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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 22.09.2020


Elena Ferrante – Das lügenhafte Leben der Erwachsenen
Doris Hermanns

In ihrem ersten Roman nach ihrer weltberühmten Neapolitanischen Saga erzählt Elena Ferrante zum einen von der Pubertät eines Mädchens, das durch das Auseinanderbrechen ihrer Familie zur Erwachsenen wird, zum anderen von den verschiedenen Klassen in Neapel.




Es scheint die perfekte Mittelschichts-Familie zu sein, in der die Ich-Erzählerin, die dreizehnjährige Giovanna, als Einzelkind in den 1990er Jahren im oberen Teil Neapel aufwächst. Die Eltern arbeiten an verschiedenen Gymnasien, die Mutter nebenher noch als Korrektorin von Liebesromanen. Ihre beiden besten Freundinnen sind praktischerweise die Töchter von den besten FreundInnen der Eltern.

Zufällig hört Giovanna eine Bemerkung des Vaters mit: Sie sei hässlich und sie komme ganz nach seiner Schwester Vittoria. Giovanna erwartet eine Verteidigung ihrer Mutter, die aber ausbleibt. Sie ist am Boden zerstört, hielt sie sich bis dahin für schön und von ihren Eltern geliebt. Vittoria, die im unteren, armen Teil von Neapel lebt, galt hingegen als die böse Hexe, mit der die Eltern nichts zu tun haben wollten, von der sie möglichst nicht einmal sprachen. Erst jetzt wird der Tochter deutlich, aus welchen Verhältnissen ihr Vater stammt. Nach und nach zerbricht ihre scheinbar heile Welt für sie.

Giovanna macht sich daraufhin auf die Suche nach ihrer Tante und lernt dabei nicht nur einen ganz anderen Teil Neapels kennen (den auch im übertragenen Sinne unteren), sondern auch ganz andere Lebensweisen, erfährt von Liebe und Sexualität, von Wildheit im Leben. Sie selber lernt dabei neue Menschen, aber auch sich selber neu kennen, verändert ihr Verhalten, probiert sich neu aus, will nicht mehr die "Tussi aus gutem Hause" sein, erzählt zu Hause nichts mehr, bekommt Schwierigkeiten in der Schule. Und sie verliebt sich zum ersten Mal, auch wenn dies nur einseitig ist.

Dabei verändert sich auch das Bild, das sie von ihren Eltern hatte, grundlegend, denn kurz danach lassen diese sich scheiden. Aber auch das Verhalten ihrer Eltern ihr gegenüber ändert sich: Den Vater sieht sie nur noch sporadisch, ihre Mutter kann sie nicht mehr erreichen, diese herrscht sie sogar an: "Halt den Mund, du willst, was wir wollen."

Was mit den Lügen der Erwachsenen beginnt, weitet sich auf Dauer auch auf Giovanna aus: Auch sie beginnt zu lügen, was ihr zunehmend Spaß macht. Nicht nur daran merkt sie, dass ihre Kindheit vorbei ist.

Es ist ein Roman der Suche eines Mädchens in der Pubertät nach sich selber. Wie Giovanna sagt: "Ich habe es satt, den Worten anderer ausgesetzt zu sein. Ich muss wissen, wer ich wirklich bin und was für ein Mensch ich werden kann."

Auf Dauer merkt sie, dass ihr Vater zwar geglaubt hatte, als Intellektueller seine Herkunft hinter sich gelassen zu haben, dass dies aber nicht wirklich der Fall ist, denn "Weder ich noch Vittoria, noch mein Vater konnten unsere gemeinsamen Wurzeln wirklich kappen, und so liebten und hassten wir, je nachdem, schließlich immer uns selbst."

Der Roman ist durchzogen von Anspielungen auf Märchen. So gibt es beispielsweise die "Hexenkünste" ihrer Tante Vittorias, Giovanna spricht von den "Märchen ihrer Kindheit" und davon sich eine "Märchenwelt zu basteln". Letztendlich entkommt sie diesen Märchen aber und lässt ihre Kindheit hinter sich.

AVIVA-Tipp: Das lügenhafte Leben der Erwachsenen ist ein Roman über das schmerzhafte Erwachsenwerden und gleichzeitig über das Verlieren des Vertrauens in die Erwachsenen. Anders als in der Neapolitanischen Saga berichtet die Autorin hier nur von einer kurzen Periode der Ich-Erzählerin, von den beiden Jahren, die ihr Leben grundlegend verändern sollen. Spannend erzählt, denn wie jede Familie ist auch jede Pubertät anders.

Zur Autorin: Elena Ferrante hat sich mit dem Erscheinen ihres Debütromans im Jahr 1992 für die Anonymität entschieden. Ihre vierbändige Neapolitanische Saga –Meine geniale Freundin, Die Geschichte eines neuen Namens, Die Geschichte der getrennten Wege und Die Geschichte des verlorenen Kindes - ist ein weltweiter Bestseller und hat sich millionenfach verkauft. Ihr Kinderbuch Der Strand bei Nacht ist im Oktober 2018 erschienen. Inzwischen sind auch ihre vorherigen drei Romane Lästige Liebe , Frau im Dunkeln und Tage des Verlassenwerdens neu aufgelegt. Im Frühjahr 2019 erschien Frantumaglia. Mein geschriebenes Leben.
Mehr Infos zu Elena Ferrante unter: www.elenaferrante.de

Zur Übersetzerin: Karin Krieger, geboren 1958 in Berlin, übersetzt vorwiegend aus dem Italienischen und Französischen, darunter Bücher von Claudio Magris, Anna Banti, Armando Massarenti, Margaret Mazzantini, Ugo Riccarelli, Andrea Camilleri, Alessandro Baricco und Giorgio Fontana. Sie war mehrfach Stipendiatin des Deutschen Übersetzerfonds und erhielt 2011 den Hieronymusring.

Elena Ferrante
Das lügenhafte Leben der Erwachsenen

Originaltitel: La vita bugiarda degli adulti
Aus dem Italienischen von Karin Krieger
Suhrkamp Verlag, erschienen 29.08.2020
Gebunden mit Umschlag. 415 Seiten
ISBN 978-3-518-42952-5
Euro 24,00
Auch als ebook erhältlich
Mehr zum Buch: www.suhrkamp.de

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Elena Ferrante – Tage des Verlassenwerdens
Im letzten der drei Romane, die Ferrante noch vor ihrer Neapolitanischen Saga geschrieben hat, und der jetzt neu aufgelegt wurde, wird eine Frau, die sich in einer glücklichen Ehe und Familie glaubte, von einem Moment auf den anderen von ihrem Mann verlassen und stürzt daraufhin komplett ab. (2019)

Elena Ferrante – Frau im Dunkeln
Ein Urlaub wird für eine Anglistik-Professorin in Ferrantes neuem Roman zu einer Reise in die Vergangenheit, in der sie sich mit sowohl mit ihrer Rolle als Tochter als auch der als Mutter auseinandersetzt. Und: Der Strand bei Nacht (2019)

Elena Ferrante – Lästige Liebe
Nach dem vierten und damit letzten Band der "Neapolitanischen Saga" liegt nun der Debütroman der Autorin "Lästige Liebe", in dem sich die Haltung einer Tochter zu ihrer Mutter nach deren Tod grundlegend ändert, in neuer Übersetzung vor. (2018)

Elena Ferrante - Die Geschichte des verlorenen Kindes
Der vierte und letzte Band der Neapolitanischen Saga ("Meine geniale Freundin", "Die Geschichte der getrennten Wege" und "Die Geschichte eines neuen Namens") ist das große Finale der Tetralogie, in dem aber nicht alle Fragen geklärt werden. (2018)

Elena Ferrante - Die Geschichte der getrennten Wege
Das #Ferrantefever geht weiter: Im dritten Band der Neapolitanischen Saga ("Meine geniale Freundin" und "Die Geschichte eines neuen Namens") erzählt die Autorin, wie sich die Freundschaft der beiden erwachsenen Frauen trotz Entfernungen weiterentwickelt. (2017)

Elena Ferrante – Die Geschichte eines neuen Namens
Es geht weiter mit der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante ("Meine geniale Freundin"): Endlich erfahren wir, wie die Freundschaft der beiden Mädchen während ihrer Jugendzeit weiterentwickelt. (2017)

Elena Ferrante - Meine geniale Freundin
Am 27. August war es endlich so weit: Der erste Band der Neapolitanischen Saga von Elena Ferrante erschien auf Deutsch – lange nachdem alle vier Bände in anderen Sprachen bereits weltweit bejubelt wurden. (2016)




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Beitrag vom 22.09.2020

Doris Hermanns