AVIVA-Berlin >
Literatur
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 30.03.2021
Hengameh Yaghoobifarah - Ministerium der Träume
Sabina Everts
Unter dem Hashtag #Schauhin legten 2013 viele Menschen ihre Erfahrungen mit Alltagsrassismus über Twitter offen. Die Debatte um Rassismus und Polizeigewalt in Deutschland im Sommer 2020 hat jedoch gezeigt, dass bis heute noch immer nicht genug hingeschaut wurde. Das Debüt der Autor_in und taz-Kolumnist_in Hengameh Yaghoobifarah ist eine Möglichkeit, dies …
... auf knapp 400 Seiten zu tun. Mit kritischem Blick analysiert Yaghoobifarah sowohl Mechanismen struktureller Diskriminierung im Deutschland der Gegenwart als auch die Nachwirkungen rechtsterroristischer Gewalt der 90er Jahre.
Warum insbesondere weiße Millennials diesen Roman lesen sollten
Ein roter Kreis auf pinkem Hintergrund ziert wie ein Warnschild das Cover des Romans "Ministerium der Träume". Wer das Buch bisher noch nicht gelesen hat, dürfte es in diesen Signalfarben beim nächsten Besuch in einer Buchhandlung schnell ausfindig machen können. Doch der Roman ist keine Warnung, sondern im Gegenteil, ein Angebot.
Kein Reizroman
Im Sommer 2020 stand Hengameh Yaghoobifarah nach Erscheinen ihrer Kolumne "Über die Polizei. All cops are berufsunfähig" in der taz für einige Wochen im Kreuzfeuer der Öffentlichkeit. Bundesinnenminister Horst Seehofer wollte Strafanzeige mit dem Vorwurf der Volksverhetzung erstatten, der Presserat wies eingegangene Beschwerden unter Berufung auf die Meinungsfreiheit als unbegründet zurück. Yaghoobifarah ist bereits seit einigen Jahren eine wichtige Stimme gegen Rassismus und Diskriminierung in Deutschland. Die Redakteur_in des Missy Magazins polarisiert und provoziert, scheut sich nicht, zu sagen, was gesagt werden muss und die Grenzen dessen auszutesten, was im öffentlichen Raum gesagt werden kann.
"Ministerium der Träume" schlägt allerdings einen anderen, gemäßigteren Ton an als die Kolumne Habibitus und verbindet Debatten um Mechanismen struktureller Diskriminierung mit individuellen Schicksalen. Im Mittelpunkt des Romans stehen zwei Schwestern, Nushin und Nasrin, deren Erwachsenwerden von Yaghoobifarah aus intimer, subjektiver Perspektive erzählt werden.
Nicht gesehen, nicht beschützt
Die rechtsterroristische Gewalt in den 1990er Jahren in Deutschland bedeutet für die Protagonistinnen, Angst zu haben. Angst, alleine auf die Straße zu gehen. Angst, nicht beschützt zu werden, Angst vor Gewalt. Ein Gefühl, das für die meisten weißen Menschen schwer vorstellbar ist. Erfahrbar macht Yaghoobifarah das durch die Schilderung einer Szene, die kurz nach den deutschlandweiten rassistischen Angriffen auf Menschen mit Migrationsgeschichte in Solingen, Hoyerswerda und Rostock-Lichtenhagen auf dem Jahrmarkt in Lübeck im Jahr 1995 spielt:
"Einige Meter weiter parkte ein Polizeiwagen mit zwei Beamten auf den vorderen Sitzen. Einer von ihnen bemerkte uns, wir schauten uns kurz in die Augen, ich formte mit meinem Mund das Wort "Hilfe". Für fünf weitere Sekunden guckte er mich an, dann drehte er sich zur Seite, als wäre nichts auffällig an einer Gruppe von Ausländern, die von fünf Glatzköpfigen in eine dunkle Ecke gedrängt wurde."
Diese traumatische Erfahrung des schutzlos Ausgeliefertseins ist eine von vielen, die Kindheit und Jugend der Schwestern prägen. Während sich die Handlung auf unterschiedlichen Zeitebenen entwickelt, können Leser_innen nachvollziehen, warum sich Nasrin und Nushin auch als Erwachsene in dem Land, in dem sie seit ihrer Flucht aus dem Iran mit der Mutter leben, nicht sicher fühlen.
Wurmlöcher zwischen Vergangenheit und Gegenwart
Der rote Kreis auf dem Cover ist Symbol für die lochartige Struktur, mit der die Erzählung unterlegt ist. In den Kapitelüberschriften taucht diese Symbolik ebenso auf wie in diversen Metaphern. Die kleinen unauffälligen Kreise, die den Text visuell unterbrechen, könnte mensch beinahe übersehen. Dennoch sind sie da und öffnen die Handlung für Erinnerungspartikel aus der Vergangenheit, die wie durch eine poröse Membran zu Nasrin vordringen. Sie vereinnahmen sie, lassen sich nicht verdrängen und verlangen ihre gesamte Aufmerksamkeit.
Kaum Veränderungen seit den 90ern
"Ministerium der Träume" ist auch deshalb für mich, als weiße in Deutschland geborene Person, ein wichtiger Roman, weil ich mir beim Lesen vorgestellt habe, wie es gewesen wäre, wenn ich mit Nasrin zur Schule gegangen wäre. Vielleicht hätten wir auf einem Geburtstag Just like a Pill von Pink bei Singstar gesungen oder als Teenies betrunken Total Eclipse of the Heart von Bonnie Tyler mitgebrüllt. Die in den Roman eingeflochtenen 90er Songs, die Yaghoobifarah in einer Playlist auf Spotify zusammengestellt hat, verbinden mich emotional mit den Protagonistinnen. Hörte ich nur die Playlist, ich würde denken, wir hätten eine ähnliche Kindheit und Jugend gehabt.
Doch der Roman zeigt mir, wie viel meinem weißen Horizont verborgengeblieben ist und noch immer verborgen bleibt. Ich hätte damals wie heute nicht verstehen können, wie sich Diskriminierung anfühlt. Eine Erfahrung, die für viele Menschen in Deutschland alltäglich ist. Ich hätte Nasrin vermutlich nicht die richtigen Fragen gestellt und für sie wäre es zu schwierig gewesen, mir Strukturen begreiflich zu machen, die sie als Kind vielleicht selbst noch nicht vollständig verstanden hätte.
Die Annika als Symbolfigur weißer Privilegien
Yaghoobifarah verwendet in ihren Texten ebenso wie im Roman einen Begriff für weiße gutbürgerliche Frauen aus der Mittelschicht: Sie nennt sie die Annikas. Als Leserin, die einige Eigenschaften dieser Figuren teilt, bin ich geneigt, sie als für die Handlung zugespitzt, überzeichnet oder satirisch zu interpretieren. Ich hinterfrage ihren Authentizitätsgrad oder fühle mich durch die Pauschalisierung angegriffen.
Diese wie automatisiert einsetzende Abwehrhaltung muss ich erst überwinden, bevor ich erkennen kann, dass die Platzhalterinnenfigur der Annika mir neben einem kritischen Blick auf mich selbst noch etwas anderes ermöglicht. Sie zeigt mir, welche Erfahrungen Menschen wie Nasrin und Nushin in ihrem Leben mit weißen Frauen gemacht haben. Die Annikas verkörpern das, was Journalistin und Buchautorin Alice Hasters im Interview mit DlfNova das white privilege nennt: "Das Privileg von weißen Menschen, [...] Rassismus einfach ignorieren [zu können], wenn es ihnen zu anstrengend wird"
Privilegien erkennen und hinterfragen
Hengameh Yaghoobifarah schafft mit "Ministerium der Träume" einen Zugang zu Lebensrealitäten, anhand derer sich zeigt, wie wichtig es ist, dass weiße Menschen in Deutschland ihre Privilegien erkennen und deren Existenz und Wirkmacht akzeptieren. Das ist keine leichte Aufgabe, doch die Selbstreflexion ist unumgänglich, wenn weiße Menschen es mit der Solidarisierung wirklich ernst meinen.
Der Roman kann deshalb eine Geschichte für Leser_innen sein, die sich in einer Gesellschaft der "-ismen" nicht akzeptiert, nicht gesehen, nicht gehört fühlen. Genauso relevant ist er aber für alle, die zuhören und ehrlich etwas verändern wollen. Er sagt: #Schau hin, so geht es Nasrin, so geht es vielen. Nun ändere etwas!
AVIVA-Tipp: "Ministerium der Träume" erzählt ein Aufwachsen in den 1990er Jahren in Deutschland, das von Rassismus- und Diskriminierungserfahrungen geprägt ist.
Hengameh Yaghoobifarah spricht Leser_innen auf emotionaler Ebene an und ermöglicht Zugänge zu Lebensrealitäten, die den meisten weißen Leser_innen noch immer verborgen sind.
Zur Autor_in: Hengameh Yaghoobifarah ist 1991 geboren und hat Medienkulturwissenschaft und Skandinavistik in Freiburg und Linköping studiert. Die freie Journalist_in gehört zur Redaktion des Missy Magazins und schreibt die Kolumne "Habibitus" für die taz. Yaghoobifarah identifiziert sich als nicht-binär und wählt für sich die genderneutrale Schreibweise mit Unterstrich. Im Podcast "Auf eine Tüte" spricht die heute in Berlin lebende Autor_in wöchentlich mit Gäst_innen über eine Bandbreite an Themen zwischen Politik und Popkultur.
Hengameh Yaghoobifarah im Netz:
Instagram: @habibitus www.instagram.de
Twitter: @habibitus www.twitter.de
www.missy-magazine.de
www.podtail.com
In jeder Folge trifft sich Hengameh Yaghoobifarah "auf eine Tüte" mit Personen aus Politik und Popkultur. Über den Inhalt dieser "Tüte" entscheiden die Gäst_innen selbst und können so das Thema setzen, über das sie sprechen möchten.
Hengameh Yaghoobifarah
Ministerium der Träume
Aufbau Verlag, erschienen: Januar 2021
Hardcover, 368 Seiten
ISBN: 978-3-351-05087-0
22,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.aufbau-verlag.de
Anmerkung zum Buch: In der ersten Auflage des Romans wird diskriminierungsfreie Sprache mit einem Doppelpunkt umgesetzt ist. In der zweiten, aktualisierten Auflage wird laut Autor_in ein Unterstrich verwendet werden.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Bernardine Evaristo – Mädchen, Frau, etc.
Die Professorin für Kreatives Schreiben an der Brunel University London und stellvertretende Vorsitzende der Royal Society of Literature erhielt 2019 den Booker Prize für ihren achten Roman. Darin zeigt sie ein Panorama an diversen Stimmen und erzählt eine feministische Geschichte aus der Perspektive von Schwarzen Frauen der letzten einhundert Jahre in Großbritannien. (2021)
Dan Morain – Kamala Harris. Die Biografie
"Du magst die Erste sein, die viele Dinge tut, aber stell sicher, dass du nicht die Letzte bist" ermahnte Shyamala Gopalan Harris, die Mutter der neuen Vizepräsidentin der USA, Kamala Harris. Wie ihr Weg zur ersten Frau und zugleich die erste Person of Color in dieser Position verlief, ist in der ersten deutschsprachigen und spannenden Biografie nachzulesen.
Naika Foroutan, Jana Hensel - Die Gesellschaft der Anderen
Die Journalistin Jana Hensel und die Migrationsforscherin Naika Foroutan kritisieren in ihrem Gesprächsband das Nicht-Verhalten der Mehrheitsgesellschaft gegenüber Rassismus und Rechtsextremismus. Dazu ziehen sie ihre persönlichen Erfahrungen ebenso heran, wie sozialwissenschaftliche Theorien, die Erkenntnisse einer Studie zu Ost-Migrantischen Analogien und diskutieren dies entlang der Geschichte Deutschlands vor und nach dem Mauerfall. (2020)
Gesichter der Antimoderne. Gefährdungen demokratischer Kultur in der Bundesrepublik Deutschland. Herausgegeben von Dr. Martin Jander, Anetta Kahane
Die Autorinnen und Autoren des Sammelbandes analysieren vor dem Hintergrund ihrer jeweiligen Themenfelder die Kontinuitäten von Antisemitismus und Antimoderne sowie ihre Präsenz in verschiedenen politischen Strukturen wie gesellschaftlichen Milieus. Weithin sichtbar in den wissenschaftlich-soziologischen, essayistischen oder empirischen Beiträgen werden die vielfältigen Erscheinungsformen von (Alltags)Antisemitismus und damit die Herausforderungen für die Demokratie: Zivilgesellschaft wie Politik oder Kunst und Kultur. (2020)
NSU-Watch - Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess
Über fünf Jahre begleitete die bundesweit aktive Initiative NSU-Watch das Gerichtsverfahren zu der rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) in München. Mit ihrem Buch zeigen sie, wie wichtig die Beobachtungen an jedem einzelnen Verhandlungstag waren, um diesen Justizskandal nachzuweisen, der bestimmt ist von Verschleierung, Ignoranz und angeblichen Gedächtnislücken. Präzise belegen sie den tief sitzenden Rassismus in den deutschen Staatsapparaten, der Rechtsextremismus schützt, anstatt ihn zu verurteilen. (2020)
Halle ist überall - Stimmen jüdischer Frauen. Mit Fotos von Sharon Adler und anderen. Herausgegeben von Nea Weissberg, Lichtig Verlag
"Mutig sein, stark bleiben". In emotionalen wie analysierenden Beiträgen reflektieren die in dieser Anthologie vertretenen zwanzig Jüdinnen der I., II. und III. Generation ihre persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle zu ihrem Leben als Jüdin in Deutschland - vor und nach Halle. Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Betenden in der Synagoge in Hall an der Saale an Yom Kippur, dem höchsten jüdischen Feiertag, macht die Verlegerin Nea Weissberg mit diesem Buch ihre Stimmen sichtbar. (2020)
Lydia Lierke und Massimo Perinelli (Hg.) - Erinnern stören. Der Mauerfall aus migrantischer und jüdischer Perspektive
Die Herausgeber_innen Lydia Lierke und Massimo Perinelli versammeln in "Erinnern stören" ein breites Spektrum an Biographien, die bei der deutsch-deutschen Vereinigung ignoriert und ausgegrenzt wurden. Gerade deshalb sind diese Erzählungen von rassistischen und antisemitischen Erfahrungen, solidarischen Kämpfen und politischem Engagement ein wichtiger Beitrag zum demokratischen Entwurf einer Gesellschaft der Vielen. (2020)
Candice Carty-Williams – Queenie
Ausgezeichnet als bestes Buch und bestes Debüt des Jahres bei den British Book Awards 2020 hat die britische Journalistin und Drehbuchautorin Candice Carty-Williams mit "Queenie" ein Buch geschrieben, das sich trotz aller Tragik mit viel Humor und noch mehr Tiefgang dem Thema Rassismus in allen Facetten widmet. (2020)
Toni Morrison - Die Herkunft der Anderen. Ãœber Rasse, Rassismus und Literatur
Aktueller denn je präsentieren sich die Essays der afroamerikanischen Schriftstellerin Toni Morrison. Ausgrenzung und das Definieren von Anderssein sind Themen, die nicht nur in den USA eine gefährliche Brisanz haben. Wer gehört dazu und wer nicht? Warum scheint der Mensch das Konzept der "anderen" zu brauchen? (2018)
Euer Schweigen schützt euch nicht, Audre Lorde und die Schwarze Frauenbewegung in Deutschland. Herausgegeben von Peggy Piesche
Eine Schwarze, Kriegerin und Dichterin, die ihre Arbeit tut und gekommen ist, euch zu fragen, ob ihr die Eure tut." Dieser Aufruf zum politischen Handeln zeigte in Deutschland eine großartige Wirkung: das Erwachen einer Bewegung. (2013)
Audre Lorde – die Berliner Jahre 1984 - 1992
Vom Kampf gegen Rassismus, Sexismus und Homophobie und dem Mangel nicht harmonisierender Bettwäsche - dieser wunderbare Dokumentarfilm zeigt die afro-amerikanische Dichterin, Aktivistin und lesbische Mutter politisch und privat. (2013)
Noah Sow - Deutschland Schwarz Weiß. Der alltägliche Rassismus
Das Thema Rassismus in Deutschland wird allzu gern als Randphänomen in der Neonazi-Szene oder im Osten angesehen. Dass es dies absolut nicht ist, deckt Noah Sow in diesem Buch sehr anschaulich auf. (2008)