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Beitrag vom 27.04.2022
Sabine Scholl – Die im Schatten, die im Licht
Silvy Pommerenke
In ihrem Roman schildert die Autorin fiktive Lebensschicksale von acht erwachsenen Frauen und einem Mädchen, angelehnt an historische Vorbilder, die während des Nationalsozialismus in Österreich lebten, von dort flüchteten, deportiert und ermordet wurden oder emigrierten. In parallelen Montagen erzählt sie aus Opfer- und Täterinnenperspektive in der damaligen Gesellschaft.
Der Roman beginnt im Jahr 1938, als Österreich von Hitler "eingegliedert" wurde und sich das nationalsozialistische Unheil sich immer stärker in der Gesellschaft breitmachte und sich der Krieg abzeichnete. Er beleuchtet das Kriegsjahr 1941, wendet sich dem Widerstand von 1944 zu und endet im Jahr 1946, in dem die Protagonistinnen wahlweise ihre Verantwortung an ihren Taten leugnen, oder sich schwerlich in ihr neues Leben einfinden, weil sie unter den Traumata von Verfolgung und Deportation leiden.
Sabine Scholl öffnet ein weites Feld: neben Jüdinnen und Juden , die von dem Naziregime drangsaliert, verfolgt und deportiert werden, portraitiert sie ebenso Mitläufer*innen, die den Nationalsozialismus zwar nicht explizit unterstützen, die aber auch nicht aktiv gegen ihn angehen, Widerständler*innen, die ihr Leben gegen das Naziregime einsetzen, und überzeugte Nazianhänger*innen, die den Antisemitismus und die Jüd*innenverfolgung enthusiastisch begrüßen und aktiv an der Ausraubung und Ermordung der Jüdinnen und Juden beteiligt sind.
Während die einen harter körperlicher Arbeit nachgehen, und gerade so von den Löhnen überleben können, schwelgen die anderen in Wohlstand, der vor allem dadurch möglich ist, dass Jüd*innen enteignet wurden, und sie sich dadurch unrechtmäßig bereichert haben: "Wenn die Villenbesitzer einmal abgerauscht waren, sind die Geier ´kommen. Sind einfach ohne Schlüssel hinein. Pelzmäntel, Silbersachen, Porzellan, Schmuck, Goldmünzen. Jeder hat sich bedient. Am nächsten Tag war das ganze offiziell beschlagnahmt. Und wer nicht freiwillig ´gangen ist, den haben sie abtransportiert."
Genau dieses Nebeneinander der Überlebenden und Täter*innen, von Opfern und Täter*innen, die Parallelität der Gleichzeitigkeit, macht diesen Roman lesenswert, weil er ein Abbild der Zeit liefert. Sabine Scholl versteht es zudem gekonnt, den Frauen eine eigene Sprache zu geben. So lässt sie die Bäuer*innen und Arbeiter*innen einen schlichten österreichischen Dialekt sprechen, während die gehobene Klasse mit ebenso gehobener Sprache kommuniziert.
Die literarische Ausgestaltung der einzelnen Perspektiven
Auf der Täter*innenseite gibt es beispielsweise Gretel, eine arbeitslose Schneiderin, die sich auf eine "Anstellung als Aufseherin" in einem Konzentrationslager bewirbt. Völlig unreflektiert tritt sie die Reise zu ihrer neuen "Arbeitsstelle" an und wird dann mit der grausigen Realität konfrontiert: "Es riecht nach Mistgrube, Schlachthof, verbranntem Fleisch, Holzkohlen. Gretel versucht durch den Mund zu atmen, sich nichts anmerken zu lassen. Den anderen Frauen geht es genauso. Still geworden trotten sie an Holzbaracken für die Gefangenen vorbei: Gestalten, deren Körpern Gretel nicht mehr anmerkt, dass es weibliche Wesen sind. Aber sie tragen Kopftücher. Die Anwärterinnen marschieren vorbei an Anlagen mit zwei Schloten, aus denen dichte Wolken quellen. Ihre Dünste drehen Gretel den Magen um."
Sehr schnell wächst sie in ihre "Aufgaben" hinein und ist fortan mit vollem Eifer dabei, die Lagerinsassinnen zu quälen: "Also teilt Gretel dem Material (Anm.: damit sind die Insassinnen gemeint) mit Bewegungen ihrer Peitsche und einer Stimme, die gilt, verschiedene Aufgaben zu. Kein Mucks ertönt, wenn Gretel befiehlt. Alle gehorchen, weil alle wissen, was geschieht, wenn sie es nicht tun."
Die klassische Mitläuferin findet sich in Francine wieder, eine Französin und Filmschauspielerin, die nur wenig unter dem Naziregime und dem Krieg zu leiden hat. Sie lebt ihr luxuriöses Leben weiterhin und bekommt nur am Rande mit, wenn jüdische Set-Mitglieder vom Dreh verschwinden. Bis sie selber verhaftet und der Kollaboration mit den Deutschen bezichtigt wird, weil sie eine Liaison mit einem deutschen Offizier hatte.
Stellvertretend für die jüdischen Verfolgten steht Lotte, eine Schülerin, die mit ihren Eltern nach Shanghai flieht. Sie wollte eigentlich Tänzerin werden, muss sich von diesem Traum aber endgültig verabschieden, als sie durch einen amerikanischen Bombenangriff auf Shanghai von einem Bombensplitter verletzt wird. Nach dem Krieg geht sie mit ihrer Mutter nach Palästina.
Auch das Thema Widerstand deckt Sabine Scholl ab, indem sie anhand ihrer Figur der (nichtjüdischen) Rosi schildert, wie diese unter Lebensgefahr Partisan*innen in den Bergen mit Verpflegung und Kleidung unterstützt. Sie sammelt Brotmarken und Lebensmittel ein, um eine andere Widerständlerin damit zu versorgen, die nachts unbemerkt den steilen Aufstieg in die Berge erklimmt, um in einer Hütte, wo die Partisan*innen auf ihren Auftrag warten, die notwendigen Dinge zu hinterlegen.
Jede der Figuren verfolgt ein eigenes Ziel, hat eine unterschiedliche Haltung zum Nationalsozialismus und vom Grauen des Krieges und der faschistischen Herrschaft betroffen.
AVIVA-Tipp: Es ist gleichermaßen informativ wie bedrückend zu lesen, wie die Autorin das Vorher, das Währenddessen, und das Danach im faschistischen System der 1930er und 1940er Jahre in Deutschland und Österreich beschreibt. Ihre neun Protagonistinnen stehen stellvertretend für eine große Bandbreite von Frauen, die es vor, während und nach dem Nationalsozialismus gegeben hat. Dies hat die Autorin in narrativer, sehr gut lesbarer Form verfasst, so dass die Leser*in einen historischen Überblick über die Schrecken, über Täter*innen und Opfer erhält.
Zur Autorin: Sabine Scholl, geboren in Grieskirchen (A), hat in Wien studiert und lebte in Aveiro, Chicago, New York, Nagoya, wo sie an Universitäten lehrte. Nach ihrer Rückkehr in den deutschsprachigen Raum unterrichtete sie Literarisches Schreiben in Leipzig, Wien und Berlin. Für ihre Romane und Essays hat sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten, zuletzt den Anton-Wildgans-Preis der Österreichischen Industrie 2018 und den Oberösterreichischen Landespreis für Literatur 2020. Seit 2019 lebt und arbeitet sie wieder in Wien. 2021 erschien ihr Essay "Lebendiges Erinnern - Wie Geschichte in Literatur verwandelt wird".
Sabine Scholl – Die im Schatten, die im Licht
Weissbooks, erschienen 03/2022
Hardcover, 352 Seiten
ISBN 978-3-86337-193-7
Euro 18,99
Mehr zum Buch unter: www.weissbooks.com
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Judy Batalion - Sag nie, es gäbe nur den Tod für uns. Die vergessene Geschichte jüdischer Freiheitskämpferinnen
Die jüdisch-kanadische Historikerin und Comedienne stieß 2007 in der British Library auf ein verstaubtes Buch auf Jiddisch. "Freuen in di Ghettos" über die "Ghetto-Girls". Für Judy Batalion war das der Auslöser, sich näher mit der Geschichte und dem Schicksal der jüdischen Widerstandskämpferinnen in Polen zu befassen. Der Titel der englischen Originalausgabe: "The Light of Days. The Untold Story of Women Resistance Fighters in Hitler´s Ghettos". (2021)
Seweryna Szmaglewska – Die Frauen von Birkenau
Kurz nach der Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz-Birkenau schrieb die polnische Schriftstellerin Seweryna Szmaglewska ihren Bericht über die Grauen und die Jahre ihrer Gefangenschaft von 1942 bis 1945. Jetzt, 75 Jahre nach seinem Erscheinen in Polen, liegt er in deutscher Übersetzung vor. (2020)
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Nach mehr als sechzig Jahren schildert die als Marthe Hoffnung Gutglück 1920 in Metz geborene Holocaustüberlebende und Widerstandskämpferin in ihrer Autobiographie, wie sie undercover an wichtige Informationen zu den Truppenbewegungen der Nazis gelang, und diese an die Franzosen schmuggeln konnte. (2019)
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Die Chefreporterin des Deutschlandfunks Sabine Adler porträtiert in ihrem Buch die 1927 in Chust geborene israelische Trauma-Therapeutin bei AMCHA, Dr. Giselle Cycowicz und erzählt die Biographie der Psychologin. Deren Lebensgeschichte wird umrahmt von Kurzporträts einiger ihrer fast gleichaltrigen Patienten und Patientinnen, die wie Cycowicz, den vom deutsch-nationalsozialistisch geprägten Rassenhass angefachten millionenfachen Mord am Jüdischen Volk überlebten. (2018)
Annette Hess - Deutsches Haus
Mit dem ausdruckstark-treffenden Titel Deutsches Haus wagt Drehbuchautorin Annette Hess ("Weißensee" und "Kudamm `56 & `59`") einen Schritt, die konkrete Schuld, Mitschuld, ZuschauerInnen-Schaft, Dabeisein und das aktive Handeln von NS-Tätern und NS-Täterinnen klar zu benennen. In ihrem Roman zeigt sie auf, wie einerseits Verantwortungsübernahme und andererseits ie Ablehnung von Verantwortung bei Kriegskindern und bei den Danach-Geborenen – den Töchtern, Söhnen, Enkel und Enkelinnen nachträglich unbewusst emotional nachwirkt. (2018)
Anna Mitgutsch - Die Annäherung
Hat die österreichische Autorin in ihren Romanen vor allem die Suche nach der jüdischen Identität nach der Shoa thematisiert, wechselt sie in ihrem neuen Roman die Perspektive und taucht ein in das Schweigen, das in den Verbrechen der Nazis zur Mittäterschaft war. (2016)
Alexandra Senfft – Der lange Schatten der Täter
Hat sich die Enkelin eines NS-Kriegsverbrechers in "Schweigen tut weh" mit den emotionalen Verwüstungen in der eigenen Familie auseinandergesetzt, trifft sie nun auch auf Nachkommen anderer NS-Täter. Sie lässt sie in autobiographisch-narrativen Interviews zu Wort kommen und deckt damit die Folgen von Verleugnung und eisernem Schweigen für die Kinder und Enkel der TäterInnen auf. (2016)
Wendy Lower - Hitlers Helferinnen. Deutsche Frauen im Holocaust
13 weibliche Biografien – sie stehen stellvertretend für Hunderttausende Frauen, die sich am Krieg und am Holocaust in Osteuropa und Deutschland beteiligten. Mit ihnen befasst sich die Professorin und Geschichtswissenschaftlerin Wendy Lower in ihrem mit dem National Book Award 2013 ausgezeichneten Sachbuch. (2014)
Chasia Bornstein-Bielicka - Mein Weg als Widerstandskämpferin
Die Autorin erzählt von ihrer Tätigkeit als jüdische Widerstandskämpferin in den Jahren 1941 bis 1945 im besetzten Polen, von der täglichen Lebensgefahr, in der sie schwebte, da sie als Polin getarnt auf der "arischen" Seite lebte, von ihrem selbstlosen Einsatz für die JüdInnen im Ghetto und schließlich von ihrer Arbeit als Verbindungsmädchen zu jüdischen PartisanInnen im Wald. (2009)
Eva Mändl-Roubickova, Langsam gewöhnen wir uns an das Ghettoleben – Ein Tagebuch aus Theresienstadt
Vom 01. Januar 1941 bis zum 05. Mai 1945 hat Eva Mändl-Roubicková Tagebuch geführt, zunächst in Prag, wohin sie mit Mutter und Großmutter 1938 vor der Pogromstimmung im nordböhmischen Saaz (Žatec) flieht, bis zu ihrem Abtransport nach Theresienstadt am 17. Dezember 1941, danach dort mit wenigen Unterbrechungen bis zur Auflösung des Ghettos 1945. (2009)
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Im Konzentrations- und Vernichtungslager Majdanek arbeiteten von 1942 bis 1944 insgesamt 28 SS-Aufseherinnen, die ihren männlichen Kollegen in ihrer Brutalität und Grausamkeit in nichts nachstanden. Elissa Mailänder Koslov untersucht, wie aus scheinbar normalen jungen Frauen brutale Täterinnen wurden. (2009)
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Die NS-Täterinnen waren jahrzehntelang aus dem kollektiven Gedächtnis verschwunden. Kathrin Kompisch untersucht, in welchen Bereichen Frauen an den Verbrechen der NS-Diktatur beteiligt waren. Die Geschichtsforschung zur NS-Diktatur war lange Zeit ausschließlich auf die männlichen Täter und Mitläufer fokussiert, allein über Adolf Hitler, Joseph Goebbels und Hermann Göring wurden Dutzende Biographien verfasst. (2008)