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AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 04.05.2021


Asal Dardan - Betrachtungen einer Barbarin
Helga Egetenmeier

Wer bin ich denn, fragt sich Kulturwissenschaftlerin Asal Dardan zu Beginn ihres Buches. Denn als sie ein Jahr alt ist, fliehen ihre Eltern mit ihr aus dem Iran nach Deutschland. Entlang ihrer Biographie beschreibt sie, wie sie mit ihren Vorstellungen von Zugehörigkeit kämpfen musste, um...




... sich als Person zu finden. In diesem Kontext diskutiert sie, wie vereinfachende Zuschreibungen Ausgrenzung erst möglich machen und damit dem Menschen nicht gerecht werden.

Die Erkenntnis, keine Heimat zu haben, sei ihr nicht leicht gefallen, schreibt Asal Dardan. Sie fühle sich weder als Iranerin, noch als Deutsche und sei doch beides. Deshalb sei Zugehörigkeit für sie keine Frage der Loyalität zu einem Territorium, sondern ein Prozess. Wohin sie gehört, darüber möchte sie keine grundsätzliche Aussage treffen. Damit wählt sie den entgegengesetzten Ansatz, den Naika Foroutan und Jana Hensel in ihrem Gesprächsband "Die Gesellschaft der Anderen" in den Mittelpunkt stellen. Denn Dardan konstruiert kein vereinnahmendes Wir, sondern bricht in ihren Essays vereinheitlichende Identitätskonstruktionen auf, indem sie diese anhand ihres eigenen Lebenslaufes hinterfragt.

Die Konstruktion der "Barbarin" und der Wert der Begegnung

Wie machtvoll Ausgrenzungen durch politisch forcierte Identitätszuschreibungen sein können, erklärt die Autorin mit einem ihrer Lieblingsbücher. Sie zieht dazu das 1980 erschienene "Warten auf die Barbaren" des südafrikanischen Schriftstellers J. M. Coetzee heran, das sie auch zu ihrem Buchtitel inspirierte. Coetzee beschreibt darin, wie aus Menschen zweier Gesellschaften, die sich noch nie begegnet sind, Feind*innen werden. Die Bewohner*innen eines Staates, in dem ein Klima der Angst herrscht, sind sich sicher, "dass die barbarischen Nomaden angreifen werden", die außerhalb ihrer Grenze leben. Um der vermeintlichen Bedrohung zu entgehen, greifen sie die Fremden an und nehmen einige gefangen. Erstaunt stellen sie fest, dass diese Menschen nicht bedrohlich wirken. Doch sie glauben, dass die/der "Barbar*in" in ihnen steckt und wollen sie durch Foltern sichtbar machen.

Für die Kulturwissenschaftlerin beschreibt die Novelle "den Moment, in dem eine Gesellschaft sich selbst verliert und zu dem wird, was sie fürchtet", also selbst zur Barbar*in wird. Der Begriff der Barbar*in stand ursprünglich für Menschen, die nicht zu der "eigenen" Gesellschaft gehörten. Heute wird er als Gegensatz zu "zivilisiert" betrachtet und bezieht sich mehrheitlich auf den einzelnen Menschen. In ihrem Titel lässt die Autorin beide Interpretationen mitschwingen. Und auch in ihren Texten beschreibt sie sich sowohl als Individuum, wie auch als Angehörige unterschiedlicher Gruppen und stellt dadurch die negative Besetzung des Begriffs in Frage.

Sie kenne die Ohnmacht, wenn in ihr jemand eine "Barbarin" zu sehen scheint. und sie als Person ausgrenzt, so Dardan. Dagegen stelle sie sich bewusst der Herausforderung, "im Anderen den Einzelnen [zu] sehen und in sich das Fremde". Dadurch stellt sie essentielle Wir-Konstruktionen in Frage und verweist dabei auf den Essayband "Fremdheiten und Freundschaften" der feministischen Theoretikerin Christina Thürmer-Rohr: "Wenn das Wir begriffen wird, wie es Thürmer-Rohr vorschlägt, müssten Differenz und Distanz nicht überwunden werden. Dann läge der Wert bereits in der Begegnung."

Ihre Essays - Analysen entlang ihrer Biographie

Langsam von ihrer Kindheit in die Gegenwart gehend, beschreibt Dardan ihr Leben und greift dazu auf ihre Erinnerung zurück. Mit ihrem heutigen Wissen analysiert sie ihre Besuche bei den iranischen Tanten in Los Angeles ebenso wie ihre Unterbringung in einem Internat für Kinder vermögender Eltern, die Geburt eines ihrer Kinder und ihren Aufenthalt im ländlichen Schweden. Sie setzt sich mit dem NSU-Prozess auseinander, beleuchtet das Leben von Olga Benariound kritisiert, dass Menschen mit sehr unterschiedlichen Erfahrungen und Hintergründen eindimensional als people of color zusammengefasst werden. Und sie sieht eine Entwicklung: Junge Menschen würden sich bei Protesten wie Black Lives Matter oder unteilbar engagieren und es der Gesellschaft durch ihre öffentliche Präsenz erschweren, "Barbarisierungen", also vereinfachende Identitätskonstruktionen, aufrecht zu erhalten.

Anlässlich der digitalen Buchpremiere sprach die Autorin am 1. März 2021 mit dem Direktor des Jüdischen Museums Hohenems, Hanno Loewy, in einem Videostream über die Schwerpunkte ihrer Essays. "Es sind Erfahrungen und Erlebnisse, die ich mein ganzes Leben gesammelt habe", so Dardan. Die Essays habe sie ziemlich schnell, innerhalb von eineinhalb Jahren geschrieben. Nur einmal, nach einer Abtreibung, hätte sie eine längere Pause gemacht. Im Essay "Wachsen" erzählt sie darüber und macht deutlich, wie gut es ihr getan hat, diese Entscheidung in Schweden getroffen zu haben. Dadurch wäre sie nicht dem unnötigen psychischen Druck ausgesetzt gewesen, der in Deutschland Frauen erniedrige und bevormunde.

AVIVA-Tipp: Asal Dardan beschreibt anhand ihrer Biographie, wie ihr die Erweiterung ihres analytischen Blicks auf die Gesellschaft gelang - und lässt die Leser*in daran erkenntnisbringend teilhaben. Die Kritik an rassistischen Ausgrenzungen, sexistischem Verhalten und sozialer Ungleichheit ist in ihren schwungvoll geschriebenen Essays dabei immer präsent. Ein Buch, das mit dem Aufruf nach mehr gesellschaftlichem Widerstand gegen Rechts schließt und ein eindeutiges Nein zur Barbarei fordert.

Auszeichnung/Nominierung:
2020: Caroline-Schlegel-Preis der Stadt Jena, Hauptpreis für den Essay "Neue Jahre"
2021: nominiert für den Deutschen Sachbuchpreis

Zur Autorin: Asal Dardan, geboren 1978 in Teheran und nach eigenen Angaben katholisch aufgewachsen, wuchs nach der Flucht ihrer Eltern aus dem Iran in Köln, Bonn und Aberdeen auf und studierte Kulturwissenschaften in Hildesheim und Nahoststudien in Lund. Zwischen 2004 und 2007 arbeitete sie bei diversen Film- und Kurzfilmfestivals in Köln und Berlin. 2007 schloss sie ihr Diplom mit der Arbeit "Erinnern und Verarbeiten: Der Holocaust in Filmen von Stanley Kramer, Arthur Hiller und Thomas Brasch" ab. Sie veröffentlichte 2012, gemeinsam mit Prof. Dr. Claudia Bruns und Dr. Anette Dietrich, das Buch "Welchen der Steine du hebst - Filmische Erinnerungen an den Holocaust". Als freie Autorin schreibt sie für Zeit Online, die FAZ und die Berliner Zeitung. Außerdem arbeitet sie als freie Redakteurin und Autorin für das Online-Magazin was wäre wenn. Nach Jahren auf Öland in Schweden lebt sie heute mit ihrer Familie in Berlin.

Die Autorin im Netz: www.twitter.com

Asal Dardan
Betrachtungen einer Barbarin

Hoffmann und Campe, erschienen: Februar 2021
Hardcover, gebunden, 192 Seiten
ISBN-13: 978-3455010992
22,00 Euro
Mehr zum Buch sowie Lesungstermine unter: www.hoffmann-und-campe.de

Literaturhaus Berlin: Videostream - Gespräch der Autorin Asal Dardan mit dem Direktor des Jüdischen Museums Hohenems Hanno Loewy.

Asal Dardan im Interview mit Cristina Nord von der taz
Als in Berlin 2009 das Symposium über die filmische Erinnerung an den Holocaust stattfand, interviewte die Kulturredakteurin der taz, Cristina Nord, Asal Dardan unter der Überschrift "Filme vereinfachen, das macht nichts" zu "Holocaust im Film".

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Literatur

Beitrag vom 04.05.2021

Helga Egetenmeier