AVIVA-Berlin >
Literatur > Sachbuch
AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 -
Beitrag vom 29.05.2023
Janina Ramirez – FEMINA. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen
Ahima Beerlage
Seit dem Beginn des 16. Jahrhunderts durchforsteten christliche Historiker und Theologen immer wieder die Bibliotheken, um aus ihrer Sicht unwichtige oder schädliche Texte aus dem Bestand theologischer Literatur zu eliminieren. Dabei verwendeten sie das Wort ´Femina´, wenn sie vermuteten, dass der Text von einer Frau verfasst wurde, und damit nicht wert zu sein schien, archiviert und …
... bearbeitet zu werden. Viele bedeutende Texte von Frauen des Mittelalters fielen damit dieser Säuberung zum Opfer. Auf der Suche nach dem weiblichen Blick auf diese längste Epoche christlicher Zeitrechnung hat die Kulturwissenschaftlerin Janina Ramirez daher bewusst diesen Begriff als Titel ihres Buches gewählt.
Dr. Janina Ramirez findet einen überraschenden Einstieg in ihr Thema, denn sie beginnt mit einer tragischen Episode aus der Geschichte der Suffragetten am Anfang des 20. Jahrhunderts. Bei einem Derby in Epsom stürzt eine Frau auf die Rennbahn und versucht, sich dem Pferd des Königs von England in den Weg zu stellen. Das herangaloppierende Pferd trampelt die Frau nieder. Sie stirbt an ihren Verletzungen. Die Schärpe in den Farben Purpur, Weiß und Grün, die sie bei der Aktion trug, sollte sie als Aktivistin der Bewegung für Frauenrechte sichtbar machen. Ihr Name war Emily Wilding Davidson. Der Heldinnenmut der Jeanne d´Arc war ihr bei dieser Aktion ein Vorbild. Die Kämpferinnen für das Frauenstimmrecht Anfang des 20. Jahrhunderts waren fasziniert von den Frauenfiguren des Mittelalters und besonders von der französischen Nationalheldin. Für die Kulturwissenschaftlerin Janina Ramirez steht fest, dass bereits die Suffragetten erkannt haben, dass das Mittelalter eine Zeit (war), in der Frauen mächtig waren, über Einfluss verfügten. Die Aktivistinnen wollten sich Teile dieser Macht zurück erobern. In dieser Tradition sieht sich auch die Autorin.
Die Weitsicht der Königinnen bei der Staatenbildung
Die Kulturwissenschaftlerin und beliebte BBC-Sprecherin Janina Ramirez, die ihrem Publikum Geschichte nahebringen will, schreibt in FEMINA eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen aber keine umfassende Chronik der Epoche aus weiblicher Sicht. Vielmehr wählt sie bestimmte Aspekte weiblicher Macht aus und macht diese an Frauenbiografien, archäologische Funde und Auszüge aus den Werken von Frauen aus verschiedenen Regionen Europas fest.
Eingeschränkte Perspektive - Ohne die prägenden jüdischen Frauen
Sie konzentriert sich dabei auf die Frauen, die im Übergang von regionalen Religionen zum Christentum Einfluss hatten. Die jüdischen Frauen, die beispielsweise in den SchUM-Städten Spira, heute Speyer, Warmaisa, heute Worms, und Magenza, heute Mainz, hohes Ansehen genossen haben, finden hier keine Erwähnung. In den Gebetsräumen der Frauen wurden ihre Texte, Gebete, Predigten und Gedichte vorgetragen. Das belegen Forschungen, die im Rahmen der Ernennung der SchUM-Städte zum UNESCO_Welterbe vorgenommen wurden. Aber auch Ärztinnen wie Rebekka in Salerno, die bereits im dreizehnten Jahrhundert promovierte und später lehrte und Abhandlungen über Fieber, Urin und den Fötus verfasst hat, waren einflussreich. In Spanien konsultierte 1364 Königin Leonor die jüdischen Ärztinnen Ceti und Floreta, um nur einige Beispiele zu nennen. Ramirez hat das leider außer Acht gelassen.
Die christlichen Frauen, denen sie sich widmet, waren Entscheidungsträgerinnen in der Staatenbildung auf der britischen Insel und auf dem europäischen Festland, sie gründeten Klöster und bauten Kirchen, sie förderten die Städtebildung und den Aufbau von Handelszentren und Häfen. Sie bildeten sich, waren Mystikerinnen und Heilpraktikerinnen und schrieben weltliche und theologische Texte.
Birka – im falschen Grab
Lange Zeit ordneten Archäolog*innen Gräber ohne anatomisch erklärbaren Skelettfund durch die Grabbeigaben einem bestimmten Geschlecht zu. Reiche Ausstattung mit Machtinsignien oder Waffen wurden als Männergrab gedeutet. Schmuck und Haushaltsgegenstände oder weniger wertvollen Beigaben galten als Indizien eines Frauengrabes. Die Möglichkeiten der DNA-Analyse an kleinsten Knochenfragmenten stellte diese Annahmen teilweise auf den Kopf. Janina Ramirez erzählt die spannende Geschichte eines reich ausgestatteten Grabes aus Birka, einem Seehandelszentrum in Skandinavien im zehnten Jahrhundert, heute unweit von Stockholm. Das reich ausgestattete Grab war nicht nur die Ruhestätte einer hochgestellten Kriegerin, es weist auch die Wikinger als zivilisierte Seefahrer*innennation aus, deren Verbindungen bis nach Asien reichten. Die Geschlechterrollen der nördlichen Völker, so bezeugen die Funde, waren längst nicht so festgeschrieben, wie es uns so mancher Spielfilm oder manche Serie weismachen will.
Die Kunst der Frauen
Dass Frauen in Buchmalerei, Näharbeiten und Stickerei zu den Kunstschätzen des Mittelalters wesentlich beigetragen haben, ist im französischen Bayeux zu bewundern. Ein siebzig Meter langer Wandteppich gibt die Ereignisse in der Schlacht um Hastings wieder. Ramirez schreibt, Frauen schufen den Teppich von Bayeux. Wer genau diese Frauen waren, wo sie lebten und arbeiteten – das sind Fragen, die wir vielleicht nie werden beantworten können. Wir wissen, dass auf dem Gebiet der Stickerei Künstlerinnen im 11. Jahrhundert den Männern weit überlegen waren. Ramirez deckt damit ein weiteres Problem der Geschichtsrekonstruktion auf. Die Materialien, mit denen Frauen Kunst geschaffen haben, waren weit vergänglicher als Stein und Metall. Dadurch sind Funde wie der monumentale Wandteppich umso wertvoller, um das Können der Frauen zu erforschen.
Der Krimi um Hildegards Codex
Hildegard von Bingen ist eine Ausnahmegestalt ihrer Zeit gewesen. Klug und vorausschauend hat sie ihr Werk kurz vor ihrem Tod aufzeichnen lassen. Der sogenannte "Riesencodex" hatte bereits den Dreißigjährigen Krieg nur knapp überstanden, bevor er für Jahrhunderte sicher behütet wurde. Erst im Zweiten Weltkrieg erlebte er eine Odyssee, die schließlich als Beutekunst in Ostberlin unter der Verwaltung der Sowjetunion endete. Dem wertvollen Buch drohte, für immer in Archiven zu verschwinden. Zwei Frauen, die Mediävistin Margarete Kühn, die unter einem Vorwand, an der Schrift zu forschen, das Original gegen eine andere Schrift austauschte und aus der sowjetischen Zone in Berlin brachte, und ihre Freundin Caroline Walsh, die als Frau eines amerikanischen Soldaten das Buch durch die verschiedenen anderen Besatzungszonen transportierte, schmuggelten das Buch unter Einsatz ihrer Freiheit zu den Nonnen im Kloster St. Hildegard in Eibingen, den Ursprungsort, zurück. Ramirez gibt nicht nur Einblick in diesen Coup, sie erinnert auch daran, welche Ausnahmeperson Hildegard als Künstlerin, Diplomatin, Theologin und Visionärin war.
Hedwig – Einziger weiblicher "König" von Polen
Als Papst Johannes Paul II. in den 1980er Jahren die Selig- und Heiligsprechung der Jadwiga von Polen, auch Hedwig genannt, vorantreibt, steht im Vordergrund, damit ihre Frömmigkeit und ihren Status als Heilige der katholischen Kirche festzuschreiben. Ihre politische und historische Rolle tritt dabei immer mehr in den Hintergrund. Hedwig und Maria, ihre Schwestern, trugen wie nur wenige Frauen in Europa den Titel "Rex" König, und waren zur Wahrung der Grenzen ihres Landes verpflichtet. Ihr Vater hatte per Testament dafür gesorgt, dass sie als Frauen die Thronfolge mit diesem Titel antreten konnte. Hedwig galt in zeitgenössischen Chroniken als kluge Diplomatin und sorgte für die Gründung der Krakauer Universität, obwohl die Universität nicht ihren Namen trägt und ihre maßgebliche Rolle bei der Gründung Heute verschwiegen wird. Die wechselvolle Geschichte Polens, das immer wieder zwischen Großmächten aufgeteilt und zerschlagen wurde, lässt die Rolle der Hedwig, die als König Polen im 14. Jahrhundert aufblühen ließ, als besonders herausragend erscheinen. Heute liegen diese Verdienste unter der großen Heiligenverehrung für die fromme Frau verborgen.
Die unblutigen Waffen der Frauen
Das Leben war für die meisten Frauen des Mittelalters lebensgefährlich. Zeugnis dafür liefert auch die erste englischsprachige Autobiografie, die Margery Kempe zu Beginn des fünfzehnten Jahrhunderts selbst verfasst hat. Als Kauffrau und Händlerin sicherte sie das Wohl ihrer Familie. Durch geschickte Heirat erweitert sie ihr Vermögen, berichtet aber auch, wie sie immer wieder betrogen wird, weil Frauen rechtlich schlechter gestellt waren.
Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus
Als die Kirche immer mehr die britische Insel und das europäische Festland erobert, kommt mit ihr auch Fremdenfeindlichkeit und Antisemitismus in die Gesellschaften. Die Kreuzzüge als Feldzüge gegen die "Ungläubigen" verstärken diese Vorurteile. Aus friedlichem weltweitem Seehandel, der Menschen aus allen Ländern und auch Jüdinnen und Juden einen festen Platz in der Gesellschaft gab, werden Fremdenhass und Pogrome. Um das Volk unter Kontrolle zu halten, schüren Kirche und Machthaber gewaltsame Übergriffe gegen Minderheiten, starke Frauen und vor allem gegen jüdischen Bürger*innen. Ramirez beschreibt das Massaker im Clifford´s Tower in York im Jahre 1190. Die jüdischen Familien wurden im Turm gefangen gehalten und sollten sich unter Todesandrohung zum christlichen Glauben bekennen. Die meisten nahmen sich das Leben. Die restlichen Familien wurden von der aufgehetzten Menge ermordet. 150 Menschen verloren dabei ihr Leben. Der Antisemitismus breitete sich im frühen England aus, bis im Jahr 1290 England das erste Land war, aus dem alle Jüdinnen und Juden mit Gewalt vertrieben waren, so schreibt es Janina Ramirez. In den übrigen europäischen Ländern nahm der Antisemitismus weiter zu, als die Pest ausbrach. Um die Angst und Trauer der Menschen unter Kontrolle zu halten, lieferte man ihnen vermeintliche Schuldige und lenkte ihre Wut gegen alle, die in den Augen der Mehrheit anders waren.
Auch die Rolle der Frauen wird zunehmend die der sündigen Eva, bis dieses Bild durch die keusche Jungfrau und Gottesmutter Maria ersetzt wird. Die Macht der Frauen aus dem frühen Mittelalter schwindet. In der Spanne von eintausend Jahren hat Europa eine radikale Wandlung erfahren, in der die Frauen religiös verbrämt immer mehr ihre starke Rolle verloren haben. Die männerdominierte moderne Geschichtsschreibung hat dazu beigetragen, die wenigen Zeugnisse ihrer Stärke zu vernichten. Janina Ramirez gelingt es, einige dieser mächtigen Frauen des Mittelalters wieder ins Rampenlicht zu holen.
Eine neue Geschichte?
Unklar ist, ob die Autorin oder der Verlag den Untertitel für das Buch ausgewählt haben, aber eine gänzlich neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen schreibt Janina Ramirez nicht. Und doch sind viele Aspekte und Phänomene zu entdecken, die verfälschten und verkürzten Biografien, frauenfeindliche Interpretationen von archäologischen Funden und kirchlichen Vereinnahmungen von Frauenfiguren aufdecken und den genannten Frauen ihre wirkliche Größe und Stärke zurückgeben. Das letzte Kapitel über Identitäten damals und heute ist zwar ein Zugeständnis an aktuelle Diskussionen über Rassismus, Antisemitismus und Geschlechteridentität, aber es nimmt damit den vorhergehenden Aussagen ein wenig die Kraft. Ramirez stellt selbst fest, "es ist problematisch, in der Rückschau Begriffe, die erst vor kurzer Zeit definiert wurden, zu verwenden, um Individuen der Vergangenheit zu beschreiben". Im letzten Kapitel versucht sie aber gerade das. Das Vorhaben kann nicht gelingen, denn es geht nicht allein darum, dass die modernen Begriffe selbst bei den Geschlechtsidentitäten des Mittelalters nicht immer greifen. Ökonomisch sind gerade in den nördlichen Ländern alle Familienmitglieder der arbeitenden Bevölkerung in der Produktion nötig und das Bild von der schwachen Frau und dem starken Mann will nicht so richtig passen. Selbst in adeligen Kreisen haben christliche Frauen feste Machtpositionen, die sie verteidigen als Sohnesmütter oder als Königinnen und König. Als Lesende und Schreibende gewinnen Frauen in Klöstern an Einfluss. In einer theozentrischen Gesellschaft wird Individualität an sich anders bewertet. Das irdische Leben sieht sein Ziel in der himmlischen Erfüllung und weniger in der individuellen Selbstverwirklichung. Auch die Bewertung von Minderheiten ist durch den radikalen Wandel in den Gesellschaften und religiösen Auffassungen nicht auf die Moderne übertragbar.
AVIVA-Tipp:Janina Ramirez ist mit ihrem Buch eine interessante Sammlung neuer Erkenntnisse zur historischen und archäologischen Forschung zu den vergessenen Frauen im Mittelalter gelungen. Voraussetzung ist aber, dass die Lesenden sich vor allem für englische Geschichte interessieren, die den größten Anteil am Buch hat.
Der Einfluss von gelehrten Jüdinnen bis in die obersten Klassen und als Familienvorstände und spirituelle Lehrerinnen in ihren Synagogen-Gemeinden findet leider keine Erwähnung.
Dem Ton des Buches ist anzumerken, dass Janina Ramirez als Sprecherin der BBC daran gewöhnt ist, einem breiteren Publikum ihre Erkenntnisse verständlich zu machen. An mancher Stelle verschwimmt durch den lockeren zeitgenössischen Ton aber die Genauigkeit. Als Beitrag zur Frauengeschichte ist das Buch ein weiterer wichtiger Puzzlestein, doch manche ausschweifenden Passagen machen die Lektüre etwas schwergängig.
Zur Autorin: Janina Ramirez, geboren 1980, ist promovierte Kulturhistorikerin, Literatur- und Sprachwissenschaftlerin und Dozentin und Forscherin in Oxford, Winchester und Warwick. Als BBC-Sprecherin und Autorin von zahlreichen Fachartikeln und Sachbüchern vermittelt sie ihre umfangreiche Expertise und begeistert regelmäßig an ein großes Publikum. Sie lebt mit ihrer Familie in Woodstock. (Verlagsinfos)
Zur Übersetzerin: Karin Schuler, Jahrgang 1965, studierte Latein und Geschichte in Tübingen und Bonn. Sie übersetzt seit 1993 Bücher über Geschichte, Politik, Archäologie, Religionsgeschichte, Ägyptologie und Kunst aus dem Englischen und Italienischen. Zu den von ihr übersetzten Autor*innen gehören John Barton, Peter Brown, Robin Lane Fox, Barbara und Allan Pease, Victor Sebestyen und Yuri Slezkine. (Verlagsinfos)
Janina Ramirez
Femina. Eine neue Geschichte des Mittelalters aus Sicht der Frauen
Originaltitel: ‎Femina. A New History of the Middle Ages, Through the Women Written Out of It
Ãœbersetzung: Karin Schuler
Deutsche Erstausgabe. Aufbau Verlag, erschienen 2023
‎ 522 Seiten
ISBN: 978-3351041816
€ 28,00
Auch als E-Book erhältlich
Mehr zum Buch unter: www.aufbau-verlage.de
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin
Caroline Criado-Perez: Unsichtbare Frauen. Wie eine von Daten beherrschte Welt die Hälfte der Bevölkerung ignoriert. Rebecca Solnit: Recollections of My Non-Existence
Gleich zwei Neuerscheinungen widmen sich der Unsichtbarmachung von Frauen. Während die Autorin und Rundfunkjournalistin Caroline Criado-Perez eine schier unglaubliche Anzahl von Studien und Artikeln ausgewertet hat, die die Nicht-Existenz von Frauen in der Gesellschaft belegen, lädt die Essayistin Rebecca Solnit die Leserin in ihr Leben ein und beschreibt, wie sie wurde, welche sie heute ist. (2020)