NSU-Watch - Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 14.10.2020


NSU-Watch - Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess
Helga Egetenmeier

Über fünf Jahre begleitete die bundesweit aktive Initiative NSU-Watch das Gerichtsverfahren zu der rechtsterroristischen Mord- und Anschlagsserie des sogenannten "Nationalsozialistischen Untergrunds" (NSU) in München. Mit ihrem Buch zeigen sie, wie wichtig ihre Beobachtungen an jedem einzelnen Verhandlungstag waren,...




...um diesen Justizskandal nachzuweisen, der bestimmt ist von Verschleierung, Ignoranz und angeblichen Gedächtnislücken. Präzise belegen sie den tief sitzenden Rassismus in den deutschen Staatsapparaten, der Rechtsextremismus schützt, anstatt ihn zu verurteilen.

Das Autor*innen-Kollektiv NSU Watch nimmt bei seiner Prozessanalyse die Ermordeten und deren Angehörige in den Mittelpunkt. Die Autor*innen dokumentieren, wie die Hoffnungen der Nebenkläger*innen auf Aufklärung und Rehabilitierung im Laufe der Gerichtsverhandlung immer geringer wurde. Doch das Verfahren, wie auch das Gerichtsurteil, konnten den Kampfgeist der Betroffenen nicht unterdrücken, was auch an der Unterstützung und Solidarität lag, die die Nebenkläger*innen erfuhren, wie NSU-Watch betont.

NSU Watch - Prozessbeobachtungen und Analysen

Die Initiative NSU-Watch gründete sich im Jahr 2012 als ein Bündnis von rund einem Dutzend antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet. Diese wollten "die Deutungshoheit über den NSU nicht den Behörden überlassen", und mit ihrer vollständigen Dokumentation "eine außerparlamentarische Aufklärung und Analyse [...] stärken." Als zentrale Aufgabe gilt ihnen, neben der Prozessbeobachtung, die Vermittlung von Wissen über Neonazis und den NSU. Dazu haben sich in den Bundesländern Sachsen, Brandenburg, Hessen, Nordrhein-Westfalen und Baden-Württemberg, sowie zum 2. Bundestags-Untersuchungsausschuss eigene NSU Watch-Gruppen gebildet. Angesiedelt ist die Gruppe Ehrenamtlicher bei dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz) und der Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München (a.i.d.a.).

An 438 Verhandlungstagen - der Prozess begann am 6. Mai 2013 und dauerte fünf Jahre und zwei Monate - saßen die Beobachter*innen im Saal A 101, dem größten Gerichtssaal im Strafjustizzentrum in München. Sie veröffentlichten die Mitschriften auf ihrer Webseite, teilweise mit Übersetzungen ins Englische und Türkische, ergänzt durch Einschätzungen und Hintergrundrecherchen. Am 11. Juli 2018 wurde das Urteil verlesen, das, wie NSU-Watch es im Kapitel "Perspektiven" beschreibt, unter den anwesenden Neonazis Jubel auslöste. Die schriftliche Urteilsbegründung wurde erst einen Tag vor Fristablauf, am 21. April 2020, im Gericht eingereicht. Dazu die Einschätzung von NSU-Watch "Indem der Senat die Verfahrensbeteiligten und die Öffentlichkeit derart lange hat warten lassen, hat er auch die weitere Aufklärung behindert."

Die Nebenkläger*innen - zugedachte und erkämpfte Rollen

Anhand einer vom Gegenfeuer, "Büro für politische Gestaltung", erstellten und auf Seite 20 des Buches abgedruckten Grafik, zeigen die Autor*innen, wie schon mit der Zuteilung der Plätze im Gerichtssaal Einfluss auf den Prozessablauf genommen wurde. Der abgeschiedenste Bereich wurde den Nebenkläger*innen zugewiesen, sie saßen unter einer theaterartigen Empore. Über ihnen, und dadurch für sie unsichtbar, hatten die Besucher*innen und die Presse ihre Sitzplätze. An der linken Seite vor der Nebenklage saßen die Angeklagten mit ihren Verteidiger*innen, die den gesamten Raum, samt Empore, im Blick hatten. Dadurch mussten die Betroffenen der rechtsradikalen Morde und Angriffe die Täter*innen unausgesetzt sehen, es fehlte ihnen dagegen der unterstützende Blickkontakt zu den Besucher*innen.

Doch nicht nur die Raumverteilung zeigte, welch geringe Bedeutung das Gericht der Nebenklage zugestand. NSU-Watch fiel auch die autoritäre und machtbewusste Verhandlungsleitung des Vorsitzenden Richters Manfred Götzl auf, die er besonders gegen die Nebenkläger*innen und ihre Vertreter*innen einsetzte. Dagegen bemerkten sie "die Langmut, mit der Götzl Zeug*innen aus der Nazi-Szene begegnete." Auch gab es während des gesamten Gerichtsverfahrens für die über Jahre erfolgten rassistisch motivierten falschen Verdächtigungen gegen die Ermordeten, ihre Familien und gegen die Überlebenden der Anschläge, keine Worte der Entschuldigung. Es erfolgte auch keine Erklärungen dazu, weshalb die Hinweise von Angehörigen auf mögliche rechte Hintergründe beständig ignoriert worden waren.

Wie NSU-Watch zeigt, verdeutlichte die Nebenklage - die von offizieller Seite nur als Randerscheinung vorgesehen war - mit ihrer Vielfalt an Blickwinkeln und Meinungen, was im Prozess fehlte. Auch wenn ihre Beweisanträge meistens abgelehnt wurden, wurden sie in der öffentlichen Verhandlung verlesen und machten dieses Wissen bekannt. Die Solidarität und starke Selbstorganisation der Betroffenen und ihrer Freund*innen zeigte sich auch nach der mündlichen Urteilsverkündung. Durch aktive Medienarbeit und eine Kundgebung unter dem Motto "Kein Schlussstrich" erhielten sie an diesem Tag die Aufmerksamkeit der Presse.

NSU-Komplex - Gegen das Narrativ der Einzeltäter*innen

Durch ihre tägliche Anwesenheit beim Prozess gelang NSU-Watch eine detailreiche Beobachtung der beteiligten staatlichen Stellen bei Bundesanwaltschaft und Senat. Im Fokus stand dabei die Bundesanwaltschaft mit ihrer eng geführte Formulierung der Anklageschrift. Diese Staatsanwaltschaft des Bundes ist als Teil der Exekutive dem Bundesjustizministerium gegenüber weisungsgebunden und "gilt deshalb als politische Behörde". Insofern kritisieren die Autor*innen die staatliche Weisung, keine verzweigten rechtsextremen Strukturen zu untersuchen, sondern sich auf das dreiköpfig definierte Kerntrio mit kleinem Unterstützungsumfeld zu konzentrieren. Das Gericht, in diesem Fall der 6. Strafsenat am OLG München, hätte mit seiner "Aufklärungspflicht" (§ 244) als "Machtzentrum des Strafprozesses" seine weitreichenden Gestaltungsmöglichkeiten nutzen können, um das Narrativ von Einzeltäter*innen in Frage zu stellen und der Nebenklage mehr Raum zu geben, wie die Autor*innen detailreich analysieren.

NSU-Watch zeigt durch seine genaue Beobachtung dieses Gerichtsprozesses das Desinteresse der Bundesanwaltschaft und des Senats, die Hintergründe des Neonazi-Netzwerkes um den NSU, seine Unterstützer*innen und die Verankerung in der rechtsradikalen Szene umfänglich aufzuklären. Die Frage bleibe, weshalb sich rassistische Ignoranz und Blindheit gegenüber dem Rechtsterrorismus durch die staatlichen Stellen zieht, obwohl sie im Prozess ihre behördliche Unfehlbarkeit zelebrierten. Denn schon die damalige Suche der Polizei nach den Schuldigen habe gezeigt, dass die Behörden "völlig falsch lagen" und jahrelang fehlerhaft - aus Rassismus oder Unfähigkeit - ermittelten. Denn wie sollten diese drei Neonazis dreizehn Jahre lang in Chemnitz und Zwickau leben, zehn Menschen ermorden, drei Bombenanschläge verüben, mindestens 26 Menschen zum Teil schwer verletzen, mindestens fünfzehn Raubüberfälle begehen, ohne dass sie jemand unterstützt hätte.

Obwohl unter den befragten 541 Zeug*innen 216 Polizist*innen waren, wurde weder die Frage geklärt, warum es der polizeilichen Zielfahndung nach 1998 nicht gelungen war, die geflüchteten Neonazis aufzuspüren, noch, weshalb diese schweren Straftaten trotz Informant*innen nicht aufgedeckt wurden. Doch dank der Protokolle von NSU-Watch gibt es neben der Erinnerung an neonazistische Gewalt verharmlosende Aussagen von Beamt*innen, wie "Ich hab noch nie einen Neonazi auf einem Fahrrad gesehen.", viele Hinweise auf institutionellen Rassismus. Dass der Gerichtsprozess keine Antworten suchte, sondern das erschreckende Versagen der Polizeibehörden und der Verfassungsschutz-Ämter ignorierte, zeigt NSU-Watch, und beweist damit, dass von einem Justizskandal gesprochen werden muss.

Obwohl seit Jahren rechtsextreme Tendenzen bei Polizist*innen immer wieder durch die Presse aufgezeigt werden, wie bei den Pegida-Demonstrationen in Dresden, den Morddrohungen gegenüber Politiker*innen und Anwält*innen sowie Privatpersonen bzw. Personen aus dem öffentlichen Leben, deren Adressen nur über Polizei-Computer abgerufen werden konnten, nimmt weder die Politik noch die Justiz dieses Ausmaß an rechten Netzwerken bei den Polizeibehörden ernst. Aktuell sehen wir in Nordrhein-Westfalen, dem Bundesland, in dem der NSU am 9. Juni 2004 eine Nagelbombe fernzündete, dass Rechtsextremismus innerhalb der Polizei keine Einzelfälle oder "Entgleisungen einzelner Beamt*innen sind. Mittlerweile wird gegen dreißig Polizist*innen ermittelt.

AVIVA-Tipp: NSU-Watch weist durch ihre jahrelange Prozessbeobachtung, die nach intensiver Recherche nun in diesem Buch zusammengefasst ist, institutionellen Rassismus bei den Behörden in Deutschland nach, der zu diesem großen Justizskandal führte. Gleichzeitig bezeugen die Autor*innen damit, wie demokratische Staatsapparate Rechtsextremismus verharmlosen und unterstützen. Das Buch sollte Pflichtlektüre in den Schulen sein, um über rassistische Strukturen innerhalb demokratischer Staatsapparate aufzuklären.

Für ihren Einsatz gegen Rechtsextremismus erhielt NSU-Watch folgende Preise und Auszeichnungen:
2020: Grimme Online Award - Preis für kontinuierliche Teamarbeit
In ihrer Begründung schreibt die Jury, dass NSU-Watch herausragend vorlebt, "was lebendige, wache und engagierte zivilgesellschaftliche Organisationen mittels des Internets in der Lage sind zu tun: Missstände beständig festhalten und die Öffentlichkeit transparent darüber informieren."
2014: Stiftung Auschwitz-Komitee - Hans-Frankenthal-Preis
2014: Alternativer Medienpreis - 1. Platz in der Kategorie Internet
2013: Journalist des Jahres - Sonderpreis
2013: Otto Brenner Preis - Medienprojektpreis

Zu den Autor*innen: NSU-Watch ist ein Bündnis aus rund einem Dutzend antifaschistischer und antirassistischer Gruppen und Einzelpersonen aus dem ganzen Bundesgebiet Die Initiative hat sich im Jahr 2012 aus der Befürchtung heraus gegründet, dass bei dem bevorstehenden Strafverfahren gegen Beate Zschäpe kein umfassendes amtliches Protokoll erstellt werden würde . Zum 2. April 2013, kurz vor Beginn des NSU-Prozesses, nahm NSU-Watch seine Arbeit mit dem Ziel auf, die unabhängige Aufklärung zum NSU und dessen Verbrechen voranzutreiben und die Sicht der Betroffenen in den Vordergrund zu rücken. Angesiedelt ist das Projekt bei dem Antifaschistischen Pressearchiv und Bildungszentrum Berlin (apabiz) und bei der Antifaschistischen Informations-, Dokumentations- und Archivstelle München (a.i.d.a.). Zu den Unterstützer*innen gehören das antirassistische Bildungsforum Rheinland, das Antifa-Recherche-Team Dresden, das Forschungsnetzwerk Frauen und Rechtsextremismus, wie auch die Zeitschriften Antifaschistisches Infoblatt, Der Rechte Randund Lotta.

Die Autor*innen im Netz: NSU Watch auf Twitter

NSU-Watch
Aufklären und Einmischen. Der NSU-Komplex und der Münchener Prozess

Verbrecher Verlag: August 2020
Taschenbuch, 224 Seiten
ISBN-13: 978-3-95732-422-1
18,00 Euro
www.verbrecherverlag.de

Weitere Infos unter:

www.nsu-watch.info
Webseite von NSU Watch, in Türkisch, Englisch und Deutsch, mit Links zu NSU Watch in Sachsen, BRB, Hessen, NRW und BaWü, wie auch zum NSU Watch Bundestag.

www.nsu-watch.info
Der Link führt zu einem kurzen Erklärfilm (3:56 Minuten) vom September 2020 zum Ende des NSU-Prozesses auf der Webseite von NSU-Watch

www.keupstrasse-ist-ueberall.de
Die Initiative "Keupstraße ist überall" unterstützt die Betroffenen des Nagelbombenattentats, dass am 9. Juni 2004 vom NSU in Köln verübt wurde. Die Recherche der Polizei zur Aufklärung des Anschlags wandte sich ausschließlich und rassistisch gegen die türkischen Bewohner*innen in der Keupstraße.

www.belltower.news
Interview mit der Beratungsstelle "response" für Betroffene von rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt in Hessen, dem bayerischen Bündnis "Gegen Naziterror und Rassismus" und der "Initiative zur Aufklärung des Mordes an Süleyman Tasköprü" über die Arbeit nach dem Urteil im ersten NSU-Prozess, die Kontinuität rechter und rechtsterroristischer Gewalt und was das für Betroffene bedeutet.

twitter.com/opferfondscura
Der Opferfonds CURA unterstützt Betroffene rechter, rassistischer und antisemitischer Gewalt und berichtet über die # NSU-Morde und den #Halle-Prozess

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Halle ist überall – Stimmen jüdischer Frauen. Mit Fotos von Sharon Adler und anderen. Herausgegeben von Nea Weissberg, Lichtig Verlag
"Mutig sein, stark bleiben". In emotionalen wie analysierenden Beiträgen reflektieren die in dieser Anthologie vertretenen zwanzig Jüdinnen der I., II. und III. Generation ihre persönlichen Erfahrungen, Gedanken und Gefühle zu ihrem Leben als Jüdin in Deutschland – vor und nach Halle. Ein Jahr nach dem Anschlag auf die Betenden in der Synagoge in Halle an der Saale an Yom Kippur dem höchsten jüdischen Feiertag, macht die Verlegerin Nea Weissberg mit diesem Buch ihre Stimmen sichtbar. (2020)

Regina Schmeken - Blutiger Boden. Die Tatorte des NSU. Ausstellung vom 29. Juli bis 19. November 2017 im Martin-Gropius-Bau Berlin
Die mehrfach international ausgezeichnete Fotografin gedenkt mit ihrer Fotoserie den vom NSU Ermordeten und setzt sich mit jenen Orten auseinander, die auf den ersten Blick keinerlei Spuren einer Gewalttat aufweisen. Die nur scheinbare Unschuld der Tatorte ist es, die den Aufnahmen ihre verstörende Beklommenheit verleiht. (2017)

Das Kartell der Verharmloser - Wie deutsche Behörden systematisch rechtsextremen Alltagsterror bagetellisieren
Im Auftrag der Amadeu Antonio Stiftung reiste die Journalistin Marion Kraske durch acht Bundesländer, um die Arbeit von Initiativen gegen rechte Gewalt zu dokumentieren. Dabei entstand ein ernüchternder Bericht über systematisches Staatsversagen, der ab sofort bei der Amadeu Antonio Stiftung bestellt werden kann. (2012)



Literatur > Sachbuch

Beitrag vom 14.10.2020

Helga Egetenmeier