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Beitrag vom 16.05.2020
Sibylle Berg - NERDS retten die Welt. Gespräche mit denen, die es wissen
Sharon Adler, Helga Egetenmeier
Während der Arbeit an ihrem Roman » GRM – Brainfuck « sprach die Dramatikerin und Kult-Autorin Sibylle Berg über zwei Jahre hinweg mit Expert*innen verschiedenster Disziplinen über den Zustand der Welt, und darüber, ob es überhaupt noch Hoffnung für sie gibt. Ihre Interviews, erstabgedruckt in ihrer Kolumne im digitalen Magazin "Republik", sind im März 2020 als gebundenes Buch bei Kiepenheuer&Witsch erschienen. Entstanden ist ein leidenschaftliches Plädoyer gegen Intoleranz und Profitgier, getragen von Frau Bergs pointierten Fragen und den klugen Antworten der Wissenschaftler*innen.
Gespräche geführt hat Sybille Berg mit sieben weiblichen und neun männlichen Wissenschaftler*innen, darunter mit Systembiolog*innen, Neuropsycholog*innen, Kognitionswissenschaftler*innen, Meeresökolog*innen, Konflikt- und Gewaltforscher*innen, Philosoph*innen, Politolog*innen und einer Künstlerin.Mit ihnen tauschte sich Frau Berg intensiv über die Bedeutung ihrer Fachgebiete und Erkenntnisse ihrer Forschungen für die globale Gesellschaft aus.
Auf ihre Einstiegsfrage: "Haben Sie sich heute schon um den Zustand der Welt gesorgt?" überraschten nur zwei Interviewte mit einem klaren "Nein". Die differenzierteste Antwort kam von der Politikwissenschaftlerin Emilia Zenzile Roig, die am Center for Intersectional Justice (CIJ) zur Abschaffung der strukturellen Ungleichheit in Europa arbeitet. Sie habe sich nicht gesorgt, weil sie nur unregelmäßig Zeitung lese, aber trotzdem keine wichtigen Nachrichten verpasse. Die Folgerung, die Berg daraus zieht, scheint treffend ihre eigene Idee zum Buch zu beschreiben. Denn dies sei "sicher sinnvoll, um sich nicht an der Weltbeschaffenheit zu erregen, die man nicht verändern kann, sondern sich auf den Wirkbereich zu konzentrieren, den man zu beeinflussen vermag".
Mit ihrer zweiten Frage "Können Sie Ihre Tätigkeit in drei Sätzen beschreiben?" gibt Berg "denen, die es wissen" den Raum, sich und ihre Arbeit vorzustellen. Danach befragt sie die in Politik und Alltag zu selten gehörten Expert*innen gezielt nach ihren Forschungen. Durch ihren assoziativen und provokanten Fragestil arbeitet sie die Leidenschaft ihrer Diskussionspartner*innen für ihren Beruf genauso heraus, wie sie die Bedeutung ihrer Forschungen für die Gesellschaft verdeutlicht. Dabei zeigt sich den Leser*innen, dass die Diskussionen um die von Frau Berg ausgewählten Themen in den heute aktuellen Zeiten von Corona noch an Bedeutung gewinnen.
Die Themen der Expert*innen
Die Themenbereiche, über die sie mit ihren Gesprächspartner*innen spricht, sind weit gesteckt. Nur zwei, der Soziologe Wilhelm Heitmeyer und die Professorin für Neuere und Neueste Geschichte Hedwig Richter, diskutieren in ähnlichen Bereichen, vertreten jedoch unterschiedliche Standpunkte. So führt Heitmeyer anhand seiner langjährigen Forschungsarbeit aus, dass der Kampf gegen die Rechten und antisemitische Verschwörungstheorien weiterhin ein Gebot der Stunde sein muss, "und sei es nur, um Schlimmeres zu verhindern." Dagegen begründet Richter, die gemeinsam mit Kerstin Wolff den Sammelband "Frauenwahlrecht. Demokratisierung und Demokratie in Deutschland und Europa" herausgegeben hat, ihren optimistischen Blick auf die Gesellschaften damit, dass sie als Historikerin auf längere Zeitabschnitte blicken würde. Deshalb sei Europa, wie auch die demokratischen Entwicklungen, ein positives Beispiel. Ihr Statement: "Demokratien führen außerdem untereinander so gut wie nie Krieg."
Die Ingenieurin, Kognitionswissenschaftlerin Odile Fillod forscht freiberuflich zur Erstellung und Verbreitung von Forschungsdaten über vermeintlich biologische Unterschiede zwischen Frauen und Männern. Die Professorin für Internationale Angelegenheiten an der Bush School of Government and Public Service Valerie M. Hudson benennt als ihre Schwerpunkte außenpolitische Entscheidungsfindungen und den Themenbereich "Frauen, Frieden und Sicherheit" (WPS, women, peace and security). Über das Verhältnis von Technik und Gesellschaft, mit Blick auf die Informatik, beschäftigt sich Jutta Weber. Und die feministische Künstlerin, Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin Lynn Hershman Leeson, die Berg erklärt, dass es ihr wichtig ist, beim Bilanzieren der Fragen unserer Zeit ihren Sinn für Humor nicht zu verlieren, sieht ihren Job darin, mit ihrer Kunst gesellschaftliche Alternativen aufzuzeigen.
Besorgt über die Gewalt erzeugende kollektive Irrationalität zeigt sich der Sozialpsychologe und Männlichkeitsforscher Rolf Pohl. In diesem Zusammenhang spricht Sybille Berg die Spaltung der Gesellschaft an, und verweist damit auch auf die Bedeutung der von ihr geführten Interviews:"Der Punkt, an dem mich der Mut verlässt, sind die Meinungen, die so schwer durch Fakten zu widerlegen sind, denn die Fakten, die die Hälfte der Bevölkerung akzeptiert, sind empirisch, wissenschaftlich. Die andere Hälfte der Bevölkerung hält sie für Lügen. Es gibt keinen Ausweg." Ihrer Hoffnungslosigkeit, die sie hier über das Gut-Böse-Schema ausdrückt, widerspricht sie glücklicherweise selbst durch die Auswahl ihrer Gesprächspartner*innen und das vorliegende Buch.
Aufschlussreich in diesem Kontext ist auch das Interview mit dem Astrophysiker Abraham (Avi) Loeb, der anschaulich darstellt, dass es weiteres Leben im Universum gibt. In seinem Schlusswort erklärt er sein Interesse an Weltraumarchäologie damit, dass "wir uns zusammenreißen und unseren Planeten und andere Menschen besser behandeln, sodass wir ein vergleichbares Schicksal vermeiden können.", wenn wir anhand toter Zivilisationen im Weltraum erkennen, dass die Menschheit ihre einmalige Chance nutzen sollte.
Mit der Pathologin und Onkologin Prof. Elizabeth Anne Montgomery ist auch eine Wissenschaftlerin von der Johns Hopkins University - die aktuell weltweit durch die statistischen Erhebungen zur Corona-Pandemie in den Medien zitiert wird - unter den Interviewten. Auf die Frage von Sybille Berg erklärt sie zwar, dass ihre Arbeit zu weit von politischen Entscheidungen entfernt sei. Sie nehme aber die zunehmende Verweigerung von Impfungen war, die verheerende gesellschaftliche Folgen haben könnten, da die Entwicklung von "Herdenimmunität" überaus wichtig sei. Somit ist Sybille Berg mit ihrem Interviewband unerwartet in einer globalen Realität angekommen, die so nicht vorhersehbar war.
Ihr Schlusssatz "...ich danke Ihnen für Ihre Zeit und Ihren Optimismus", mit dem Sybille Berg sich nach dem Interview verabschiedet, wirkt unerwartet hoffnungsvoll. Dafür, dass sie sich bei Heitmeyer für dessen Hartnäckigkeit und bei Odile Fillod für ihren Kampfgeist bedankt, für die Auswahl der Interviewpartner*innen insgesamt und die kluge Gestaltung der Fragen möchten auch wir uns bei ihr bedanken.
AVIVA-Tipp: Ihre ernsthafte Sorge um den Zustand der Welt vermittelt Sybille Berg mit gewohnt messerscharfem Humor und Verstand, und einer hochspannenden Diskussion mit herausragenden Wissenschaftler*innen aus vielfältigen Disziplinen.
Die komplexen Expert*innen-Themen bekommen durch Frau Bergs insistierende Interviewführung eine leichtere Verständlichkeit und behalten dadurch den Bezug zur Lebensrealität auch von Nicht-Wissenschaftler*innen. Auch damit zeigtNERDS retten die Welt, wie wichtig das Wissen von Expert*innen im alltäglichen Leben ist.
Zur Autorin: Sibylle Berg, geboren in Weimar, lebt als Dramatikerin und Autorin in Zürich und Tel Aviv. Sie ist ausgebildete Puppenspielerin und schreibt heute Romane, Theaterstücke, Essays und Kolumnen (u.a. für die "NZZ" und für die "ZEIT"). Bisher veröffentlichte sie 15 Romane und 25 Theaterstücke. Ihre Werke wurden in 34 Sprachen übersetzt. Ihr Debütroman "Ein paar Leute suchen das Glück und lachen sich tot" erschien 1997. Seither hat sie sich als satirische Stimme und genaue Beobachterin unserer Zeit einen Namen gemacht. Zuletzt erschienen u.a. "Wunderbare Jahre. Als wir noch die Welt bereisten (2016), "Der Tag, als meine Frau einen Mann fand" (2016) "Wie halte ich das nur alles aus?" (2013), "Vielen Dank für das Leben" (2012), "Die Fahrt" (2007), "Der Mann schläft" (2009), "Und ich dachte, es sei Liebe – Liebesbriefe von Frauen" (2006), "Ende gut" (2004), "Das Unerfreuliche zuerst – Herrengeschichten" (2001). 2008 wurde sie mit dem Wolfgang-Koeppen-Preis ausgezeichnet, 2016 gewann den Else-Lasker-Schüler-Dramatikerpreis und im März 2019 den Kasseler Literaturpreis für grotesken Humor. 2020 wurde sie mit folgenden Preisen ausgezeichnet: Schweizer Grand Prix Literatur, Bertholt-Brecht-Literaturpreis und dem Johann-Peter-Hebel-Preis (Verleihung im Mai 2021).
2019 erschien ebenfalls bei Kiepenheuer&Witsch ihr Roman "GRM. Brainfuck" als "ein unverzichtbarer Kommentar zum Gegenwartsgeschehen und ein starkes literarisches Manifest". (AVIVA-Berlin)
Weitere Infos zu den Veröffentlichungen und Theater-Arbeiten von Sibylle Berg unter: www.sibylleberg.ch
Sibylle Berg
NERDS retten die Welt
Gespräche mit denen, die es wissen
Gespräche mit: Lorenz Adlung – Jens Foell – Odile Fillod – Hedwig Richter – Lynn Hershman Leeson – Dirk Helbing – Jutta Weber – Iddo Magen – Valerie M. Hudson – Avi Loeb – Carl Safina – Robert Riener – Wilhelm Heitmeyer – Emilia Zenzile Roig – Rolf Pohl – Eliszabeth Anne Montgomery
Kiepenheuer&Witsch, erschienen am 05.03.2020
ISBN: 978-3-462-05460-6
336 Seiten, gebunden, mit Lesebändchen
22 Euro
E-Book 18,99 Euro
Mehr zum Buch: www.kiwi-verlag.de
Die Wissenschaftler*innen und ihre Forschungsgebiete
Valerie M. Hudson
Professorin für Internationale Angelegenheiten an der Bush School of Government and Public Service (Texas A&M University)
Wilhelm Heitmeyer
Soziologe und Gründer des Instituts für interdisziplinäre Konflikt- und Gewaltforschung der Universität Bielefeld
Robert Riener
Professor für Sensomotorische Systeme am Departement für Gesundheitswissenschaften und Technologie der ETH Zürich u. a .
Elizabeth Anne Montgomery
Professorin für Pathologie und Onkologie am Johns Hopkins University Medical Center in Baltimore (USA)
Lorenz Adlung
Systemtheoretiker und -biologe am Weizmann Institute of Science in Rehovot (Israel), Science-Slammer
Iddo Magen
Neurobiologe, forscht am Weizmann Institute of Science in Rehovot (Israel)
Dirk Helbing
Professor für Computational Social Science an der ETH Zürich und assoziierter Professor für Technik, Politik und Management an der Technischen Universität Delft
Abraham (Avi) Loeb
Professor für Astrophysik an der Harvard University
Odile Fillod
Ingenieurin, Kognitionswissenschaftlerin und unabhängige Forscherin im Bereich Wissenschaftssoziologie
Hedwig Richter
Professorin für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität der Bundeswehr, München
Carl Safina
Meeresökologe, Autor, Kämpfer für Tier- und Naturschutz
Rolf Pohl
Männlichkeitsforscher, Soziologe, Sozialpsychologie
Jens Foell
Neuropsychologe an der Florida State University in Tallahassee (USA)
Jutta Weber
Philosophin, Professorin für Mediensoziologie an der Universität Paderborn
Lynn Hershman Leeson
Künstlerin, Drehbuchautorin, Regisseurin und Produzentin
Emilia Zenzile Roig
Politologin. Gründerin und Direktorin des Center for Intersectional Justice (CIJ)
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Sibylle Berg - GRM – Brainfuck
Gewalt, Sex, Verzweiflung – Sibylle Bergs neuer Roman wird von Seite zu Seite drastischer und ist dennoch, oder gerade deshalb, ein unverzichtbarer Kommentar zum Gegenwartsgeschehen und ein starkes literarisches Manifest. (2019)
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Nicht unbedingt um saubere, aber immer um tiefe Schnitte geht es in Abschiedsbriefen von Frauen. Sibylle Berg hat sie gesammelt unter dem Motto "Und ich dachte, es sei Liebe" veröffentlicht. (2006)
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