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Beitrag vom 01.03.2007
Julia von Heinz und Marie Luise Schramm im Interview
Tatjana Zilg
„Was am Ende zählt“ – Die Geschichte von zwei 15jährigen Mädchen, die eine ungewöhnliche Lösung für eine nicht gewollte Schwangerschaft finden, feierte auf der 57. Berlinale Premiere.
Die 15 jährige Carla (Paula Kalenberg) will ihr Leben verändern: Um dem problembeladenen Alltag zu Hause zu entfliehen, packt sie ihre Sachen und Geld zusammen. Sie möchte nach Lyon und dort Mode studieren. Sie kommt nicht weit, denn sie wird am Bahnhof bestohlen. In der gleichen Stadt tritt sie in eine für sie völlig neue Welt ein: Auf einer Baustelle arbeitet sie illegal mit anderen Jugendlichen an dem Ausbau eines Schiffes zu einem Restaurant. Sie begegnet der gleichaltrigen Lucie (Marie Luise Schramm), die schon lange auf der Straße lebt, nachdem sie von einem Jugendheim zum anderen geschickt wurde. Nur zwei Erwachsene spielen in dem Leben der beiden Mädchen noch eine Rolle: Der zukünftige Restaurant-Chef Rico, der sich mit allen möglichen illegalen Geschäften sein Geld verdient, und der Sozialarbeiter Dietmar, der die Straßenkinder betreut.
Carla ist schockiert, als sie einige Wochen später merkt, dass sie schwanger ist. Für sie ist klar, dass sie gerade jetzt kein Baby möchte. Von ihrem Lohn hat sie genug gespart, um endlich nach Lyon zu reisen.
Lucie, die sich sehnlichst wünscht, dass Carla bleibt, schlägt ihr einen Pakt vor: „Du bekommst das Kind unter meinem Namen, ich nehme es dann.“ Was als Notwendigkeit begann, entwickelt sich zu einer intensiven Freundschaft, die vor einige Proben gestellt wird.
AVIVA-Berlin traf während der 57. Berlinale die Regisseurin Julia von Heinz und die Schauspielerin Marie Luise Schramm zu einem Gespräch über den Spielfilm, der in der Perspektive Deutsches Kino gezeigt wurde.
AVIVA-Berlin: Wie ist die Idee zur Geschichte von Lucie und Carla entstanden? Gab es einen ähnlichen Fall in der Realität?
Julia von Heinz: Es gab einen Fall in Köln, wo zwei Mädchen ein Kind hatten und es tragisch endete. Sie hatten einen Streit, das Kind kam dabei sogar um.
Die hatten allerdings nicht die Sache mit diesem Tausch, der für unseren Film ja ganz wesentlich ist. Aber sie wohnten vor der Geburt schon lange Zeit zusammen. Es gab eine sehr enge Bindung zwischen ihnen, so dass nie ganz klar war, wem gehört dieses Kind jetzt. Ich hatte mit Marie Luise Schramm auch schon vor drei Jahren einen Kurzfilm darüber gemacht.
Ich kenne diese beiden Mädchen aber nicht. Es ist einfach eine Geschichte, die ich gehört habe und die etwas in mir ausgelöst hat.
AVIVA-Berlin: Der Kurzfilm „Lucie & Vera“ wurde mehrfach ausgezeichnet. Würden Sie kurz den Inhalt beschreiben?
Julia von Heinz: Das ist genau die gleiche Geschichte.
Wir haben ihn damals in der Hoffnung gedreht, später einen Langfilm über dieselbe Geschichte drehen zu können. Klar, es war auch ein eigenständiges Produkt, aber mit der Hoffnung dahinter, Finanziers für die Produktion eines Langfilmes überzeugen zu können.
AVIVA-Berlin: Haben Sie auch direkt im Milieu recherchiert? Mit Straßenkindern gesprochen?
Marie Luise Schramm: Nein, ich war ja in dem Thema durch den Kurzfilm schon drinnen.
Julia von Heinz: Ich glaube, wir beide haben Zugang zu den Personen, ohne dass wir irgendwohin gehen müssen, um zu schauen, wie reden sie, was fühlen sie. Ich hatte nicht das Gefühl eine klassische Recherche unter Straßenkindern machen zu müssen. Ich kann jedes der beiden Mädchen gut verstehen. Die eine, die nur ihre Freiheit will, sich an niemanden mehr binden möchte und die andere, die das Gegenteil möchte und gerne eine Familie hätte, Leute um sich schart, um sich sicher zu fühlen.
AVIVA-Berlin: Haben Sie denn Autobiographisches und eigene Lebenserfahrungen einfließen lassen können?
Julia von Heinz: Ja, durchaus. Ich habe immer das Gefühl in der Lucie-Figur ein Stück weit drinnen zu stecken. In sie kann ich mich besonders gut reinfühlen.
AVIVA-Berlin: Wie lange hat der Entstehungsprozess gedauert?
Julia von Heinz: Ich habe drei Jahre lang daran geschrieben, was auch damit zusammenhängt, dass man immer neue Förderanträge stellen muss. Diese werden oft abgelehnt, man schreibt sie um, weil man neue Impulse bekommen hat, dann schreibt man wieder um. Das hängt einfach total viel mit den Entscheidungsträgern zusammen. Man verändert seine Story immer wieder, bis man sagt, so, jetzt ist Schluss. Das entspricht jetzt der Geschichte, die ich machen will. Wir hatten dann zwar auch nicht viel Geld für die Umsetzung zur Verfügung, aber das Gefühl: Das ist die Geschichte, so soll sie bleiben.
AVIVA-Berlin: Wie haben Sie zu Ihren SchauspielerInnen gefunden? Hatten Sie von Anfang an bestimmte SchauspielerInnen im Kopf oder haben Sie ein klassisches Casting durchgeführt?
Julia von Heinz: Daniela Knapp, die Kamerafrau, hatte mit Marie Luise Schramm schon gedreht. Sie hat sie mir für den Kurzfilm vorgestellt.
AVIVA-Berlin: Wie kamen die anderen SchauspielerInnen dann hinzu?
Marie Luise Schramm: Paula Kalenberg ist mir beim Lesen des Skriptes sofort eingefallen. Wir kannten uns schon, wir haben zusammen einen „Tatort“ gedreht.
Julia von Heinz: Ja, Marie hat sie mir empfohlen. Und dann kam auch von meiner Casterin derselbe Vorschlag. Als ich sie dann selbst kennengelernt habe, war es sofort klar, dass sie die richtige für die Rolle der Carla ist.
AVIVA-Berlin: Frau Schramm, Sie haben ja auch in „Komm näher“ mitgespielt, der bei der Berlinale 2006 gezeigt wurde und den Vanessa Jopp mit einer Improvisation-orientierten Vorgehensweise umsetzte. Wie war die Vorgehensweise im Vergleich zu „Was am Ende zählt“?
Marie Luise Schramm: In „Komm Näher“ war es ja ganz anders. Wir Schauspieler hatten kein Drehbuch in dem Sinne. Wir wurden ins kalte Wasser geschubst. Vor jeder Szene hat uns die Regisseurin Vanessa Jopp gesagt: „Pass auf, das ist der Bogen, da wollen wir hin, mach mal.“ Bei „Was am Ende zählt“ gab es ein komplettes Drehbuch mit Dialogen. Klar, beim Drehen hat sich das dann immer auch noch anderes ergeben. Wir haben schon öfters gesagt: „Hey, wir machen das jetzt auch mal anders, probieren was anderes aus.“ Aber im Grunde waren das zwei ganz verschiedene Arbeitsweisen.
AVIVA-Berlin: Wo würden Sie aus der Perspektive einer Schauspielerin die Vor- und Nachteile bei den unterschiedlichen Vorgehensweisen sehen?
Marie Luise Schramm: Der Vorteil, wenn man ein Drehbuch hat, ist ganz klar: Man weiß, wo es in etwa hingeht. Man hat ein Zielfenster vor Augen. Wenn man dagegen alles improvisiert und gar nichts weiß, hat das natürlich auch etwas. Ich könnte jetzt gar nicht sagen, was ich besser finde.
AVIVA-Berlin: Hatten Sie denn schnell einen Zugang zu der Rolle von der Lucie gefunden? Zu ihrem Leben als Straßenkind?
Marie Luise Schramm: Ja, auf jeden Fall. Ich glaube, diese Suche nach Familie, Geborgenheit und Sich-Fallen-Lassen-Können kennt jeder.
Ich fand es nicht schwer, das zu verstehen.
Ein Straßenkind war ich selbst nie, ich bin sehr behütet aufgewachsen. Aber ich war schon in allen möglichen Milieus unterwegs, habe viel gesehen und miterlebt.
AVIVA-Berlin: Die Coming Out Geschichte zwischen Lucie und Carla gerät leider etwas kurz. Warum haben Sie ihr im Film nicht mehr Raum gegeben?
Es gibt ja leider immer noch viel weniger Filme mit lesbischen Paaren als mit männlichen Homosexuellen, die sogar im Mainstream-Kino einen immer größeren Platz finden.
Julia von Heinz: Ich hätte die Liebesgeschichte ungern unter den Namen gezeigt: „Da sind zwei Mädchen und die haben ihr Coming Out.“
Es sind zwei Menschen, die sich gefunden haben und ein gutes Stück Strecke miteinander zurücklegen können. Ich wollte es nicht hervorheben, dass es zwei Frauen sind. Das sind einfach die beiden, da ist mehr als Freundschaft, aber es ist keine Beziehung in dem Sinne.
Marie Luise Schramm: Ich finde es eigentlich ganz schön, dass es im Film nicht so betont wird, dass sie ein Paar sind oder irgendwann eins werden. So kann sich am Ende jeder seine Geschichte weiterspinnen. Manche denken vielleicht, okay, die bleiben jetzt noch 5 Jahre zusammen und dann geht Carla eine Beziehung mit einem Mann ein, andere denken, sie bleiben zusammen und gehen so gemeinsam ihren Weg.
Julia von Heinz: Ich würde dennoch sagen, dass es von Anfang an eine Liebesgeschichte ist. Wenn Lucie das Buch findet, verliebt sie sich in Carla und ihre Welt.
Aber es stimmt schon, dass es nicht viele Filme über lesbische Paare gibt. Wir freuen uns auch, dass unser Film auf die Queer List gekommen ist. Und es wäre sehr schön, wenn der Film eine Lanze dafür bricht, dass zwei Frauen genauso gut miteinander ein Kind aufziehen können wie andere Paare.
AVIVA-Berlin: Frau Schramm, fiel es Ihnen denn leicht, eine jugendliche Mutter zu spielen?
Marie Luise Schramm: Ich bin sehr vernarrt in Kinder, habe viele Patenkinder. Also, wenn ich Babies sehe, würde ich sie immer am liebsten gleich mit nach Hause nehmen.
Das Handeln von Lucie fand ich sehr verständlich. An diesem Kind hängt all ihre Harmonie, die Welt, die sie sich immer gewünscht hat. Als das anfängt zu bröckeln, ist es doch ganz klar, dass sie sagt, das ist mein Kind. Das gebe ich nicht her - ich gebe nicht das her, was mich glücklich macht.
AVIVA-Berlin: Sie spielen meist rebellische Jugendliche, wie schon in „Komm näher“ oder „Bin ich sexy?“ - Liegt da nicht eine Gefahr, zu sehr auf einen bestimmten Rollentyp festgeschrieben zu werden?
Marie Luise Schramm: Nein, das würde ich nicht so sagen. Zum einen hatte ich ja auch andere Rollen, wo ich nicht immer so der Rebell war.
Was mich aber sehr reizen würde, wäre mal eine richtige Psychopathin zu spielen. Nach wie vor ist aber mein größter Wunsch bei einem Fußballfilm mitzumachen.
AVIVA-Berlin: Frau von Heinz, gibt es ein Traumprojekt, dass Sie irgendwann gerne einmal realisieren würden?
Julia von Heinz: Ja, ich arbeite im Moment an einem neuen Drehbuch. Es geht um die militante Antifa-Bewegung, in der ich früher war. Um zwei Personen, die in dieser Gruppe sind und über die Stränge schlagen Das beschäftigt mich im Moment. Ich hoffe, es als nächstes realisieren zu können.
AVIVA-Berlin: Auch etwas mehr Rebellisches also?
Julia von Heinz: Ja, da habe ich eine hohe Affinität zu. Ich mag das auch an den beiden Figuren, dass sie sich jenseits von den Konventionen bewegen. Nicht abgesichert sind von der Gesellschaft, aber deshalb auch keine Regeln befolgen müssen, mit aller Kraft dagegen halten und etwas ganz Eigenes machen. Ich mag so Leute lieber, als welche die sich eingliedern und vielleicht daran zerbrechen. Charaktere, die Regeln nie grundsätzlich akzeptieren, sondern sie hinterfragen.
AVIVA-Berlin: Gab es besonders schwierige Szenen in „Was am Ende zählt“?
Julia von Heinz: Ich hatte zwei Szenen, wo ich dachte, sie sind eine hohe Herausforderung. Das war zum einen die Geburt, die Paula Kalenberg dann ganz toll gespielt hat. Bei der Kuss-Szene war ich auch zuvor ziemlich aufgeregt, wobei es dann gar nicht so schwierig war.
Marie Luise Schramm: Das ist einfach geflossen. Da muss ich aber dazu sagen, dass Paula Kalenberg und ich uns nun schon sehr lange kennen und wir mittlerweile sehr gute Freundinnen sind.
Julia von Heinz: Die Szene gefällt mir jetzt auch sehr gut, es ist eine sehr schöne Szene geworden. Insgesamt war für mich der ganze Film aber eine sehr anstrengende Arbeit. Ich habe ihn in einem halben Jahr von A bis Z durchgepowert, was sehr kurz ist für einen Kinofilm.
AVIVA-Berlin: Wie sind denn die Pläne für einen Kinostart?
Julia von Heinz: Da er eine Koproduktion von WDR und ARTE ist, wird er eh im Fernsehen laufen. Wir hoffen vorher einen Verleih zu finden, und es sieht gut aus: Der Film kommt sehr gut an, wir haben sehr positive Reaktionen. Wahrscheinlich kommt er im Herbst 2007 in die Kinos.
AVIVA-Berlin: Frau von Heinz, Sie haben in einer Ausbildung zur Mediengestalterin zuerst mehr die technische Seite des Filmemachens gelernt. Sehen Sie es als großen Vorteil, auch eine technische, fachbezogene Ausbildung zu haben?
Julia von Heinz: Nun, ich hatte zuvor gar keinen Zugang zu technischen Sachen und musste mir das ganz mühsam erarbeiten. Mein Zugang zu Geschichten dagegen war schon immer da. Der fällt mir ganz leicht. Für mich war es sehr mühsam schneiden zu lernen. Das andere ist mir schon viel eher zugefallen. Deswegen wäre es für mich nicht so sinnvoll gewesen, in erster Linie Drehbuch zu studieren.
AVIVA-Berlin: Frau Schramm, Sie haben ja sehr jung mit der Schauspielerei begonnen. Werden Sie dem Film treu bleiben oder denken Sie manchmal daran, ein Studium zu beginnen?
Marie Luise Schramm: Ich lebe meinen Traum und solange dieser Traum noch real ist, ist es für mich wunderbar. Wenn das ein Ende haben sollte, müsste ich erstmal lange überlegen, was mir da einfällt.
AVIVA-Berlin: Werden Sie sich auf der Berlinale selbst viele Filme anschauen? Auf welche freuen Sie sich besonders?
Julia von Heinz: Ja, ich habe vor, sehr viele Filme zu sehen. Was mir jetzt so als Erstes ins Auge gesprungen ist, ist das Plakat für den Film über Simon Wiesenthal, der ein Held für mich ist und eine sehr interessante Persönlichkeit.
Marie Luise Schramm: Ich muss gestehen, dass ich Im-Kino-Sitzen ganz furchtbar finde. Ich schaue sehr gerne Filme, aber lieber bei mir zu Hause.
AVIVA-Berlin: Zum Abschluss noch die Frage, was ist für Sie das Wichtigste in einer Freundschaft? Was ist es, was für Sie am Ende zählt?
Marie Luise Schramm: Dass man in den Situationen, wo es wirklich darauf ankommt, füreinander da ist. Und für mich ist es ganz wichtig, dass ich jeden Tag, bevor ich ins Bett gehe, in den Spiegel schauen kann und sagen kann: Okay, das war ich. - Das ist für mich unheimlich wichtig.
Julia von Heinz: Bei mir ist es ähnlich. Das Zusammenstehen finde ich ganz wichtig. Das wollte ich auch letztlich sagen mit dem Filmtitel, dass diese beiden Mädchen gegen alle Widrigkeiten zusammenstehen. Das ist es, was zählt – Verantwortung zu übernehmen. Ich habe selbst ein schwieriges Familienmodell. Ich bin berufstätig, viel unterwegs und habe zwei Kinder. Mein Mann entlastet mich da oft ganz viel. Das ist nicht immer leicht, aber was zählt, ist, dass man so einen Weg dann trotzdem immer zusammen weitergeht. Da sind die beiden Mädchen für mich auch so eine Art Vorbild: Die packen das. Denen traue ich das zu, diesen Weg weiterzugehen.
AVIVA-Berlin: Vielen Dank für das Interview!
Weitere Infos zu „Was am Ende zählt“: www.credofilm.de