Najat El Hachmi – Wir wollen die ganze Freiheit! Ãœber Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest. - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im April 2024 - Beitrag vom 06.05.2023


Najat El Hachmi – Wir wollen die ganze Freiheit! Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest.
Tara Mortazavi

Unter anderem die Revolution im Iran rückt die Diskussion um Frauen(rechte) und den Islam wieder in den Fokus. Die katalanisch-marokkanische Autorin Najat El Hachmi bereichert den Diskurs mit ihrem Manifest um eine eindrucksstarke Perspektive.




Wir wollen die ganze Freiheit! Mit dieser Forderung beschließt El Hachmi ihr Buch. Der Text fasst auf persönlicher und analytischer Ebene ihre Meinung über die Stellung der Frauen im Islam zusammen.

Auf 80 Seiten diskutiert sie, wie Frauen in der Gesellschaft Freiheit erlangen können und welche Symbolik das Kopftuch innehat. Dabei greift sie auf ihre eigenen Erfahrungen als Frau, die das Kopftuch abgelegt hat, zurück. In ihren Publikationen beschäftigt sie sich mit dem islamischen Feminismus, der das eigentliche Problem des Sexismus im Islam jedoch ihrer Meinung nach nicht bekämpfen kann. El Hachmi plädiert für eine Trennung von Staat und Religion. Denn nur dadurch können, so die Autorin, "die Rechte und Freiheiten der Menschen gewährleiste[t] [werden], gleich, welchen Glauben sie haben oder nicht". Genau diese Werte sind für sie der Inbegriff des Feminismus. "Wenn ich Feminismus sage, sage ich Freiheit. Nicht die Freiheit, mir etwas auszusuchen, nicht die Freiheit zum Konsum […]. Ich will nicht, dass mein Leben, meine Meinung, meine Lust und mein Schmerz weniger wert sein sollen als Leben, Meinung, Lust und Schmerz meiner männlichen Mitmenschen. Wenn ich Freiheit sage, sage ich Würde. […] Ich sage Feminismus, um weiterhin vollständige Freiheit einzufordern: eine Freiheit ohne Einschränkungen, eine Freiheit ohne Überwachung."

Ein feministisches Manifest

Mit persönlichen Einblicken in ihr Leben als ehemalige Muslima ermöglicht El Hachmi auch Menschen, die keine Vorstellung davon haben, einen Zugang in das Aufwachsen in einer muslimischen Familie. Dabei steht ihre eigene Rolle als Frau und Feministin im Mittelpunkt. Durch das Teilen ihrer persönlichen Erfahrungen gibt sie einen Einblick in die Situation der Frauen im Islam, welche für sie vor allem von Zwang und Unterdrückung geprägt ist. Dabei ist jedoch wichtig zu betonen, dass sie nicht jede muslimische Frau als unterdrückt ansieht. Sie fordert ein freies Leben für Frauen. Frei von patriarchalen Machtausübungen und mit dem Recht darauf, das Leben selbst zu gestalten. Daher wünscht sie sich eine Umformulierung der feministischen Forderungen. "Nicht, weil sich an ihnen etwas geändert hätte, sondern weil diejenigen, die uns zum Verstummen bringen wollen, ihre Strategie umgestellt haben. Der Sexismus hat gelernt, sich zu verkleiden, sich in neue Theorien, Redeweisen und schillernde Argumente zu hüllen."

Es gibt keinen "einzig wahren Islam"

El Hachmis größte Kritik am Islam ist die weit verbreitete Vorstellung von vielen Muslimen und Muslimas, dass es nur eine "richtige" Art und Weise gibt, ihn zu praktizieren. Für sie ist die Religion auf unterschiedliche Weise interpretierbar. Die Dogmen, die auf ein "richtiges Praktizieren" pochen, seien weitere Unterdrückungswerkzeuge, um Frauen zu kontrollieren. Vor allem kritisiert sie den islamischen Fundamentalismus, der es geschafft hat, sich weltweit als der "wahre Islam" durchzusetzen und Frauen mithilfe ihres Glaubens zu unterdrücken. Dies sei jedoch nicht nur im Islam der Fall. Jede der drei monotheistischen Religionen "wurde […] von Männern ersonnen, verbreitet und durchgesetzt, als Teil des Systems, mit dem sie ihre Macht sichern, the artist formerly known as Patriarchat." Deswegen sei, so Najat El Hachmi weiter, "die Religion meiner Eltern eine Anleitung zur Unterwerfung der Frau unter die männliche Macht, eine systematische Einschränkung meiner Grundrechte."

Islamischer Feminismus und die Linke

Ein weiterer großer Kritikpunkt von Najat El Hachmi ist der Umgang der politischen Linken im Westen mit dem islamischen Fundamentalismus. Denn diese würde sich, so die Autorin, aus Fragen und Kritik zum Sexismus im Islam heraushalten, aus Angst, als islamophob dargestellt zu werden. So würden muslimische Frauen in ihrem Kampf für ihre Rechte allein gelassen und bekämen keine Unterstützung von westlichen Feminist*innen. Diese Kritik prangert die derzeitige Praktik an, dass sich nur muslimische Frauen öffentlich zum Sexismus im Islam äußern können. Es wird außer Acht gelassen, dass für muslimische Frauen eine Abwendung von den islamischen Werten oft der Ausschluss aus der familiären Gemeinschaft bedeutet oder sie sich dadurch sogar in Gefahr bringen.
El Hachmi plädiert für einen Feminismus, der alle Frauen mitdenkt und nicht im Sinne einzelner Personengruppen aufgespalten wird. Es solle keine getrennten feministischen Bewegungen für Schwarze Frauen, Roma-Frauen, muslimische Frauen geben. Jüdische Frauen führt sie in ihrem Buch nicht auf.

Das Patriarchat ist der Gegner

Diese Spaltungen im feministischen Kampf würden laut Najat El Hachmi eher dazu führen, dass Frauen sich selbst bekämpfen, anstatt das eigentliche Problem anzugehen. Im Endeffekt sei und bleibe der Gegner des Feminismus das Patriarchat und seine Strukturen, von denen jede Frau, egal ihrer Hautfarbe, Religion oder Sexualität, betroffen ist.
Die Kritik am Patriarchat ist ein wiederkehrendes Thema in El Hachmis Werken. In ihrem 2022 erschienenen Roman "Am Montag werden wir uns lieben" zeichnet sie den Kampf einer jungen muslimischen Frau nach, die aus den religiösen und kulturellen Zwängen ihres Umfelds ausbricht und für ihre Freiheit kämpft.

In einem Interview mit der taz sagt El Hachmi: "[Die Protagonistin] (Anm.d.Red.) glaubt, dass alles besser würde, wenn sie aus den patriarchalen Strukturen des familiären Umfelds ausbricht. Dass sie endlich die Frau sein kann, die sie sein will. Nur um festzustellen, dass auch die westliche Welt von Misogynie durchzogen ist, dass auch dort das Patriarchat herrscht. Mit anderen Regeln zwar, aber dennoch weit von wirklicher Gleichberechtigung entfernt."

AVIVA-Tipp: "Wir wollen die ganze Freiheit!" leistet einen wichtigen Beitrag zur Debatte rund um den Sexismus und die Stellung der Frauen im Islam. Anhand sehr persönlicher Einblicke bietet Najat El Hachmi eine feministische Analyse des Islam, die kaum durch ein Gegenargument zu entkräften ist.

Zur Autorin: Najat El Hachmi, geboren 1979, ist eine katalanisch-marokkanische Autorin, die in Barcelona lebt. Sie zog im Alter von acht Jahren mit ihrer Familie von Marokko nach Katalonien. Ihre vielfach ausgezeichneten Werke beschäftigen sich mit den Themen Identität, kulturelle Verwurzelung und der Bedeutung des Frauseins in der muslimischen Kultur. "Der letzte Patriarch", "Eine fremde Tochter" und "Am Montag werden wir uns lieben" sind drei ihrer insgesamt acht Publikationen, welche ins Deutsche übersetzt wurden. Weiterhin arbeitet sie auch als Journalistin und Kolumnistin für wichtige spanische Zeitungen wie beispielsweise El País.
Instagram: @najat_el_hachmi

Najat El Hachmi: Wir wollen die ganze Freiheit! Über Feminismus und Identität. Ein notwendiges Manifest
Aus dem Katalanischen von Michael Ebmeyer
Originaltitel: Siempre han hablado por nosotras: Feminismo e identidad. Un manifiesto valiente y necesario.
Orlanda Verlag, erschienen 2023
104 Seiten, Klappenbroschur
ISBN (Print) 978-3-949545-34-4
Preis (Print) € 17,-
ISBN (eBook) 978-3-949545-35-1
Preis (eBook) € 14,99
eBook Format ePUB
Mehr zum Buch unter: www.orlanda.de

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Beitrag vom 06.05.2023

AVIVA-Redaktion