber würden die ewigen Mitglieder der Akademie, die erfolgreich um ihre Privilegien gekämpft hatten, natürlich vorwiegend Männer – genau die Männer, die Frostenson in Schutz genommen hatten und den Missbrauchsskandal über Jahrzehnte ignorierten.
Diese Akademie verkündete im Oktober 2019 die Verleihung zweier Literaturnobelpreise. Der nachträglich vergebene von 2018 geht an die polnische Schriftstellerin Olga Tokarczuk, der für 2019 an den österreichischen Schriftsteller Peter Handke. Die Entscheidung für Peter Handke stieß auf eine riesige Protestwelle. Handke hatte in Texten und Wortlauten die Kriegsverbrechen der Serben im Balkankrieg bagatellisiert und geleugnet, 2006 hielt er eine Rede auf der Beerdigung Slobodan Milošević´.
Die Entscheidung der Schwedischen Akademie löste in den Feuilletons kontroverse Diskussionen aus: klare Proteste und Abgrenzungen standen der Aufforderung gegenüber, mann solle doch bitte Werk und Autor voneinander trennen – eine Aufforderung, die auch gerne benutzt wird, wenn es um sexualisierte Gewalt geht (siehe Roman Polanski, Dustin Hoffman, Dieter Wedel und viele andere).
Am vergangenen Montag gaben schließlich zwei Akademiemitglieder bekannt, von ihren Posten zurückzutreten. Gun-Brit Sundstöm begründete dies damit, dass durch die Preisvergabe an Handke der Eindruck entstanden sei, Literatur stünde über Politik. "Diese Haltung ist nicht die meine", so Sundström. Ihr Kollege Kristoffer Leandoer verließ die Akademie, weil ihm die angekündigten Veränderungen zu langsam gingen. Ein weiteres langjähriges Mitglied, Peter Englund, kündigte an, nicht an der Nobelpreiswoche teilzunehmen. Von seiner Seite aus wäre es heuchlerisch, Peter Handkes Nobelpreis zu feiern.
Ob die Schwedische Akademie diesen erneuten Skandal überstehen wird, ist ungewiss.
Gewiss ist dagegen, dass die Würdigung der großartigen Schriftstellerin Olga Tokarczuk dabei vollkommen untergeht.
In ihrer Pressekonferenz am 6.12.2019 stellte sie ernüchternd fest, dass sie die 15. Frau sei, die den Literaturnobelpreis erhalte – 110 Jahre nach der ersten Frau, Selma Lagerlöf.
AVIVA-Berlin wird in Kürze einen Beitrag über Olga Tokarczuk veröffentlichen. Die Schriftstellerin, Drehbuchautorin, studierte Psychologin und Literaturnobelpreisträgerin Olga Tokarczuk wurde am 29. Januar 1962 in Sulechów, Polen geboren und lebt in Wroclaw, Polen. Zuletzt von ihr erschienen ist 2019 der Roman "Die Jakobsbücher" im Kampa Verlag.
Mehr Infos:
www.svenskaakademien.se
www.nobelprize.org
www.tokarczuk.wydawnictwoliterackie.pl
www.facebook.com/OlgaTokarczukProfil
www.facebook.com/olga.tokarczuk.english
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