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Beitrag vom 06.04.2022
Alice Bota: Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit
Bärbel Gerdes
Die Politikjournalistin Alice Bota klärt in ihrem spannend und bedrückend zu lesenden Buch über die belarussische Revolution auf, die im Zuge der Pandemie erwachte und brutal niedergerungen wurde. Ganz besonders stellt sie dar, dass Frauen es waren, die mutig aufstanden und sich dem Lukaschenko-System entgegenstellten.
Wie anfangen mit einer Rezension über ein Buch, dessen Vorwort im Juni 2021 geschrieben wurde – vor nicht langer Zeit also und doch in einer vollkommen anderen Zeit?
Der entsetzliche Angriffskrieg Russlands auf die Ukraine und die furchtbaren Gräueltaten, die russische Soldaten den ukrainischen Menschen antun, die geplante Vernichtung ganzer Städte und das Überschreiten aller Konventionen und Vereinbarungen findet sein innenpolitisches Pendant in einem Regime, das das eigene Volk gefangen nimmt in Desinformation und Strafaktionen und es in einem ständigen Zustand der Angst belässt.
Dieser Krieg nutzt innenpolitisch Alexander Lukaschenko, jenem Machthaber, der seit 1994 in Belarus herrscht und einen Staat gebildet hat, der allein auf ihn ausgerichtet ist: Regierung, Presse, Fernsehsender, Sicherheitsapparat, das Militär. Der einen Staat geschaffen hat, in dem es zwar in den vergangenen Jahren leise gärte und in dem sich Unzufriedenheit über die stagnierende Wirtschaft, sinkende Einkommen und staatliche Gängelungen breit machte, in dem die meisten EinwohnerInnen jedoch in Apathie versanken. Das Gefühl, doch nichts ausrichten zu können, einhergehend mit der Furcht vor Repressionen, sorgte dafür, dass sie vor vielem die Augen verschlossen. Innerhalb des Systems gab es immer schon begrenzte Freiheiten, solange man sich aus der Politik heraushielt.
Diese Apathie veränderte sich ab März 2020 mit dem Ausbruch der Pandemie. Das Resultat einer vollkommen verfehlten Corona-Politik führte zu breiten Protesten, die zu einer demokratischen Bewegung anwuchsen. Ihren Höhepunkt fand sie nach Lukaschenkos Wahlfälschung im August 2020. Der Protest wurde grausam und brutal niedergeknüppelt – doch der Keim einer Demokratiebewegung war gesät.
Für einen Augenblick richtete sich das Augenmerk des Westens auf die Geschehnisse in Belarus, gab es Solidaritätsbekundungen, zeigte "man" sich schockiert, doch es gab nur wenig Unterstützung aus dem Westen.
Diese Ereignisse beschreibt die langjährige Politikredakteurin der ZEIT, Alice Bota, spannend und lebendig in ihrem Buch. Ihr geht es vor allem um die Frauen, die diese Revolution mutig anführten und vorantrieben.
Swetlana Tichanowskaja, eine Englischlehrerin und zweifache Mutter, Maria Kolesnikowa, eine in Stuttgart engagierte Flötistin und Veronika Zepkalo, IT-Managerin und ebenfalls zweifache Mutter kamen zu ihren politischen Rollen durch die Umstände, nicht, weil sie sich vorher politisch engagierten.
Als im März 2020 die Pandemie ausbricht, reagiert der belarussische Staat zunächst durchaus umsichtig. Das Gesundheitsministerium klärt auf, es werden Corona-Tests durchgeführt, täglich wird auf unterschiedlichen Kanälen über das aktuelle Geschehen informiert. Doch das Infektionsaufkommen verstärkt sich. Alexander Lukaschenko fürchtet die wirtschaftlichen Folgen eines Lockdowns und geht in die Gegenbewegung: er spielt das Virus herunter und zweifelt sogar seine Existenz an. Während in allen umliegenden Staaten Maßnahmen getroffen werden, geht das Leben in Belarus fast ungestört weiter. Selbst an der Siegesparade am 9. Mai hält Lukaschenko fest, obgleich die teilnehmenden Veteranen weit über 80 Jahre alt sind und Tausende Belarussinnen und Belarussen eine Petition unterschreiben, damit die Feier abgesagt wird.
Die BürgerInnen ergreifen eigene Maßnahmen: Kinder werden nicht mehr in die Schule geschickt, Firmen gewähren ihren Mitarbeitenden Homeoffice, öffentliche Verkehrsmittel werden weitgehend vermieden.
Die Regierung reagiert nicht – und Lukaschenko verliert in dieser Zeit jene, die ihm bisher die Treue hielten: die Frauen. 55 % der Wählenden in Belarus sind weiblich. Sie verdienen weitaus schlechter als Männer, sie sind besonders stark vertreten in den Schulen und Kindergärten, Krankenhäusern und Pflegeheimen. Sie sind es, die die Folgen der verfehlten Corona-Politik hautnah miterleben.
Swetlana Tichanowskaja lebt mit ihrer Familie wie in einem Treibhaus, wohlig, gedeihlich, geschützt. Veronika Zepkalo plant mit ihrem Mann dessen politische Karriere. Maria Kolesnikowa, die seit 13 Jahren zwischen Stuttgart und Minsk pendelt, zieht aufgrund der Pandemie zurück in ihr Heimatland. Es sind nicht diese drei Frauen, die politisch etwas ändern wollen, sondern deren Männer: als Tichanowskajas Mann Sergej bei der Wahl 2020 gegen Lukaschenko antreten will, sitzt er in Haft und kann die benötigten Dokumente nicht einreichen. Seine Frau beschließt kurzerhand selbst zu kandidieren. Als er aus der Haft freikommt, macht er ihre Sache zu seiner: er sammelt Unterschriften und reist durchs Land. Unter fadenscheinigen Gründen wird er im Mai 2020 festgenommen – seither hat Swetlana Tichanowskaja ihren Mann nicht mehr gesehen.
Auch Veronika Zepkalos Mann wollte kandidieren, genauso wie Maria Kolesnikowas Freund Viktor Babariko.
Die drei Frauen, die eigentlich Konkurrentinnen sein müssten, fällen eine kluge Entscheidung: sie bündeln die Kräfte, einigen sich über ihre wichtigsten Ziele und auf Swetlana Tichanowskaja als Präsidentschaftskandidatin.
Alice Botas Buch verfolgt spannend wie ein Krimi den Kampf um die Wahl in Belarus, der maßgeblich von Frauen geprägt ist. Nicht nur von diesen drei Frauen, sondern vor allem auch von den Bürgerinnen des Landes, die diesen Wahlkampf kreativ unterstützen. Es mag kein feministischer Kampf sein, es geht nicht um Frauenrechte – es geht um die Freiheit eines ganzen Landes.
Nach der dreisten Wahlfälschung Lukaschenkos im August 2020 vergrößert sich der Protest. Tausende Menschen gehen auf die Straße, kämpfen für faire Wahlen und für die Anerkennung des Wahlergebnisses. Dieser Protest wird grausam und blutig niedergeschlagen, Tausende werden verhaftet.
Erbost ist Alice Bota über das Zögern des Westens und insbesondere über das Ausbleiben der Berichterstattung feministischer Medien. Obgleich der Protest so stark von Frauen geprägt ist, berichtet keines der feministischen Medien darüber, weder im Online-Magazin Pinkstinks noch im Missy Magazine. Die Emma berichtet drei Monate nach der Wahlfälschung das erste Mal in einem knappen Artikel über Maria Kolesnikowa.
Alice Bota erinnert daran, dass Alice Schwarzer 2014 nach der Annexion der Krim in einem ausführlichen Artikel ihr Verständnis für Wladimir Putin zum Ausdruck brachte. Bota erinnert an die mediale Aufmerksamkeit und an die Demonstrationen die z.B. das Abtreibungsverbot in Polen oder der Mord an dem US-Amerikaner George Floyd herbeiführten.
Als Maria Kolesnikowa im nur 1100 km von Berlin entfernten Belarus verschleppt wurde, gab es in den sozialen Medien keine Hashtags und auf den Straßen keine Solidaritätsbekundungen.
Die feministische Bewegung ignoriert den Mut und den Kampf der belarussischen Frauen – vielleicht aus einer gewissen Hochnäsigkeit heraus – vielleicht, weil die Proteste keine feministische Agenda haben.
Alice Bota will mit ihrem Buch eine Übersetzungshilfe schaffen, um eine Gesellschaft, die in Deutschland fern und fremd erscheint vertrauter zu machen. Für dieses Buch musste sie schmerzhafte Kompromisse eingehen. Anders als geplant, konnte sie die Belarussinnen nicht persönlich treffen. Seit Herbst 2020 hat Lukaschenkos Regime allen ausländischen Korrespondenten und Korrespondentinnen die Akkreditierung entzogen, ironischerweise mit der Begründung der Pandemie.
Alice Botas überaus lesenswertes und engagiertes Buch, das uns die Begegnung zahlreicher Frauen im Gespräch ermöglicht, erschien, wie oben geschrieben, im Juli des vergangenen Jahres.
Ihre tiefen Einblicke in eine Gesellschaft, die von einem autoritären und didaktorischen Präsidenten geführt wird, gibt der Leserin eine tiefe Einsicht in das, was auch mit Russlands Bevölkerung geschieht.
Und sie gibt einen schwarzen Ausblick in die Zukunft, der durch den Ukraine-Krieg noch schwärzer geworden ist. Zwar sei es schwer vorstellbar, dass sich Lukaschenko noch lange an der Macht halten kann, entschieden werde der Kampf der Belarussinnen und Belarussen jedoch nicht in Minsk, sondern in Moskau. Dem Kreml geht es darum, eine Demokratisierung der belarussischen Gesellschaft zu verhindern, schreibt sie. Der Kreml könne nicht einfach einen demokratischen Volksaufstand beim verbündeten Nachbarn dulden.
AVIVA-Tipp Die Frauen von Belarus zeigen mit ihrem Mut und ihrem Protest, wie ein ganzes in Furcht gehaltenes Volk aus einer Apathie erwachen und Dinge verändern kann. Alice Bota hat ein wichtiges und ein sehr aktuelles Buch geschrieben, das dazu führen sollte, dass wir endlich hinsehen, was in Belarus, in Russland, in Osteuropa geschieht.
Zur Autorin: Alice Bota, 1979 in Krapkowice, Polen, geboren, lebt seit 1988 in Deutschland. Sie studierte in Kiel Neuere Deutsche Literatur, Politikwissenschaft und Soziologie und ab 2001 in Posen (Polen) Internationale Beziehungen. In Berlin und Potsdam setzte sie ihr Studium der Politik- und Literaturwissenschaft fort. 2005 ging sie an die Deutsche Journalistenschule in München. Alice Bota arbeitet seit 2007 als Politikredakteurin bei Die Zeit mit dem Schwerpunkt Osteuropa. Sie erhielt für ihre journalistische Arbeit zahlreiche Auszeichnungen, u.a. den Nannen-Preis, den Axel-Springer-Preis und den Deutschen Journalistenpreis Wirtschaft | Börse | Finanzen. Sie lebt in Hamburg.
twitter.com/AliceBota
Alice Bota
Die Frauen von Belarus. Von Revolution, Mut und dem Drang nach Freiheit
Berlin Verlag, erschienen am 29. Juli 2021
240 S., Klappenbroschur
ISBN 978-3-8270-1442-9
Euro 18,00
Zum Buch: www.piper.de
Lesung mit Alice Bota auf Youtube: www.youtube.com
Mehr:
Interview "Women and Feminism in Belarus: The Truth behind the "Flower Power" (englisch), geführt von Luba Fein im September 2020 mit Irina Solomatina für "FiLiA", einer Women-led Volunteer Organisation, die sich als Teil des Women´s Liberation Movement versteht, ihr Sitz ist im Women´s Resource Centre in London.
"Razam" ist der belarussische Name für eine Webseite und einen Verein, der am 9. August 2020, dem Tag der Präsidentschaftswahl in Belarus in Deutschland gegründet wurde und übersetzt "gemeinsam" heißt. Der Verein will die Menschen "bei ihrem Streben nach freien Wahlen und einem Ende der staatlichen Gewalt" unterstützen und versteht sich als "erste Interessenvertretung von und für in Deutschland lebende Belaruss*innen". www.razam.de
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