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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 28.06.2008


Interview mit Prof. Dr. Rita Süssmuth, Präsidentin des Deutschen Bundestages a.D.
Yvonne de Andrés

AVIVA-Berlin sprach mit Prof. Dr. Rita Süssmuth im Rahmen der World Women Work 2008 über die Herausforderungen in einer Multi-Polaren-Welt, Diversity und Frauen in der Politik.




Prof. Dr. Rita Süssmuth ist 1937 in Wuppertal geboren, von 1971 bis 1985 war sie im akademischen Bereich als Professorin für Erziehungswissenschaft an der PH Ruhr, an der Universität Dortmund und als Direktorin des Instituts Frau und Gesellschaft in Hannover tätig. Von 1985 bis 1988 Bundesministerin für Jugend, Familie und Gesundheit (ab 1986 Jugend, Familie, Frauen und Gesundheit) und von 1988 bis 1998 Präsidentin des Deutschen Bundestages. Im September 2000 wurde sie vom Otto Schily (Minister des Innern) zur Vorsitzenden der Unabhängigen Kommission "Zuwanderung" berufen. Aufgabe war es, ein neues Ausländerrecht zu erarbeiten. Der Bericht Zuwanderung gestalten - Integration fördern wurde im Juli 2001 vorgestellt. Im September 2005 wurde Rita Süssmuth zur neuen Präsidentin Berliner OTA Privathochschule berufen.


AVIVA-Berlin: Wie bewerten Sie die Veränderungen und Herausforderungen in einer Multi-Polaren-Welt? Bedeutet das grundsätzlich mehr Chancen oder sind unter Umständen auch Risiken damit verbunden?
Prof. Dr. Rita Süssmuth: Es gibt kaum einen Bereich, wo nicht mit den Chancen auch Risiken verbunden wären. Dies sind zunächst einmal Tatbestände, denen wir nicht mehr ausweichen können. Ob wir uns das wünschen oder nicht wünschen, die Globalisierung steht nicht vor uns sondern ist bereits eine Realität. Sie ist auch mehr als nur eine Globalisierung der Arbeitswelt. Es geht um eine weltweite Vernetzung, wie wir das in den Vereinten Nationen nennen, es ist Leben in einer interconnected-world. Das heißt, in einer Welt, in der die verschiedenen Erdteile und Regionen der Welt multipolar untereinander und miteinander verbunden sind. Das birgt Chancen. Aber ich denke, dass in vielen europäischen Ländern die Chancen oft überhaupt nicht gesehen werden, sondern nur die Bedrängnisse und die Risiken wie etwa "Ich verliere meinen Arbeitsplatz", "Andere produzieren billiger" oder "Von mir wird immer mehr Mobilität und Flexibilität verlangt". Ein wichtiger Komplex wird auch sein, wie die Frauen in die Globalisierung eingebunden werden.

AVIVA-Berlin: Die Bevölkerung wird in Deutschland immer vielfältiger: Die Zuwanderung und das Zusammenleben ethnisch-kulturell unterschiedlich geprägter Menschen, die Etablierung unterschiedlicher Lebensformen und nicht zuletzt die Veränderung der Alterszusammensetzung durch die demografische Entwicklung stellen die Gesellschaft vor neue Herausforderungen. Was wurde hier aus Ihrer Sicht im Jahr der Chancengleichheit 2007 erreicht?
Prof. Dr. Rita Süssmuth: In der Tat ist die Bundesrepublik, übrigens seit langer Zeit, ein Land, in dem sich viele Menschen unterschiedlichster Nationen aufhalten. Nehmen Sie allein Berlin, hier sind inzwischen Menschen aus über 160 Nationen zu Hause. Wenn wir nach Köln, Frankfurt, München oder Hamburg kommen, haben wir es mit ähnlichen Relationen zu tun, weil wir, wie viele andere Länder auch, seit langer Zeit ein Einwanderungsland sind, Wir haben es mit einer weltweiten Mobilität, auch teilweise mit erzwungenen Wanderungsbewegungen zu tun. Dieser Prozess hat aus meiner Sicht bisher immer nur zur Diskussionen über Belastungen geführt, nicht über Bereicherungen. Erst seit 2005 beginnen wir zu sagen: Diversity - Verschiedenheit, Vielfalt ist nicht nur eine Herausforderung. Man muss auch viel wissen von dem Anderen, sowohl von der Mehrheitsgesellschaft als auch über die Minderheitsgesellschaften. Wir stellen auch fest, das dies nicht nur eine kulturelle sondern sehr oft auch eine soziale Bereicherung ist. Stellen Sie sich einmal vor, in unseren Pflegefamilien, Krankenhäusern und Altenheimen wären nicht die vielen Migrantinnen beschäftigt. Es wäre sehr schlecht um uns bestellt. Die Migranten gehen oft mit Fragen wie "wie sorge ich denn für eine Betreuung von Kindern und Pflege?" anders um. Um Ihre Frage auf den Punkt zu bringen: wir fürchten uns zwar noch vor dieser Multikulturalität, dem Zusammenleben mit unterschiedlichen Kulturen, aber es ist zugleich eine Chance, hier und weltweit Probleme besser zu lösen. In Deutschland treffe ich immer auf überraschte Augen und Ohren, wenn ich sage, dass der Hauptteil der Migrantinnen weiblich ist, 52 Prozent. Sie kommen als Selbständige hierher, aber auch als Familienangehörige. Ich denke, dass wir in dieser veränderten multikulturellen Welt ungeheure Lernprozesse vollziehen müssen, aber auch Chancen haben. Viele wissen auch nicht, dass viele Migranten mit Hochschulabschlüssen zu uns kommen, die bei uns dann im Reinigungsgewerbe, als Taxifahrer oder in der Gastronomie arbeiten. Es heißt ganz richtig, dass wir es nicht nur mit Vielfalt zu tun haben, sondern auch mit vielen menschlichen Potenzialen, ihren Erfahrungen und ihrem Wissen. Das ist von großem Vorteil für uns.

AVIVA-Berlin: Von Ihnen stammt das Zitat, dass Frauen in der Politik in den "Vorhöfen der Macht" angekommen sind. Vereinzelt sind Frauen auch in Führungspositionen angekommen. Wo stehen wir heute und welche politischen Initiativen sollen gestärkt werden?
Prof. Dr. Rita Süssmuth: Ich denke, wir stehen heute nicht mehr im Feld der Stagnation, sondern das, was sich an weiblichem Können und Kompetenzen entwickelt hat, kommt mehr und mehr auch in die mittlere Ebene hinein. Es geht um Beteiligung. Das betrifft auch die globalisierte Welt, da haben wir Nachholbedarf, aber auch dort arbeiten zunehmend mehr Frauen in mittlerer Führung. Und manchmal auch in leitender Position, wenn es um Firmen in Deutschland geht, die global agieren. Was wir in den letzten Jahren, insbesondere auch aufgrund unseres demografischen Wandels, nicht nur auf Grund der Migration, mehr und mehr betonen, ist, dass die Frauen in der Gesellschaft gebraucht werden. In der Wirtschaft, in der Kultur und in der Politik hat es noch nie eine Phase gegeben, in der die Wirtschaftsverbände ein solches Interesse an der Vereinbarkeit von Familie und Beruf gezeigt haben wie gerade in jüngster Zeit. Das heißt, hier ist es nicht mehr einseitig so, dass das Können der Frauen auf eine Barriere stößt. Im Gegenteil, man muss sich fragen: Werden wir das alles bewältigen können? Es wird plötzlich von uns viel verlangt. Nicht nur soll man topfit im Beruf sein, es sollen auch wieder mehr Kinder geboren werden. Und sehen Sie, gerade wenn ich in einem global tätigen Unternehmen tätig bin, wenn ich nicht völlig auf den Innenbereich der Firma ausgerichtet bin, dann gehört Reisetätigkeit dazu, für viele auch Aufenthalte im Ausland. Da gibt es ganz neue Anforderungen an die Organisation des Alltagslebens. Insgesamt sehe ich noch einen riesigen Nachholbedarf, gerade bei Frauen in Führungspositionen. Aber das ist ja ein Thema, das sich die diesjährige "World Women Work" zum Thema gemacht hat: "Just do it! – Karrieren in einer globalisierten Arbeitswelt ". Das ist noch ein vernachlässigtes Feld, in Bezug auf die Beteiligung der Frauen. Zunächst waren es nur einzelne Frauen, doch zunehmend sind es Frauen aus den unterschiedlichsten Bereichen, die das Thema beschäftigt. Die globalisierte Welt hat auf der einen Seite Bedeutung für die Migration, für ganz neue Formen der Kommunikation mit Migrantinnen und ihrem Potential für das Aufnahmeland, wie auch für die Herkunftsländer, gerade im wirtschaftlichen, im finanziellen, im kulturellen und im sozialen Bereich, aber es hat auch entscheidende Bedeutung für die Frage, wie werden die Frauen an der Gestaltung des Lebens in einer globalisierten Welt beteiligt? Bisher waren wir das ja nicht.

AVIVA-Berlin: Vertreten Sie weiterhin innerhalb der CDU und der politischen Institutionen ein Reißverschluss-Verfahren, das eine paritätische Besetzung der Ämter und Funktionen durch die Geschlechter bedeutet?
Prof. Dr. Rita Süssmuth: Ich vertrete das noch, weil dies das normalste Verfahren wäre. Aber da sind wir ja noch nicht. Das Reißverschluss-Verfahren hieße ja, dass wir bereits bei 50 Prozent angelangt wären. Der Prozentsatz der Frauen in allen Funktionen steigt zwar, aber wir haben jetzt vielleicht das Drittel erreicht. Gerade in der Politik haben wir es nicht mit einem Zuwachs zu tun. Die Hauptämter sind meist männlich besetzt, so das Bundesverfassungsgericht, das Amt des Bundespräsidenten, das des Bundestagspräsidenten, des Bundesratspräsidenten etc. Eine Ausnahme ist die Bundeskanzlerin. Wir haben in dem Bereich der Bundesländer keine einzige Ministerpräsidentin. Da müssen wir aufpassen. Weil die Beteiligung der Frauen im Erwerbsleben immens steigt, wird häufig der Eindruck erweckt, wir bräuchten nichts mehr tun. Auch in meiner Partei ist ja das Beteiligungsprinzip anerkannt. Wer das Reisverschluss-Verfahren jetzt abschafft, der springt zu früh ab. Wir sind längst noch nicht am Ziel. Wenn wir auf die Politik achten, dann sehen wir zwar verbal Fortschritt, faktisch jedoch Stagnation.

AVIVA-Berlin: Auf der World Women Work 2006 haben Sie gesagt: "Alle Macht, die Frauen bisher hatten, ob sie stark oder schwach war, ist von Männern verliehene Macht". Dies könne sich nur durch eine stärkere Partizipation der Frauen ändern. Damals haben Sie auf der politischen Bühne zur Bildung einer fraktionsübergreifenden Initiative aller Politikerinnen des Bundestages aufgerufen. Was ist daraus geworden?
Prof. Dr. Rita Süssmuth: In einer Zeit der großen Koalition hatten wir ja schon einmal in den beiden großen Parteien eine interfraktionelle Gruppierung. Ich glaube, dass sie entscheidend dazu beigetragen hat, dass Verbesserungen in der Familien- und Kinderpolitik herbeigeführt wurden. Das, was Renate Schmidt nicht mehr umsetzen konnte, hat Frau von der Leyen jetzt umgesetzt. Auch sie ist dabei zunächst auf heftigste Widerstände gestoßen, bis hin zu ganz harter Gegnerschaft. Aber die Gegnerschaft war nicht mehr so wie wir sie in den achtziger Jahren erfahren haben. Das ist der Vorteil der Großen-Koalition. Ingesamt in der Frauenpolitik habe ich große Befürchtungen, dass ganz neue Armutsgruppen wachsen, insbesondere die Gruppe der Alleinerziehenden. Denn wir haben ja heute eine Sozialgesetzgebung, die jeder jungen Frau mittleren Alters klar machen muss: Es gibt für dich keine Absicherung außer Hartz IV. Sowohl die Wittwenreform in der Rentenversicherung als auch das neue Unterhaltsrecht, erst recht bei dem hohen Anteil der Scheidungspaare, sagt zu den Frauen: Sichere dich ab über den Beruf. Wir haben wirklich noch ein großes Programm vor uns und hier bedarf es stärkerer interfraktioneller Innitiativen. In der Gesellschaftspolitik gibt es, insbesondere unter dem Blick, wie wir die Konflikte in den kleinen Lebenseinheiten, in den Paarbeziehungen mit den Kindern, vermindern, noch Erhebliches zu tun. Auch da sind interfraktionelle Initiativen gefordert.

AVIVA-Berlin: Welches sind aus Ihrer Sicht die wichtigsten frauenpolitischen Veränderungen in den letzten zwei Jahren? Und was sind die großen Vorhaben für die Zukunft?
Prof. Dr. Rita Süssmuth: Die wichtigsten frauenpolitischen Veränderungen sind ein weiterer Schritt in Richtung auf eine konsequente Gleichstellung. Ich denke, dass in den letzten zwei Jahren, auch angesichts der großen Koalition und einer Frau als Kanzlerin, vielleicht nicht mehr Frauenpolitik aber doch eine frauenfreundliche Gesellschaftspolitik betrieben wird. Ich nehme dabei die soziale Sicherung aus. Aber die Geschlechtergerechtigkeit wird in der öffentlichen Diskussion mehr zur Normalität. Immer da, wo Frauen die erfolgreiche Ausübung von Machtrollen wahrnehmen, hat das auch gesellschaftliche Effekte. Die Umfragen zeigen ja eine hohe Wertschätzung der weiblichen Kanzlerschaft. Die Gesellschaft gewöhnt sich so an weibliche Führungsrollen. Als Risiko muss ich das Thema "entliehene Macht" benennen. Wir müssen aufpassen, dass nicht das, was immer als weibliche Stärken geschätzt wurde, im Prozess der Beteiligung verloren geht. Beteiligung darf nicht heißen, dass wir werden wie Männer. Das würde wegführen von der Verschiedenheit, von Diversity. Beteiligung und der Erhalt von Diversity ist unser Ziel.

AVIVA-Berlin: Vielen Dank. Herzlichen Dank für dieses persönliche Gespräch!

Weitere Informationen zu Prof. Dr. Rita Süssmuth und Kontakt unter:
www.rita-suessmuth.de



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Beitrag vom 28.06.2008

Yvonne de Andrés