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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 15.10.2014


Ayse-Gül Yilmaz und Judith Tarazi
A. Yildirim, J.Tarazi

Beide Frauen arbeiten im sozialen Bereich. Viel mehr wussten sie nicht übereinander, als sie sich in der AVIVA-Redaktion trafen. "Du bist erst die zweite Jüdin, mit der ich bewusst spreche" ...




..., fiel Ayse-Gül auf. Im Gespräch fanden sich viel Gemeinsamkeiten, aber auch Unterschiede.

Warum soziale Arbeit? – Wege zum Beruf

Judith Tarazi:
Ich weiß noch gar nicht so viel über dich, außer, dass du mit Jugendlichen arbeitest.

Ayse-Gül Yilmaz:
Ich habe an der TU Berlin studiert, Erziehungswissenschaften und als Nebenfächer Deutsch als Fremdsprache und Soziologie. Nach dem Abschluss habe ich theaterpädagogisch im Frauengefängnis gearbeitet, wir haben "Die Nibelungen" im Saalbau Neukölln aufgeführt. Dann habe ich in Kindergärten gearbeitet, aber das war nicht so mein Fall (lacht). Ich habe viel mit schuldistanzierten Kindern gearbeitet, Erwachsenenpädagogik habe ich auch gemacht, aber ich habe gemerkt, dass ich lieber mit Jugendlichen arbeite.

Judith Tarazi:
Das ist interessant, weil dein Studium ja eher theoretisch war – es klingt, als hättest du dich direkt in die praktische Arbeit gestürzt.

Ayse-Gül Yilmaz:
Genau. Eigentlich wollte ich Sozialpädagogik studieren, aber mein NC hat nicht gereicht – ich hätte fast sechs Wartesemester gehabt.
Wenn das Vorstellungsgespräch gut läuft, beginne ich im Februar mit der Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin – also gehe ich weiter in die Praxisrichtung. Ich habe auch früher schon überlegt, Psychologie zu studieren, habe das aber wegen des NC nicht gemacht.

Judith Tarazi:
Wir haben einige Gemeinsamkeiten (lacht). Ich konnte mich nie zwischen Kunst und Psychologie entscheiden. Mein Abi war aber völlig unterirdisch. Und dann habe ich Erziehungswissenschaften studiert und Psychologie im Nebenfach. Aber das war mir zu theoretisch. Ich bin nicht so der wissenschaftliche Typ. Also hab ich irgendwann aufgehört und Grafikdesign gelernt. Später habe ich das kombiniert: Ich habe lange als Grafikerin gearbeitet und dann eine Ausbildung zur Kunsttherapeutin gemacht, und in dem Beruf arbeite ich jetzt auch. Ich arbeite mit behinderten Menschen.

Ayse-Gül Yilmaz:
Ich betreue auch einen Jungen mit Down-Syndrom.

Der Umgang mit Behinderung in verschiedenen Kulturen

Judith Tarazi:
Ich leite ein Atelier, eine künstlerische Tagesbetreuung der ZWST (Zentrale Wohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland). Das ist die jüdische Wohlfahrtsorganisation, wie das Rote Kreuz oder der Paritätische Wohlfahrtsdienst. Das Projekt ist relativ neu, weil der größte Anteil der Mitglieder der jüdischen Gemeinde ja erst Mitte der Neunziger nach Deutschland gekommen ist. Die meisten kommen aus der ehemaligen Sowjetunion. Wie in allen Gruppen gibt es da natürlich auch behinderte Menschen, und die ZWST hat ganz vorsichtig angefangen, sich darum zu kümmern. Das ist ein besonders schwieriges Feld, weil der Umgang mit Behinderung in der Sowjetunion sehr speziell war, noch mal anders als hier. In der Sowjetunion gab es nie Euthanasieprogramme, aber es gab diese starke Trennung. Überhaupt keine Integration, sondern eine absolute Abspaltung von Behinderten und Nichtbehinderten.

Ayse-Gül Yilmaz:
Radikale Exklusion sozusagen.

Judith Tarazi:
Absolut. Viele Menschen haben Anfang der Neunziger überhaupt zum ersten Mal Behinderte gesehen, weil sie im Straßenbild einfach überhaupt nicht präsent gewesen sind. Sie kamen in Heime, wurden untergebracht...

Ayse-Gül Yilmaz:
Ist die Zielgruppe religiös homogen? Nur damit ich den Kontext verstehe.

Judith Tarazi:
Die Leute, die ich betreue, sind jüdisch, fast alle aus der ehemaligen Sowjetunion, und es sind Erwachsene, von 21 oder 22 bis 70. Es sind ungefähr 15 Leute, die mehr oder weniger regelmäßig kommen. Es ist insofern besonders schwierig, weil die meisten zwar erwachsen sind, aber mit ihren hochbetagten Eltern zusammenleben. Oft ist nur noch ein Elternteil da, meistens die Mutter, das sind oft sehr symbiotische Verhältnisse. Das heißt, man muss auch ganz viel Angehörigenarbeit leisten. Das ist die Lebensaufgabe gewesen, und sie haben oft schon mehrere Stationen durchlaufen, waren in Israel, sind hierhergekommen, und das schweißt natürlich zusammen.
Und dann kommen sie hierher, in ein völlig anderes Umfeld, voller Ängste, eine fremde Sprache, ein fremdes Land. Es hat ewig gedauert, Vertrauen aufzubauen, um die Leute zu ermutigen zu sagen: "Ja, ich habe ein behindertes Kind." Bei vielen ist es nach wie vor der Fall, dass sie das leugnen, dass sie sagen: "Alles in Ordnung".

Ayse-Gül Yilmaz:
Das ist in der türkischen Kultur manchmal auch so. Manchmal wird es versteckt. Ich habe ein paar Mal mitbekommen, dass es komplett ignoriert wurde, auch wenn Leute die Mutter, den Vater ansprechen: "Da stimmt etwas nicht." Ich kannte einen Jungen, der schizophren wurde. Er hörte Stimmen, und die Eltern sagten: "Ach Quatsch, da ist nichts." Das wurde extrem, als er den Nachbarn mit einem Messer angefallen hat. Er sagte, das haben ihm die Stimmen gesagt. Und dann konnte man nicht mehr weggucken, denn dann sind auch die Behörden plötzlich da. Dann kann man das Kind nicht mehr verstecken. Aber die Mütter halten oft stark an den Kindern fest: "Ich muss mich kümmern, es gibt so viele böse Menschen." Und wenn man sagt, es gibt Sozialarbeiter: "Es gibt so viele Missbrauchsfälle.

Judith Tarazi:
Das höre ich auch oft.

Ayse-Gül Yilmaz:
Bei dem Kind mit Down-Syndrom ist es auch so: Die Mutter ist alleinerziehend, und sie vertraut ihn weder den Lehrern an, noch den Sozialarbeitern. Sie ist permanent mit dem Kind zusammen, was ihm überhaupt nicht guttut. Sie sagt, dass sie niemandem vertraut. Und es hat auch mit Schamgefühl zu tun: Weil das Hungergefühl und der Sexualtrieb bei ihm verstärkt sind, schämt sie sich.

Judith Tarazi:
Meinst du denn, dass dieses mangelnde Vertrauen kulturell bedingt ist, dass es Leute gäbe, denen sie mehr vertrauen könnten? Sagen wir mal, es gäbe jetzt ein betreutes Wohnen für Muslime, wo auf bestimmte Dinge geachtet wird und wo man sich kulturell verstanden fühlt. Meinst du, da würde es Zulauf geben?

Ayse-Gül Yilmaz:
Ich denke schon, aber leider wird zu wenig angeboten und zu wenig thematisiert. Erst seit kurzem beschäftigen sich Muslime mit dem Thema und immer mehr Vereine bieten etwas an, aber trotzdem gibt es wenige, die diese Angebote annehmen.
Bei den Türken gibt es einen bestimmten Ausdruck, der in vielen Familien benutzt wird, das ist das Wort "ayip" – unverschämt. Wenn ich ein Kind mit Down-Syndrom habe, das ständig Fäkalwörter benutzt, ist es ayip, etwas, das sich nicht gehört.

Judith Tarazi:
Darüber machen wir uns gerade sehr viel Gedanken: Wir hätten gern ein jüdisches betreutes Wohnen, wo es ein kulturelles Umfeld gibt, in dem sich die Leute wohlfühlen. Deswegen habe ich gefragt, ob es so etwas für Muslime gibt. Es muss doch einen Bedarf geben.

Ayse-Gül Yilmaz:
Ich weiß aus meinem Umfeld, dass erst seit ein paar Jahren die Eltern ins Altersheim gegeben werden. Das ist eine neue Entwicklung. Egal, wie überfordert man mit den Eltern ist, man hat auf sie aufgepasst. Man führte einen Mehrgenerationenhaushalt. Ich glaube, dass vieles nicht religiös bedingt ist, sondern kulturell –eher ein sozialer Druck.

Behinderung und Sexualität

Ayse-Gül Yilmaz:
Ich habe mich mal auf dem Spielplatz mit einem älteren Mann unterhalten, der auf dem Stand eines Kindes war, und ich habe zu ihm gesagt: "Du wirst auch einmal deine große Liebe treffen." Seine Schwester, die ihn betreut hat, sagte zu mir: "Warum sagst du so etwas? Der wird nie heiraten." Und er hat gesagt: "Aber ich will doch so gerne!" Mit welchem Recht nimmst du ihm das weg? Vielleicht weiß er ja auch: "Ich werde nie eine Frau haben". Aber die Illusion ist da. "Irgendwann wird sich eine in mich verlieben..." Das ist eine Bevormundung.

Judith Tarazi:
Das sind ganz heikle Themen. Zu akzeptieren, dass jeder Mensch diese Bedürfnisse hat, ob mit oder ohne Behinderung, das ist bei uns im Atelier ein großes Thema: Partnerschaft und Sexualität, Verlieben, Kinder haben oder nicht.

Ayse-Gül Yilmaz:
Ich habe von einem Fall in Amerika gelesen, wo eine Mutter ihre Tochter sterilisieren lassen wollte, weil sie sexuell so aktiv war und sie Angst hatte, sie würde behinderte Kinder bekommen.

Judith Tarazi:
Die fortschrittlichen Eltern, die ich kenne, regeln das eher so, dass sie ihrer Tochter dann die Pille geben. Man muss leider sagen, dass viele Frauen in den Institutionen Missbrauchserfahrungen machen. Nicht unbedingt mit Betreuern, aber mit anderen Behinderten. Das kann man nicht immer verhindern. Und dann ist es gut zu sagen: Wir geben unserer Tochter die Pille. Das finde ich vernünftig. Aber für die meisten unserer sowjetischen Eltern kommt das gar nicht in Frage. Darüber wird nicht gesprochen. Wenn du dir die Niederlande ansiehst oder Kanada, da gibt es andere Möglichkeiten für Behinderte, freier zu leben, eine Familie zu haben oder zumindest ihre Sexualität auszuleben. Es gibt ja auch Prostituierte speziell für Behinderte.
Egal, wie man zu Prostitution steht, in dem Fall ist es ja schon fast Sozialarbeit. Aber die Angehörigen sind zum Teil 80, 90 Jahre alt, und ich habe Verständnis dafür, wenn man sich nicht mehr in jedem Lebensalter völlig verändert.

Familie und Erziehung



Ayse-Gül Yilmaz:
Als Pädagogin achtet man oft zu wenig auf sich, gibt mehr, als man sollte. Ich merke jetzt, dass ich in manchen Situationen viel gelassener reagiere als früher, aber das musste ich erst lernen.

Ich denke, vieles ist in der Kindheit begründet. Wir alle hatten eine mehr oder weniger "schlimme" Kindheit. Immer mehr Jugendliche leiden an Migräne, es ist keine Ü30-Krankheit mehr. Anscheinend ist der Druck enorm, sei es Schule oder Familie. Meinen Eltern lag die Bildung der Kinder sehr am Herzen und deshalb haben sie versucht uns von Stress fern zu halten.

Judith Tarazi:
Und wie fanden das deine Eltern, dass ihre Töchter so erfolgreich im Beruf sind?

Ayse-Gül Yilmaz:
Meine Eltern haben uns sehr liberal aufgezogen und sind denke ich stolz auf uns. Sie waren und sind gute Vorbilder, sie haben immer versucht uns gute Vorbilder zu sein, egal welche Lebensphasen sie durchmachten.

Religion und Erziehung

Judith Tarazi:
Im Jüdischen wird das Judentum nur über die Frau weitergegeben. Du bist Jüdin, wenn du eine jüdische Mutter hast oder wenn du konvertierst. Wenn du nur einen jüdischen Vater hast, bist du nach der Halacha, dem jüdischen Gesetz, nicht jüdisch. Das ist ein Problem für manche Leute aus der ehemaligen Sowjetunion. Sie haben einen jüdischen Vater, wurden als Juden behandelt, hatten Probleme, werden aber hier in den Gemeinden nicht als jüdisch akzeptiert. Oft wird es ihnen dann leichter gemacht zu konvertieren, und es gibt Gruppen, die sagen, wir akzeptieren auch Vaterjuden.

Ayse-Gül Yilmaz:
Im Islam sagt man, dass jeder als Moslem auf die Welt kommen kann. Sobald das Kind vernünftig denken kann, kann es sich entscheiden. Eigentlich kommt man als weißes Blatt auf die Welt. Ich bin ja religiös aufgewachsen, es ist vorgelebt worden. Das Problem bei Konvertiten ist, dass sie alles ganz genau haben wollen, die sehen nur noch schwarz und weiß und nichts mehr grau.

Für mich persönlich finde ich es anstrengend, mit einem nichtmuslimischen Mann zusammen zu leben. Meistens sind die Kinder dann – je nach dem Engagement der Eltern – zweigeteilt, und meistens sind sie dann am Ende Atheisten. Oder man wählt die Religion, die leichter auszuüben ist. Es wäre komisch, wenn ich plötzlich Weihnachten feiern müsste.

Judith Tarazi:
Ich glaube auch, das wird oft unterschätzt. Sobald dir die Religion etwas bedeutet, wird es schwierig. Wenn man sagt, ich mache das nur aus Tradition, dann kann man es auch vermischen.
Tragen deine Schwestern eigentlich auch alle Kopftuch?

Ayse-Gül Yilmaz:
Ja.

Judith Tarazi:
Solltet ihr das oder habt ihr euch selber irgendwann dafür entschieden?

Ayse-Gül Yilmaz:
Ehrlich gesagt wurde es nie thematisiert. Als Kind haben wir natürlich alle keins getragen. Aber generell tragen die meisten ab der siebten Klasse eins, weil da der Schulwechsel ist. Meine Eltern haben nicht gesagt: "Jetzt trägst du ein Kopftuch", aber es war einfach so: Nach dem Schulwechsel trage ich ein Kopftuch. Meine drei Nichten tragen alle keins. Eine Nichte hat es probiert und kam mit der gesellschaftlichen Marginalisierung nicht klar, sie hat mitbekommen, wie die Mädchen gehänselt wurden. Ich wurde auch in der Schule gehänselt, habe Arbeitsstellen deshalb nicht bekommen. Aber das ist eine Frage des Charakters. Ich habe keinen Grund gefunden es abzunehmen.
Gerade im pädagogischen Bereich finde ich es widersprüchlich, den Menschen nicht so zu akzeptieren, wie er ist. Ich kann nicht einem Kind sagen: "Du bist gut so wie du bist", und dann sieht es mich auf der Straße mit Kopftuch und an der Arbeitsstelle ohne.
Und du lebst deinen Glauben gar nicht aus?

Judith Tarazi:
Na doch, die Kinder sind auf der jüdischen Schule – ich lebe nicht religiös, aber ich richte mich schon danach, beachte die Feiertage. Die jüdischen Feiertage fangen immer einen Tag vorher an. Sobald die Sonne untergeht, werden die Kerzen angezündet. Das sind einfach wunderschöne Rituale.

Ayse-Gül Yilmaz:
Das ist interessant. Bei uns ist es das Freitagsgebet, bei den Juden ist es der Samstag und bei den Christen der Sonntag. Ich habe mal gelesen: Es ist alles das Gleiche, nur ein Hauch von Unterschied. Der Weg ist anders, das Ziel ist das Gleiche.



Biografien



Ayse-Gül Yilmaz
ist Erziehungswissenschaftlerin. Sie hat mit Kindern und mit Frauen gearbeitet (u.a. in einer JVA und in einem interkulturellen Frauenprojekt) und beginnt demnächst eine Ausbildung zur Kinder- und Jugendpsychotherapeutin. Sie ist 32 Jahre alt.



Judith Tarazi ist Grafikdesignerin und Kunsttherapeutin. Sie leitet das Kunstatelier Omanut, ein künstlerisch orientiertes Projekt für Menschen mit geistiger Behinderung und psychischen Erkrankungen. Ihre eigene Arbeit ist unter www.tarazidesign.de zu finden.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Interview mit Judith Tarazi auf AVIVA Berlin

Dieser Beitrag wurde von den Autorinnen am Dienstag, 14. April 2014 im Rathaus Charlottenburg präsentiert.

Außerdem sprachen unsere Schirmfrauen des Projektes, die Senatorin für Arbeit, Integration und Frauen Dilek Kolat, sowie die Gleichstellungsbeauftragte Carolina Böhm, sowie die Initiatorinnen Sharon Adler und Claire Horst





"Lokale Geschichte(n) Charlottenburg-Wilmersdorf" wurde gefördert durch:




Copyright Fotos von Ayse-Gül Yilmaz und Judith Tarazi: Sharon Adler





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Beitrag vom 15.10.2014

AVIVA-Redaktion