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Beitrag vom 13.02.2013
Les Reines Prochaines – Blut, das neue Album. Die Doku von Claudia Wilke - Les Reines Prochaines. Alleine denken ist kriminell
Julia Lorenz
Schräg, morbide und kein bisschen leise: Das Schweizer Quartett verweigert auch nach über 25 Jahren im Musikgeschäft das Etikett "altersmilde" und wartet auf seinem neuen Album mit kleinen...
... und größeren Hintersinnigkeiten über Frühstückseier und Identitätssuche auf.
Les Reines Prochaines wollen Blut fließen sehen. Ganz gewaltfrei, versteht sich. Die Schweizer Musik- und Performanceband, die sich in den 1980er Jahren im Fahrwasser der Jugend- und Frauenbewegung formierte und zuletzt mit ihrer 2005er LP Starke Kränze von sich hören ließ, bedient sich auf ihrem neuen Album "Blut" aus dem Giftschränkchen des Alltags und vermischt den warmen Lebenssaft mit einem Quäntchen Arsen.
Auch nach einer über 25-jährigen Karriere und Erfolgen als Musikerinnen sowie Performance– und Konzeptkünstlerinnen setzen sich die in Basel lebenden und arbeitenden Frauen musikalisch zwischen alle Stühle und brechen mit gängigen Erwartungen an ein konventionelles Album: Nicht nur siebzehn neue Songs, sondern auch vier Wortstücke erwarten das experimentierfreudige Publikum. In bekannter Manier wird dabei zum stilistischen Rundumschlag ausgeholt: In deutscher, englischer und spanischer Sprache, mal spärlich instrumentalisiert, mal mit vollem BläserInnen-, Zupf- und StreicherInneneinsatz, bisweilen chansonesk, dann wieder Balkan-affin oder im Stil Kurt Weills erzählen die "zukünftigen Königinnen" ihre Geschichten.
Die Grenzen zwischen alltäglichen Anekdoten und den großen Fragen des Lebens verschwimmen dabei nicht selten. Im Zuge einer Liebeserklärung an den Kreisverkehr ("Kreisel sind Rund") wird der gesundheitssteigernde Wert von Wagemut diskutiert, in "Spoil me" werfen die Damen die Frage auf, warum das Frühstück nach einer gemeinsamen Nacht so sträflich unterschätzt wird, wohingegen ungeklärt bleibt, warum sich ausgerechnet die nette "Shila" im gleichnamigen Lied in die Gottheit Shiva verwandelt. Expliziter wird die Sinnsuche im Tango "Identität", der mit der Frage nach der Beschaffenheit des Subjekts ringt, oder in Sus Zwicks Lied "Alter Ego", das die Emanzipation der Kunstfigur zur realen Person thematisiert. Das titelgebende Blut fließt dabei als Herzblut oder Menstruationsblut, lässt LiebhaberInnen heißblütig werden, Existenzen blutarm wirken und verleiht den Stücken Wärme, Lebendigkeit und Intensität.
Wie all das auch mit so viel Bühnenerfahrung noch immer innovativ, intuitiv und unbefangen wirken kann, demonstrieren die Künstlerinnen im Film "Les Reines Prochaines – Alleine denken ist kriminell" der Hamburgerin Claudia Wilke.
In der dokumentarischen Auseinandersetzung mit dem Schaffen der Schweizerinnen erklärt Fränzi Madörin die Arbeitsweise des Kollektivs: "Les Reines Prochaines war von Anfang an eine Autorinnenband. So lautet das Konzept: Du kommst her und du musst auch singen. Du musst Texte verfassen, und du musst dich ausdrücken. Wie auch immer du das tust - aber du musst. Die anderen dienen dir zu, stehen in dem Moment in deinen Diensten. Dann nimmst du dich zurück und stehst im Dienst der anderen. "
Der Mut zum Wagnis, den mensch den Musikerinnen auf ihrem neuen Werk "Blut" anhört und der sich in Wilkes Hommage auf Zelluloid in einem wilden, videoclipartigen Sammelsurium aus Liveaufnahmen, privaten Momenten und Einzelinterviews manifestiert, ist also Gesetz im Königinnenreich: Nichts muss perfekt sein, alles darf ausprobiert werden und möglicherweise auch schiefgehen – Hauptsache, frau traut sich und bringt ihre Ideen vor.
Wer der Sinn nach musikalischer "Berieselung" steht, die sei vorgewarnt: Leicht verdaulich ist das nicht. Zu radikal und kontrovers, zu hintersinnig und morbide servieren Les Reines Prochaines ihre Kreationen, um vom Mainstream weggespült zu werden. Die Fans der exzentrischen Damen wird es nicht stören, schließlich ist die Grenzüberschreitung – musikalisch wie thematisch – bei den ungekrönten Adelsdamen Programm. Das Bekenntnis zur Eigenwilligkeit liefern die vier Künstlerinnen auf ihrem neuesten Gemeinschaftswerk in schönster Weise:
"Drum ist es Zeit, das Ego abzustreifen/öffnet euren Reißverschluss – zeigt euer Herz/Lasst uns in anderen Kategorien denken/begrüßt die reine Gelassenheit."
Das tun wir gern.
Zu den Künstlerinnen:
Les Reines Prochaines sind eine Schweizer Frauenband, die 1987 von Teresa Alonso, Regina Florida Schmid und Muda Mathis gegründet wurde. Nach bisher sechs herausgebrachten LPs ("Jawohl, sie kann´s. Sie hat´s geschafft" (1990), "Lob Ehre Ruhm Dank" (1993), "Le coeur en beurre double gras" (1995), "Alberta" (1999), "Protest und Vasen" (2003), "Starke Kränze" (2005) betrachten die "Königinnen" ihr musikalisches Vorgehen als "prozesshaft, assoziativ, konzeptuell". Musik und Performances sind nach eigenen Angaben "geprägt von unseren inneren Bildern, Ahnungen, Erinnerungen, Erfahrungen und Phantasien in Bezug auf unsere individuelle, politische und kulturelle Realität". Die heutige Besetzung der "Reines" besteht aus Gründungsmitglied Mathis sowie Sus Zwick, Fränzi Madörin und Michèle Fuchs.
Muda Mathis, geboren 1959 in Zürich, besuchte die F+F Schule für experimentelle Gestaltung in Zürich, die Sigurt Leeder School of Dance in Herisau sowie die Klasse für Audiovisuelle Gestaltung in Basel. Heute arbeitet sie in verschiedenen Formationen in den in den Bereichen Performance, Video, Installation und Musik, ist als Dozentin an der HGK Basel tätig und nimmt an nationalen und internationalen Festivals, TV-Ausstrahlungen, Ausstellungen, Performances und Konzerten teil.
Sus Zwick, geboren 1950 in Fribourg, wurde zur Primarlehrerin, Logopädin und Heilpädagogin ausgebildet, bevor sie die Klasse für Audiovisuelle Gestaltung in Basel besuchte. Sie arbeitet als freischaffende Dokumentarvideastin, Medienpädagogin, Audiotechnikerin und in verschiedenen Formationen im Besonderen mit Muda Mathis in den in den Bereichen Video, Installation, Performance und Musik. Seit 1991 ist sie festes Mitglied der "Les Reines Prochaines". Des Weiteren ist sie an nationalen und internationalen Festivals, TV-Ausstrahlungen, Videos, Videoinstallationen, Ausstellungen, Performances und Konzerten beteiligt und ist Mitbegründerin der VIA AudioVideoKunst Basel.
Fränzi Madörin, geboren 1963 in Basel, absolvierte eine Ausbildung zur Damenschneiderin und ist seit 1983 als Kostümbildnerin für verschiedene Tanz- und Theatergruppen tätig. Seit 1988 ist sie ebenfalls Mitglied der VIA AudioVideoKunst Basel. Im selben Jahr stieg sie bei "Les Reines Prochaines" ein und war bis 1999 als Managerin der Band tätig. Neben ihrer Mitarbeit an diversen Konzerten, Performances, Audioeditionen, Videoproduktionen und ihren Beiträgen zu Audio- und Videoinstallationen, Kompositionen für Theater, Tanz und Film leitet sie Workshops in den Bereichen Video und Performance und Schneidern.
Michèle Fuchs wurde 1961 in Zürich geboren und absolvierte eine Ausbildung zur Schauspielerin an der "Scuola Teatro Dimitri, Verscio TI" sowie eine Ausbildung zur Lehrerin für musikalische Grundkurse an der Musikakademie Basel, und befindet sich momentan in der Weiterbildung zur Französisch- und Englischlehrerin. Darüber hinaus ist sie als freischaffende Schauspielerin, Performerin und Musikerin tätig. Fuchs ist Mitglied bei VIA AudioVideoKunst Basel und seit 1998 in der Band.
AVIVA-Tipp: "Blut" ist ein musikalisches Kuriositätenkabinett. Die Künstlerinnen kleiden ihre exzentrischen Texte in Chansons, Welt- und Zirkusmusik und erzählen Geschichten aus dem Leben auf unerhörte Art – kompromisslos, originell und sehr humorvoll. Da frau sich dem Gesamtkonzept "Les Reines Prochaines" am besten audiovisuell nähert, ist Claudia Wilkes Film - trotz anfangs gewöhnungsbedürftig nüchternem ARD-Doku-Erzählmodus - allen zu empfehlen, die einen intimen Einblick ins Innere eines bemerkenswerten Künstlerinnenkollektivs gewinnen wollen. Auch wenn einer das eigene Schaffen danach reichlich farblos vorkommen dürfte.
Les Reines Prochaines
Blut
Erschienen bei unrecords, 2. Februar 2013
18,- Euro
www.unrecords.me
Mehr Infos unter:
www.reinesprochaines.ch
Les Reines Prochaines - Alleine denken ist kriminell
Schweiz 2012
Regie: Claudia Wilke
Buch: Claudia Wilke und Stella Händler
Kamera: Peter Guyer, Jutta Tränkle, Hans-Peter Eckardt
Montage: Margot Neunert-Maric
Original-Ton: Balthasar Jucker, Volker Zeigermann
Musik: Les Reines Prochaines
Grafik und Animation: Iris Baumann
Mischung: Peter von Siebenthal, Projektstudio GmbH
Sprecherin: Susanne-Marie Wrage
Filmlänge: 77 Minuten
Produktion: freihändler Filmproduktion GmbH
In Koproduktion mit Schweizer Radio und Fernsehen Redaktion Sternstunden
Kinostart: 31.01.2013
Die neu erschienene DVD zur Band "Alleine denken ist kriminell" ist im Freihändler-Verleih erhältlich!
Weiterhören auf AVIVA-Berlin:
Gabby Young
Sophie Hunger - The Danger Of Light