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Beitrag vom 28.08.2018
Christina Dalcher - VOX
Nora Rauschenbach
In ihrem Debütroman VOX thematisiert die US-amerikanische Autorin, Sprachwissenschaftlerin und Professorin für Phonetik und Phonologie die Wut der Frauen auf die gesellschaftspolitischen Zustände in den USA nach der letzten Präsidentschaftswahl. Dabei geht sie auf ihre ganz eigene, sprachfokussierte Art vor und versetzt das Setting in ein dystopisches Amerika, in dem Frauen nur einhundert Wörter am Tag sprechen dürfen.
"Meine Schuld begann vor zwei Jahrzehnten, als ich zum ersten Mal nicht zur Wahl ging, die unzähligen Male, an denen ich Jackie damit abwimmelte, ich hätte zu viel zu tun, um an einer ihrer Demos teilzunehmen oder Plakate zu basteln [...]"
Dieser bedeutungsvolle Gedanke der Protagonistin Jean McClellan, Mutter von vier Kindern, fasst Christina Dalchers Roman gut zusammen: Es geht darum, sich zu engagieren und zu sprechen, bevor es zu spät ist.
Dies macht die Autorin selbst in ihrer Rede auf dem Penguin Random House Library BookExpo Breakfast für Bibliothekar*innen im Mai 2018 deutlich und bezeichnet ihr Buch als "little wake-up call".
Der fließende Übergang zwischen Realität und Fiktion
Wie auch im 2015 erschienenen Sammelband "Wenn Männer mir die Welt erklären" der Journalistin und Kulturhistorikerin Rebecca Solnit, finden wir bei VOX eine kritische Betrachtung der Machtstrukturen zwischen den Geschlechtern.
Christina Dalcher nimmt hierbei realistische Szenarien und die neu-aufgekommene Debatte um die Gleichberechtigung der Frauen seit Trumps Amtsantritt in den Blick:
"Sehen Sie, genau deswegen hat es früher nicht funktioniert. Irgendwas ist immer. Dauernd ein krankes Kind oder eine Aufführung in der Schule oder Menstruationsbeschwerden oder Mutterschutz. Ständig ein Problem", fertigt der (männliche) Chef seine Angestellte ab, die zu spät gekommen war, weil die Tages-Betreuung ihrer Tochter bei einer Bekannten nur durch einen großen Zeitaufwand geklappt hatte.
Fließend gelingt es der Autorin, alltägliche Situationen wie diese mit ihren fiktiven, geradezu dystopischen Vorstellungen zu verknüpfen.
Christina Dalcher erschafft eine realistische Welt, die von Diskriminierung am Arbeitsplatz, mangelnden Bildungschancen für Mädchen und Frauen sowie von Ehebruchtransportern ("Aber sei vorsichtig. Du willst doch nicht, dass du von Carl Corbins Ehebruchtransporter abgeholt wirst."), Umerziehungslagern ("Null Wörter pro Tag, Mädels. Schauen wir mal, wie lange es dauert bis ihr euch anpasst.") oder vor allem auch Wortzählern am Handgelenk, welche beim Aufleuchten der Nummer 100 einen elektrischen Schlag abgeben, geprägt ist.
Die Macht des Wortes
Einiges lässt sich von der studierten Linguistin mit Fokus auf Sprachwandel und einem besonderen Interesse an Ultraschalltechniken im Roman wiederfinden: Sie wählte ein Feld, das ihr vertraut und bekannt ist, um auf die Frauenfeindlichkeit in den USA aufmerksam zu machen und zu rufen "Tut doch etwas, bevor es zu spät ist!". Sie wählte eine Protagonistin, die ebenfalls Sprachforscherin ist, und sich mit der Heilung von Aphasie beschäftigt. Und sie setzte sich innerhalb des Romans mit der kleinsten Einheit eines Wortes auseinander, dem Morphem, und welche Bedeutung diese kleine Einheit tragen kann.
So macht sie im Verlauf des Romans beispielsweise deutlich, wie ein Wort, das sich in keine weiteren Bestandteile zerlegen lässt, die Macht ausüben kann, genau die entgegengesetzte Bedeutung des Wortes zu haben, mit welchem das erste Wort nun in Verbindung steht: "Das alles infolge eines kleinen Wortes: anti."
Es ist gut nachvollziehbar, warum Christina Dalcher den Weg der Sprache gewählt hat, um ihre Nachricht hinaus in die Welt zu bringen. Dennoch fehlt einer Nicht-Neurolinguistin, so wie es Jean McClellan ist, des Öfteren die Lieferung zusätzlicher, wissenschaftlicher Informationen, um den Arbeitsprozess der Figuren besser verstehen zu können, da, gerade gegen Ende des Romans, die Gedankengänge der Charaktere immer unausformulierter werden und es schwer fällt, diesen zu folgen. Das schadet dem Gesamtbild des Romans jedoch nicht. Viel wichtiger scheint hierbei unter anderem…
…die Ironie hinter der Geschichte zu sein.
So haben wir einerseits Jean, die so verstrickt in ihren Nachforschungen ist, welche sich mit dem Verlust von Sprache bzw. dem Heilen von Aphasie beschäftigen, andererseits die Autorin, die von sich selbst sagt: "I started writing, because it was a fantastic way of staying in my house and not talking to people, which are two of my favorite things." Gleichzeitig spricht sie jedoch vor Publikum, stellt ihr neues Buch vor oder hält Vorträge zu Linguistik und benutzt ihre Stimme, weil sie es kann.
VOX ist durchzogen von einer klugen, subtilen Ironie, von der Christina Dalcher sich selbst nicht sicher ist, ob diese geplant war oder einfach so passiert ist, wie sie in einem Interview gegenüber BBC Breakfast sagt, doch Fakt ist: Die Ironie ist da und sie funktioniert.
AVIVA-Tipp: Christina Dalcher gelingt es mit ihrem Debütroman auf eine sympathisch-schräge, ironisch-kluge Weise zu überzeugen. Hierbei spannt sie den Bogen von realitätsnahen Repressalien am Arbeitsplatz und dem Leben ohne Bildung bis hin zu einer dystopischen Vorstellung durch ein den Frauen gesetzlich verordnetes Wortmaximum von einhundert Wörtern am Tag. Diese Vermischung von Realität und "Fiction" regt zum Nachdenken an und fordert zum Handeln auf.
Zur Autorin: Christina Dalcher bezeichnet sich selbst als "writer, reader, novelist, and flash fiction addict". Die gebürtige Amerikanerin pendelt zwischen den Südstaaten und Neapel und schreibt auf ihrer Website: "I speak Italian with a hint of Florentine in it". Die Autorin promovierte an der Georgetown University in Theoretischer Linguistik und forschte über Sprache und Sprachwandel. Ihre Dissertation trug den Titel: "Consonant Weakening in Florentine Italian: an acoustic study of gradient and variable sound change" (2006). Weiterhin forschte sie an der City University London über den Erwerb, die Produktion und die Wahrnehmung von /r/-Lauten im "Standard South British English".
Außerdem gab die Linguistin Kurse in Phonetik, Phonologie und Italienisch an der George Mason University sowie artikulatorische und akustische Phonetik an der University of London (Queen Mary) und Rhetorik-Kurse an einer technischen Universität in Abu-Dhabi.
Zum Verfassen von VOX wurde Christina Dalcher durch den Aufruf von Joanne Merriam von Upper Rubber Boot Books inspiriert, in dem diese dazu aufforderte, Beiträge für die Anthologie "Broad Knowledge: 35 Women Up to No Good" einzusenden.
Weitere Informationen zu Christina Dalcher unter:
www.christinadalcher.com
www.facebook.com/CVDalcher
www.twitter.com/CVDalcher
Zu den Übersetzerinnen: Susanne Aeckerle ist Mitbegründerin des ersten deutschen Frauenbuchladens in München und ehemalige Redakteurin und CvD der Zeitschrift Emma. Seit 1991 arbeitet sie als literarische Übersetzerin und freie Lektorin. Marion Balkenhol ist freiberufliche Übersetzerin aus dem Englischen, u.a. von Marion Zimmer Bradley, Paul Harding, Jojo Moyes und J.K. Rowling.
Christina Dalcher
VOX
Originaltitel: Vox
Aus dem amerikanischen Englisch von Susanne Aeckerle und Marion Balkenhol
S. Fischer Verlag, VÖ: 15. August 2018
Hardcover, 400 Seiten
Mehr zum Buch unter: www.fischerverlage.de
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