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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 11.03.2018


Ruth Klüger - Gegenwind. Gedichte und Interpretationen
Angelina Boczek

In ihrem 2014 erschienenen Band "Zerreißproben. Kommentierte Gedichte" kommentierte und interpretierte die Lyrikerin und Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, und Überlebende der Shoa Ruth Klüger ihre eigenen Verse über Gespenster, die sie heimsuchen. In "Gegenwind" deutete sie jeweils ein Gedicht älterer und moderner AutorInnen, von Adelbert von Chamisso bis Jane Hirshfield.




"Wann hast du das letzte Mal ein Gedicht gelesen, einen Gedichtband in der Hand gehalten?"
Eine kleine Umfrage im Freundinnenkreis ergab kaum positive Antworten, immerhin wurde Bedauern geäussert darüber, da sich alle Befragte an "schöne" Gedichte erinnern konnten.

"Die weitverbreitete Meinung, Lyrik sterbe aus, basiert auf Statistiken, die der Sache nicht gerecht werden. Wenn Lyrikbände nicht den Umsatz von Krimis haben, so kommt das daher, dass Krimis Wegwerfware sind. Dagegen sind Lyrikbände eine Art Dauerware. – Die Klage über den Verfall der Lyrik wurde erst kürzlich widerlegt durch die Verleihung des Literaturnobelpreises an einen berühmten Liedermacher für seine Texte, also seine Gedichte." (gemeint ist Bob Dylan) – so Ruth Klüger im Vorwort ihres im März 2018 erschienenen, schmalen Buches (so schmal, wie viele Gedichtbände).

Mich hat die Begeisterung für die sprachlichen Kunstwerke, die Ruth Klüger auswählte, angesteckt und manche Interpretationen haben mich überrascht, etwa dass wir in dem Gedicht "Das Schloß Boncourt" von Adelbert von Chamisso (der uns als etwas "verstaubt" erscheinen mag) entdecken können, dass Exil – damals wie heute – eine schwere, ja traumatische Last ist.

Die hier abgedruckte Gedicht-Auswahl von Chamisso, Friedrich Hebbel, Gottfried Keller, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Hermann Hesse, Kurt Tucholsky, Georg Kreisler, Ilse Aichinger, Durs Grünbein, Hans Magnus Enzensberger, Heinrich Detering (oder Johannes R. Becher) sowie in deutscher und in englischer Sprache von Elizabeth Barrett Browning, Walt Whitman, Emily Dickinson, Emma Lazarus, Stephen Crane, Anne Sexton, Adrienne Rich und Jane Hirshfield kann natürlich nur beispielhaft sein. Anregend ist sie allemal, es geht in ihnen um existentielle Dinge und Ruth Klüger gibt uns durch ihre Interpretationen Mittel an die Hand, die Aussage der Gedichte (besser) deuten zu können:
"Denn ein Gedicht ist entweder ein Rätsel oder ein Geheimnis. Der Unterschied zwischen diesen beiden vewandten Möglichkeiten ist der, dass ein Rätsel gelöst werden kann, während ein Geheimnis immer etwas Verborgenes zurückhält und uns im Unklaren belässt."

Die Interpretationen zeigen einmal mehr, dass es nicht schaden kann, sich mit Leben und Umfeld der VerfasserInnen zu beschäftigen, biographische Informationen können einen Zugang von zunächst "sperrigen" Texten befördern. Zu jeder Person gibt es deshalb kurze Erläuterungen, es fallen hier und da literaturwissenschaftliche Begriffe wie Syntax, Subjekt/Objekt, das lyrische Ich. Diese fachlichen Bemerkungen halten sich in Grenzen, es geht um Inhalt, "Meisterschaft der Verknappung", den Reiz der Wortkombinationen, um Rhythmus, Klang, nicht zuletzt um "Zusammenhänge zwischen Politik und Poesie".

Für die 1931 geborene, mit Preisen geehrte Literaturwissenschaftlerin waren Gedichte früh Teil ihres Lebens und schon immer Überlebensmittel, um die stundenlangen, quälenden Appelle in Auschwitz durchzustehen: "Gedichte haben ihr einst geholfen, das KZ zu überstehen, die Verse von Goethe, Schiller, Heine, die sie während des stundenlangen Appellstehens im Stillen immer aufs Neue wiederholte". Ich wiederhole dieses häufige Zitat und erinnere daran, dass es zahlreiche Beispiele dafür gibt, dass Gedichte (auch selbst verfasste) Gefangenen Trost, Halt, Hoffnung bedeuteten, hier sei nur Teofila Reich-Ranicki erwähnt, die im Warschauer Getto die Gedichte Erich Kästners abschrieb und illustrierte.

"Lyrik lebt" betont Klüger und bezieht sich dabei auf die wöchentliche Veröffentlichung eines Gedichts mit kurzer Interpretation in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, und das seit 40 Jahren! Lyrikinterpretation lebt immerhin in Schulen als Teil des Deutschunterrichts, das Auswendiglernen von Gedichten allerdings scheint etwas aus der Mode gekommen zu sein.
Lyrik lebt in Veranstaltungen zu Poetry Slam, es heißt, dass die Slam-Szene in Deutschland inzwischen die grösste sei. Lyrik lebt in den Texten von Pop- und Rapsongs.

AVIVA-Tipp: Lest Gedichte, ergründet alte und moderne Gedichte, rätselt, diskutiert und überwindet den Widerstand, den "Gegenwind", den ein Gedicht auszulösen vermag. Lest Ruth Klügers Buch – es könnte ein Entschluss entstehen: Kein Tag ohne Gedicht, vielleicht auch ein eigenes.

Zur Autorin: Ruth Klüger wurde am 30. Oktober 1931 als Tochter jüdischer Eltern in Wien geboren. Im Alter von zwölf Jahren wurde sie gemeinsam mit ihrer Mutter in das Konzentrationslager Theresienstadt, ein Jahr später nach Auschwitz-Birkenau und dann in das Arbeitslager Christianstadt deportiert. Bereits dort begann sie, Gedichte zu schreiben. Gegen Kriegsende gelang Ruth Klüger auf einem der "Todesmärsche" zusammen mit der Mutter und einer Pflegeschwester die Flucht, die schließlich nach 1945 im bayerischen Straubing ihr Ende fand. Der Vater, ein Frauenarzt, wurde in Auschwitz ermordet. In Straubing machte Ruth Klüger das Abitur und studierte zunächst an der Philosophisch-Theologischen Hochschule Regensburg. 1947 emigrierte sie mit ihrer Mutter in die USA, studierte in New York Bibliothekswissenschaften und später an der University of California in Berkeley Germanistik, wo sie 1952 den M.A.-Grad (1967 Ph.D.) absolvierte. Nach Ende ihres Studiums machte K. als Hochschulprofessorin für deutsche Literatur Karriere. Werke u.a.: "Zerreißproben. Kommentierte Gedichte", "Was Frauen schreiben", "Katastrophen. Über deutsche Literatur", "unterwegs verloren".
Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen, u.a. Rauriser Literaturpreis, Grimmelshausen-Preis, Marie-Luise-Kaschnitz-Preis, Prix Mémoire de la Shoa, Preis der Frankfurter Anthologie, Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck, Roswitha-Preis, Lessing-Preis des Freistaates Sachsen. Im Mai 2009 wurde sie erste Gastprofessorin des Marcel Reich-Ranicki-Lehrstuhls für Deutsche Literatur an der Universität Tel Aviv. Ihr Thema: "Jüdische Autorinnen in der deutschsprachigen Literatur".
2015 erhielt sie die Ehrendoktorwürde der Universität Wien.
(Quelle: Munzinger und AVIVA-Berlin)
Ruth Klüger im Jewish Women´s Archive: jwa.org

Ruth Klüger
Gegenwind. Gedichte und Interpretationen

Paul Zsolnay Verlag, erschienen 12. März 2018
Hardcover, 113 Seiten
18,00 Euro
ISBN 978-3-552-05882-8
Mehr zum Buch unter: www.hanser-literaturverlage.de

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Ruth Klüger - Zerreißproben. Kommentierte Gedichte
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Renommierte Literaturwissenschaftlerin, gefeierte Autorin, Feministin, Mutter, Großmutter, Überlebende der Shoa. Die Dokumentation zeigt eine facettenreiche und beeindruckende Persönlichkeit beim Denken an verschiedenen Schauplätzen ihres Lebens und Wirkens." (2013)

Ruth Klüger - Was Frauen schreiben
Der weibliche Blick – Ruth Klüger widmet sich den Werken von Frauen aus aller Welt und verschiedenen Epochen. Ihre Zusammenstellung gewährt eine Sicht "aufs Leben durch anders geschliffene Gläser". (2010)

Interview mit Ruth Klüger
Ruth Klüger: Jüdin, Feministin, Mutter, Holocaust-Überlebende, emigrierte Wienerin, Wahl-Amerikanerin, Autorin und Literaturwissenschaftlerin hat in Deutschland und den USA als Germanistik Professorin gearbeitet. Im März dieses Jahres brachte sie die Aufsatzsammlung "Katastrophen. Über deutsche Literatur" erneut heraus, wodurch den LeserInnen eine neue Lesart klassischer Texte ermöglicht wird. AVIVA-Berlin führte mit der in Kalifornien lebenden Germanistin ein E-Mail Interview. (2009)

"Ruth Klüger – Katastrophen"
Großes Aufsehen erregte Ruth Klüger mit ihrem autobiografischen Roman "weiter leben. Eine Jugend", in dem sie ihre Kindheit im nationalsozialistischen Deutschland und in mehreren Konzentrationslagern schilderte. (2009)

Ruth Klüger - unterwegs verloren
Vor sechzehn Jahren hieß es noch "weiter leben", als die mittlerweile emeritierte Literaturprofessorin den ersten Band ihrer Autobiographie schrieb. Heute geht es für sie um Menschen, die "unterwegs verloren" gegangen sind. Ruth Klüger: Jüdin, Feministin, Mutter, Holocaust-Überlebende, emigrierte Wienerin, anerkannte Amerikanerin und vor allem Liebhaberin der deutschen Literatur, hat den zweiten Band ihrer Lebensgeschichte veröffentlicht. (2008)

Wirf deine Angst in die Luft - Die Poesie der Rose Ausländer
Das Hörbuch, eine Symbiose aus Lyrik und Musik, gelesen von Alicia Fassel und mit Musik von Jan Rohlfing, wird ergänzt durch seltene Original-Aufnahmen Rose Ausländers selbst. Aufgenommen wurden sie 1976 und 1977 in ihrem Refugium im Nelly-Sachs-Haus in Düsseldorf. Ein 20seitiges Booklet liefert in chronologischer Auflistung die Eckdaten zu der 1901 in Czernowitz geborenen jüdischen Poetin, für die "Schreiben Leben war, Überleben".
(2018)


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Angelina Boczek