AVIVA-Berlin >
Women + Work
AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 -
Beitrag vom 27.11.2024
Wiederentdecktes Kulturgut: Der Nachlass von Gabriele Tergit
AVIVA-Redaktion
Die jüdische Schriftstellerin und Journalistin Gabriele Tergit (1894–1982) gilt als wichtige Chronistin der Weimarer Republik. Ein 2014 entdeckter Nachlass eröffnet neue Perspektiven auf ihr bewegtes Leben. Am 21. November 2024 präsentierte die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) die geretteten Aufzeichnungen im Rahmen einer Abendveranstaltung in der Staatsbibliothek zu Berlin.
Gabriele Tergit war vor allem für ihre Gerichtsreportagen berühmt. Dieses Genre hatte sie als erste Frau im deutschsprachigen Raum für sich erobert.
Bis 1933 veröffentlichte sie Berichte, Feuilletons und Reportagen in verschiedenen Zeitungen. Ihre Beiträge waren engagiert und zeitkritisch.
Insbesondere in ihren Gerichtsreportagen verwies sie auf die prekäre soziale Lage weiter gesellschaftlicher Kreise.
Ihren größten literarischen Erfolg feierte Gabriele Tergit mit dem Roman Käsebier erobert den Kurfürstendamm (1931). Im Genre des Großstadtromans erzählt sie den Aufstieg und Fall des Neuköllner Volkssängers Georg Käsebier, der durch eine immense Werbekampagne für eine Saison zum Star von Berlin avanciert. Die Autorin verweist in diesem Roman auf die unkalkulierbaren Gefahren der Reklame, jenem neuen Medium, das in den 1920er Jahren nach den USA auch ganz Europa überrollt.
Portrait von Gabriele Tergit. Foto © Moses Mendelssohn Stiftung Berlin
Ihre kritische Berichterstattung, insbesondere über den ersten Prozess gegen Adolf Hitler und Joseph Goebbels am Moabiter Kriminalgericht, machte sie zur Zielscheibe der Nationalsozialisten. Nachdem sie einem SA-Überfall 1933 in ihrer Wohnung nur knapp entgangen war, floh Tergit mit ihrem Mann Heinz Reifenberg über die Tschechoslowakei und Palästina nach London, wo sie für das PEN-Zentrum deutschsprachiger Autor·innen im Ausland arbeitete. Der Deutschen Bibliothek in Frankfurt am Main übergab sie vor ihrem Tod das Archiv des Deutscher PEN-Clubs im Exil. Ihren privaten Nachlass erhielt die Moses Mendelssohn Stiftung im Jahr 2014.
2014 wurde darüberhinaus ein bislang unbekannter Teil aus dem Nachlass Tergits wiederentdeckt: Mehr als 4.500 persönliche Andenken und Zeitungsartikel lagen mehr als 30 Jahre auf einem Dachboden in Mittelengland. Die Aufzeichnungen waren durch die lange Lagerzeit und feste Bündelung stark beschädigt. Erst die Restaurierung im Rahmen eines KEK-Modellprojekts machte sie wieder nutzbar.
Dazu Dr. Elke-Vera Kotowski im Interview mit der Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK):
"Wie sich zeigte, fanden sich auf dem Dachboden ihres Hauses noch eine Reihe von persönlichen Dokumenten, die Gabriele Tergit zu Lebzeiten nicht an das Literaturarchiv in Marbach oder das Exilarchiv in Frankfurt gegeben hatte. Darunter befanden sich u. a. Familienbriefe, Fotos, Rezensionen über die eigenen Werke und verschiedenste Erinnerungsstücke wie Einladungs- und Visitenkarten oder Poesiealben aus ihrer Kindheit. Es handelt sich also um einen ganz persönlichen Bestand, den mir die Familie nach Übereinkunft zur Aufbereitung, wissenschaftlichen Aufarbeitung und Archivierung anvertraute."
"Die Rettung des Nachlasses ist von unschätzbarem Wert für die deutsche Literatur- und Zeitgeschichte", betonte Dr. Ursula Hartwieg, Leiterin der KEK. "Nicht nur Tergits journalistisches Schaffen wird darin dokumentiert, sondern auch die dramatischen Umbrüche der Weimarer Zeit."
Im Rahmen der Abendveranstaltung "Original gelesen: Der Nachlass von Gabriele Tergit" am 21. November 2024 im Otto-Braun-Saal der Staatsbibliothek zu Berlin in Kooperation mit der Moses Mendelssohn Stiftung sprach die Übersetzerin und Autorin Dr. Karolina Golimowska mit Dr. Elke-Vera Kotowski von der Moses Mendelssohn Stiftung über die faszinierende Überlieferungsgeschichte und Restaurierung des Nachlasses. Die Schauspieler·innen Julia Meier und Sven Brömsel trugen ausgewählte Texte Tergits vor und Originaldokumente aus dem Nachlass wurden vor Ort präsentiert.
Mehr zur Tagung: www.kek-spk.de/tagung
Weiterführende Informationen www.kek-spk.de
Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) an der Staatsbibliothek zu Berlin – Preußischer Kulturbesitz
Die Koordinierungsstelle für die Erhaltung des schriftlichen Kulturguts (KEK) wurde 2011 gegründet und wird von der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien (BKM) und der Ländergemeinschaft über die Kulturstiftung der Länder gefördert. Die KEK unterstützt bundesweit Projekte zum Originalerhalt. Seit 2010 wurden in der KEK-Modellprojektförderung und dem BKM-Sonderprogramm 1.162 Projekte mit rund 25,6 Millionen Euro umgesetzt.
www.kek-spk.de
Die Moses Mendelssohn Stiftung und das Moses Mendelssohn Institut
Die Moses Mendelssohn Stiftung fördert Bildung, Erziehung, Wissenschaft und Forschung auf dem Feld der europäisch-jüdischen Geschichte und Kultur. Darüber hinaus versteht sich die Stiftung als Dachgesellschaft für die bereits seit Jahren erfolgreich arbeitende Moses Mendelssohn Akademie in Halberstadt und das Moses Mendelssohn Institut in Berlin/Hamburg. Die Stiftung engagiert sich auch für gemeinnützige Bauprojekte, die der deutsch-jüdischen Verständigung dienen. So wurde beispielsweise 2016 ein Haus in Charlottenburg nahe dem Kurfürstendamm nach Gabriele Tergit benannt.
www.moses-mendelssohn-stiftung.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin
Gabriele Tergit - Käsebier erobert den Kurfürstendamm
Als der Volkssänger Käsebier 1931 zum Megastar wird, ist Berlin ist eine aufregende und dynamische Stadt, eine Stadt vieler Kulturen und Identitäten. Der satirische Gesellschaftsroman der als Elise Hirschmann geborenen Schriftstellerin und Gerichtsreporterin erschien 1931 erstmals im Rowohlt Verlag. In den Folgejahren wurde das Werk über das Berlin der späten Weimarer Republik in verschiedensten Verlagen veröffentlicht, geriet schließlich in Vergessenheit, bevor er nun, im Frühjahr 2016, im Schöffling Verlag von Nicole Henneberg herausgegeben und mit einem Nachwort versehen wurde. (2016)