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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 11.04.2005


Moon McNeill - Künstlerin - an MCS erkrankt
Christiane Sanaa, Sharon Adler

Obwohl es mehr als 80.000 Betroffene allein in Deutschland gibt, ist Multiple Chemische Sensitivität in der Öffentlichkeit kaum bekannt. Das Netzwerk "Künstler mit MCS" bietet Hilfe an.




Obwohl MCS-Fälle seit den 50er Jahren in den USA beschrieben werden, haben MedizinerInnen erst 1999 die Diagnose "Multiple Chemische Sensitivität" geprägt. Die Symptome der Erkrankung sind unspezifisch und können den gesamten Organismus befallen. Sie reichen von extremer Geruchsempfindlichkeit über Atemwegs- und Verdauungsproblemen, ständigen Schmerzen bis zu Depressionen. Medizinische Standardteste ergeben keine messbaren Krankheitszeichen. Den PatientInnen wird körperliche Gesundheit bescheinigt und sie werden häufig als hypochondrisch abgestempelt.

Als Ursache gelten Chemikalieneinwirkungen oder Vergiftungen. Die Abwehr- und Reinigungsfunktionen des Körpers werden überfordert und versagen. Viele Erkrankte wissen aufgrund falscher Diagnostik gar nicht, dass sie an MCS leiden. Sie ziehen sich in "sichere" Räume zurück und können am normalen Leben nicht mehr teilnehmen.
Ein Ende der Belastung ist nicht in Sicht, denn die Anzahl der Stoffe, die ungeprüft in die Umwelt gelangen, erhöht sich ständig und Grenzwerte haben eher symbolischen Wert. (vgl. u.a. Greenpeace, CBGNetwork)

Die Ethnologin, Malerin und Autorin Moon McNeill hat im August 2001 das Netzwerk Künstler mit MCS gegründet. Es richtet sich an kreativ-tätige Menschen, bietet aber auch Informationen rund um das Thema MCS.

AVIVA-Berlin sprach mit Moon McNeill über ihr Leben.

AVIVA-Berlin: Woran haben Sie erkannt, dass Sie an MCS erkrankt sind?
Moon McNeill: Das haben andere erkannt. Ich reagierte seit 1974 auf Duftstoffe, später auch auf andere Stoffe: Blumen, Teesorten, Kosmetika, Reinigungsmittel, Rauch... Zudem wurde ich immer kränker, hatte Herzstolpern oder -rasen, chronische Hautausschläge, Schwächeanfälle, ständige Bronchitis, Atemprobleme, Ängste und konnte bestimmte Lebensmittel nicht mehr vertragen. Früher war ich körperlich sehr belastbar, heute kann ich manchmal das Marmeladenglas nicht aufschrauben. Dass all diese Dinge zusammen gehörten, erkannte erst meine Hausärztin, die eine umweltmedizinische Zusatzausbildung hatte. Das war im März 2001. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte ich noch nie von MCS gehört.

AVIVA-Berlin: Wie lange hat es vom Ausbruch der Krankheit bis zur Diagnose gedauert?
Moon McNeill: 26 Jahre. Ich bin in dieser Zeit so oft bei Ärzten gewesen, dass meine Mappe immer die dickste war. Aber es wurde immer nur das jeweilige Symptom behandelt. Ursachenforschung betrieb niemand, obwohl es Hinweise auf eine Zahnmetallproblematik und eine Pyrethroidvergiftung gab. Nicht einmal eine Forschungsklinik, in der ich 2000 lag, interessierte sich für meine umfangreichen Notizen. Es wurde zum hundertsten Male der Standardallergietest gemacht und basta. Natürlich ohne jedes Ergebnis.

AVIVA-Berlin: Wie ist Ihr privates Umfeld mit der Krankheit umgegangen? Wie hat Ihr Freundes- und Bekanntenkreis reagiert?
Moon McNeill: Meine Freunde haben sich nach und nach verabschiedet. Man riet mir oft, eine Therapie zu machen. Meiner Familie war das auch alles zuviel. Ähnliches erleben fast alle Betroffenen und es trifft sie hart. Viele Ehemänner verlassen ihre Frauen, Kinder verachten ihre "weichlichen" Mütter. Aber ich kenne auch Familien, die versuchen, zu helfen. Oft erkranken gleich mehrere Familienmitglieder, beispielsweise durch Holzschutzmittel, einen pyrethroidgetränkten Teppichboden oder den Kleber unter einem Laminat. Allein das belegt, dass es keine seelische Ursache haben kann. Ich habe heute nur noch Online-Freundschaften. Die meisten meiner neuen Freunde habe ich noch nie gesehen.

AVIVA-Berlin: Wie hat sich Ihr Alltag mit der Krankheit verändert?
Moon McNeill: Nichts ist mehr wie vorher. Ich habe dreimal meine Arbeit verloren und lebe mit 49 Jahren am Existenzminimum. Ein Behindertenarbeitsplatz steht mir nicht zu, da nur bestimmte Folgeerkrankungen als Behinderung anerkannt werden, nicht aber MCS als solche. Ich habe alles verloren, was mein Leben ausmachte und muss mit einem Körper leben, der nicht mehr so funktioniert, wie ich es erwarte. Ich hatte seit 1990 keinen schmerzfreien Tag mehr. Man entwickelt nach einer Weile einen neuen Alltag, der einem normal vorkommt. Man unterscheidet nicht zwischen guten und schlechten Tagen, sondern zwischen schlimmen und nicht so schlimmen. Gute Tage sind rar.

AVIVA-Berlin: Wie gehen Sie mit Rückschlägen um?
Moon McNeill: Mutig. Wir leben in einer chemisierten Welt leben und können nicht weglaufen. Ich kann auch vor dem Unwissen meiner Mitmenschen nicht weglaufen. Sie wollen mich besuchen und sagen, sie hätten keine Duftstoffe benutzt. Wenn ich Atemprobleme bekomme, kaum dass sie in der Wohnung sind, weiß ich es besser. Ich muss dann meine Polsterstühle mehrere Wochen dekontaminieren und bin mehrere Tage krank. Meine Bronchien entzünden sich praktisch sofort. Man lädt nach einer Weile niemanden mehr ein.

AVIVA-Berlin: Sie sind ursprünglich Ethnologin. Mit dem Beginn der Krankheit haben Sie sich verstärkt der Kunst zugewandt. Welche Bedeutung hat die künstlerische Arbeit für Ihren Umgang mit der Krankheit?

Moon McNeill: Ich habe eigentlich immer etwas mit Kunst zu tun gehabt, aber nur als Hobby. Die Kunst gibt mir jetzt einen neuen Lebenssinn und vor allem Freude. Insbesondere, seit die Berliner Malerin Katja Bröskamp mich online unterrichtet, mache ich große Fortschritte. Als Präsidentin eines Netzwerks umweltkranker Künstler habe ich das Wissen, anderen zu helfen, die noch am Anfang sind. Ich erspare ihnen damit jahrelanges Recherchieren und kann oft auch Mut machen.

AVIVA-Berlin: Welchen Einfluß hat Ihre Erkrankung auf Ihre künstlerische Arbeit?
Moon McNeill: Ich nutze Kunst, um zu informieren. 2003 habe ich ein MCS-Lesebuch herausgegeben, das mit literarischen Mitteln über MCS informiert. Es richtet sich an Betroffene und an Laien, die wissen wollen, wie man sich mit MCS fühlt. Alle 11 AutorInnen sind umweltkrank und haben ohne Honorar gearbeitet. Beim Malen muss ich Atemschutzmasken tragen und vertrage die meisten Künstlermaterialien nicht. Um verträgliche Farbe zu finden, habe ich zwei Jahre lang gesucht. Ich kann meine Bilder nicht firnissen. Wegen der Schmerzen kann ich nur noch kleine Formate malen.

AVIVA-Berlin: MCS ist noch immer kaum bekannt. Haben Sie sich von den ÄrztInnen verstanden und ernst genommen gefühlt?
Moon McNeill: Nein. Und ich sage ausdrücklich: auch von einigen Umweltärzten nicht. Ich glaube, die Odyssee der Betroffenen durch die Arztpraxen hat darin ihren Grund. Viele Ärzte haben eine spezielle Lehrmeinung, durch dieses Raster sehen sie einen an. Sie denken oft nicht holistisch. In Amerika gibt es mehr ganzheitlich denkende Umweltmediziner als hier. Solange die Umweltmedizin bei uns nicht anerkannt wird, bleibt alles, wie es ist. Dabei können wir absehen, dass die Chemisierung der Welt fortschreitet und immer mehr Betroffene zu verzeichnen sein werden.

AVIVA-Berlin: Wie sollte die Ärzteschaft mit dem Thema MCS umgehen und sehen Sie da noch Aufklärungsbedarf?
Moon McNeill: Dringend! Jeder Allgemeinmediziner und jeder Krankenhausarzt müsste eine umweltmedizinische Zusatzausbildung absolvieren, damit er solche Fälle überhaupt erkennt. Viele Betroffene landen in der Psychiatrie, wo sie durch die verabreichten Medikamente noch kränker werden. Jede Klinik sollte Betten mit Umweltstandard haben. Narkoseärzte müssen wissen, dass ihre Narkose MCS-Patienten töten kann.

AVIVA-Berlin: Welche Maßnahmen sollten von Seiten der Regierung unternommen werden, um den Betroffenen ein menschenwürdiges Leben mit MCS zu ermöglichen und die weitere Ausbreitung der Krankheit zu verhindern?
Moon McNeill: Das ist schwierig. Man kann Chemie ja nicht mehr aus dem Alltag wegkriegen, aber reduzieren. Ein Stoff wird oft durch den nächsten ersetzt, immer mit ungewissem Ausgang. Von den abertausenden Chemikalien wissen wir nur zu einem Bruchteil, welche Langzeitwirkung im Körper sie haben. Noch schwieriger ist es, diesen Schaden direkt nachzuweisen. Fast alle Holzschutzmittelprozesse der siebziger und achtziger Jahre wurden deshalb niedergeschlagen.
Die Industrie muss mehr in die Verantwortung und Haftung genommen werden.
Es kann nicht sein, dass wir nachweisen müssen, warum wir krank sind - die Industrie muss die Unschädlichkeit ihrer Produkte nachweisen können. Uns müssen Behindertenrechte zugestanden werden. Es kann nicht sein, dass nur Folgeerkrankungen anerkannt werden - statt die tatsächliche Befindlichkeit zu bewerten! Die Krankenkassen oder die Hersteller gesundheitsschädlicher Stoffe müssen die Behandlungen zahlen, wenn klar ist, dass es sich um eine Vergiftung handelt. Wir sind doch nicht Schuld an unserer Erkrankung - aber wir zahlen mit dem Arbeitsplatz, dem Verlust der Gesundheit, des sozialen Netzes. Da ist vieles im argen und in vielen Familien entsteht dadurch unendliches Leid.

AVIVA-Berlin: Welche Wünsche und Hoffnungen haben Sie für Ihre Zukunft?
Moon McNeill: Ich wünsche mir…ja, was?! Für mich, dass ich nicht noch kränker werde. Und dass meine Würde wieder hergestellt wird. Am Existenzminimum leben zu müssen, obwohl man ein fähiger Mensch ist - das ist unerträglich. Für meine LeidensgenossInnen wünsche ich mir die Anerkennung ihrer Erkrankung und eine Rente oder Entschädigung. Vor allem aber wünsche ich mir, dass nicht noch Abertausende erkranken müssen, bevor man das Problem als Problem anerkennt. Oder brauchen wir im Bereich MCS erst eine solche Katastrophe wie bei AIDS oder SARS? Wenn wir lange genug warten, wird das mit Sicherheit geschehen.

AVIVA-Berlin: Ihre Visionen und Ihr Credo?
Moon McNeill: Lebe den Tag. Liebe Dich selbst. Und hilf deinem Nächsten! Es könnte sein, dass Du morgen seine Hilfe benötigst!


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Beitrag vom 11.04.2005

AVIVA-Redaktion