Bettina Baltschev - Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Sachbuch



AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 06.04.2017


Bettina Baltschev - Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur
Yvonne de Andrés

Die Kulturwissenschaftlerin und Hörfunk-Redakteurin Bettina Baltschev begab sich auf die Spurensuche in Amsterdam und fragte danach, welche Bedeutung Amsterdam für die von den Nazis verfolgten und verbotenen deutschen Exilschriftler_innen bis zur Besatzung durch die Deutschen hatte. Ihre geistige Heimat fanden sie von 1933 bis 1940 im Querido Verlag.




"Ich bin mit 16 Jahren das erste Mal nach Amsterdam gefahren für ein Austauschjahr, und seitdem hat mich die Stadt eigentlich nicht mehr losgelassen. Amsterdam ist eine Stadt der Antiquariate, und irgendwann hält man dann so ein Buch in der Hand, und da steht dann drin, Querido Verlag, und es ist ein deutsches Buch, und da wird man natürlich hellhörig." erzählt Bettina Baltschev.

Die Autorin dokumentiert das politische Klima Amsterdams: "Das heißt, schon seit dem 17. Jahrhundert ist Amsterdam ein Zufluchtsort gewesen, nicht nur für Juden, zum Beispiel von der iberischen Halbinsel, wo ja auch die Vorfahren von Emanuel Querido herkamen. Offensichtlich war das für ihn ein selbstverständlicher Akt, zu sagen: Meine Vorfahren sind nach Amsterdam geflüchtet. Nun geben wir den Büchern aus Deutschland hier ein Zuhause."

So Fritz Landshoff – er war Mitinhaber und Geschäftsführer des Gustav Kiepenheuer Verlags in Potsdam gewesen, bis 1933, nach der "Machtergreifung" der Nationalsozialisten der Verlag schließen musste.
Der holländische Verleger Emanuel Querido ist einer der erfolgreichsten der Niederlande. Er bot dem jüngeren Fritz Landshoff an, eine deutschsprachige Exil-Abteilung in seiner Querido´s Uitgeverij in Amsterdam, Keizersgracht 333, zu gründen – den Querido Verlag. Baltschev beschreibt die Rollenaufteilung wie folgt: "Emanuel Querido als Ermöglicher, der auch sehr viel Finanzen da reingebuttert hat in den Verlag. Und Fritz Landshoff, der das inhaltliche Programm gestaltet hat."

Landshoff sollte die Manuskripte akquirieren, Kontakte pflegen und namhafte Autor_innen für den Verlag gewinnen. Es gelang ihm, zahllose verfolgte und verbotene Autor_innen wie Vicki Baum, Alfred Döblin, Lion Feuchtwanger, Anna Gmeyner, Irmgard Keun, Annette Kolb, Emil Ludwig, Erika Mann, Klaus Mann, Heinrich Mann, Thomas Mann, Gustav Regler, Anna Seghers, Ernst Toller, Arnold Zweig und viele anderean den Verlag zu binden. Von 1933 bis 1940bestand der Querido Verlag. Das erste Programm 1933 startete mit acht Titeln. Auf die Initiative von Klaus Mann gab der Verlag die Zeitschrift "Die Sammlung" heraus. Das Bestreben war es, sich stärker und deutlicher im politischen Bereich zu engagieren sowie möglichst vielen Exilautor_innen ein Organ zur Publikation zu bieten. Der Verlag wurde das wichtigste Organ des kulturellen Widerstandes gegen den Nationalsozialismus.

Initialzündung für eine intensive Recherchereise

Im Amsterdamer Antiquariat Kok beginnt die Zeitreise in die Vergangenheit. Hier ersteht Bettina Baltschev eine wertvolle Ausgabe Irmgard Keun, "D-Zug dritter Klasse". Es ist bereits Keuns zweiter Exilroman, der 1938 erschien. Irmgard Keun beschreibt in ihrem Roman, wie in einem Zugabteil sechs Menschen aufeinander treffen, die ihr Leben mit sich tragen, wie ihre Koffer. Sie lernen sich im Zug von Berlin nach Paris kennen. Auf der Fahrt finden Gespräche unter den Reisenden statt, die das nationalsozialistisches Deutschland und das Exil thematisieren.
Das war der Beginn und das Ziel für die nun beginnende Recherchereise von Bettina Baltschev:
"Ich möchte herausfinden, wo die Autoren und Verleger der Querido-Bücher in dieser Stadt gelebt, gearbeitet und gefeiert haben. Ich will verstehen, was diese Stadt ihnen bedeutet hat."

Das Buch lebt von Geschichten und Texten der Autor_innen. So erzählt der "rasende Reporter" Egon Erwin Kisch vom Waterlooplein und der Portugiesischen Synagoge und vom Zusammentreffen der vertriebenen Sepharden und den Aschkenasim aus Osteuropa. Baltschev erzählt lebendig von Irmgard Keun, die sich in Joseph Roth verliebt und wie die beiden "in ihrer Sucht und in ihrem Scharfsinn" sich ähnlich waren. Von Klaus Mann große Teile seines Romans "Mephisto" im Café Américain schrieb oder von Emanuel Queridos offenem Haus in Laren, der Künstler_innenkolonie und der Entstehungsgeschichte des Querido Verlags.

"Der Titel ist entstanden" so die Autorin, "weil die Exilautoren immer in einer starken Ambivalenz gelebt haben. Das heißt: Natürlich sind sie an den Strand gefahren und haben im Grand Hotel gewohnt und sind auch baden gegangen in Zandvoort. Aber gleichzeitig, wie ich es nenne, kommen dann nachts die Dämonen, wenn man nachts wachliegt und an seine Lieben in Deutschland denkt und eben nicht genau weiß, wie´s weitergeht. Man hat Zukunftsängste, man hat eventuell auch Selbstmordgedanken. Das ist die Ambivalenz, die diese Exilschriftsteller aushalten mussten. Egal, wie schön die Kulisse ist, egal, wie schön Amsterdam ist mit seinen Grachten und wie sicher sie sich gefühlt haben bis 1940. Die Ambivalenz, nicht in der eigenen Heimat zu sein und in der Fremde ein neues Zuhause aufbauen zu müssen, die wollte ich mit dem Titel meines Buches ausdrücken. Hier die Hölle, da das Paradies."

Die Hölle erreichte sie, als 1940 Hitler in Holland und Belgien einmarschiert. Fritz Landshoff gelang es nach einer kurzen Internierung, die Überfahrt nach New York. Emanuel Querido und seine Frau kamen 1943 im Vernichtungslager Sobibór um. Alice van Nahuys, Queridos directrice baute mit Fritz Landshoff nach dem Krieg den Verlag wieder auf. Die Bücher des Verlages lagerten versteckt im Keller einer Amsterdamer Polizeistation. Der Verlag besteht bis heute.

AVIVA-Tipp: Intensiv geht Bettina Baltschev den literarischen Spuren, Stimmen und Leben nach und verwebt diese mit ihren heutigen Eindrücken von Amsterdam. Dafür hat sie recherchiert und Gespräche geführt unter anderem mit Andreas Landshoff, Fritz Landshoffs Sohn, sowie mit Willem van Toorn und Els Snick. Das Buch ist ein Spaziergang, der die von den Nazis verfolgten deutschen Schriftsteller_innen in unser Gedächtnis zurück holt und in ihren Geschichten und Texten wieder lebendig werden lässt. Diese Atmosphäre schafft sie gut zu vermitteln. Sehr schön sind die eingefügten Originalfotografien vom Café Américain oder von Grete Weil, Irmgard Keun sowie von Klaus Mann und Fritz Landshoff in Zandvoort am Meer.

Zur Autorin: Bettina Baltschev, geboren 1973 in Berlin, studierte Kulturwissenschaften, Journalistik und Philosophie. Sie ist als Autorin und Redakteurin beim Hörfunk der ARD tätig. Ihre Buchveröffentlichungen: "Ein Jahr in Amsterdam" 2008, "Last Exit Schkeuditz West" 2010 und "Erfurt! Der Kinderstadtführer" 2013.

Bettina Baltschev
Hölle und Paradies. Amsterdam, Querido und die deutsche Exilliteratur

Berenberg Verlag,erschienen 06.09.2016
Gebunden, 168 Seiten, Abbildungen, Halbleinen, fadengeheftet
22,00 Euro [D]
ISBN: 978-3-551-946334-08-8
Auch als E-Book erhältlich
www.berenberg-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Kristine von Soden - Und draußen weht ein fremder Wind .... Über die Meere ins Exil
Wie gelang den wenigen Überlebenden 1933 bis 1941 die Flucht ins Ungewisse, was ging dem Verlust um Heimat, Familie, Sprache und Kultur voraus? Im Zentrum dieses Buches steht der verzweifelte Kampf jüdischer Emigrantinnen um Visa und Affidavits für das von den Nazis erzwungene Exil. (2017)

Irmgard Keun - Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Irmgard Keun - Kind aller Länder
Ihre gesellschaftskritischen Romane, "Gilgi, eine von uns" (1931) und "Das kunstseidene Mädchen" (1932) machten sie schlagartig berühmt. Der Star der Literaturszene der Dreißiger Jahre, deren Werke wegen ihres messerscharfen Satire-Stils und Gesellschaftskritik von den Nazis verboten und verbrannt wurden, geriet in den 1950er Jahren in Vergessenheit. Erst durcheine Veröffentlichung im "Stern" im Jahr 1977 wurde Irmgard Keun wieder in das Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gebracht. Ihre Exilromane erschienen 1936 bei Querido. (2017)

Birgit Haustedt - Die wilden Jahre in Berlin. Eine Klatsch- und Kulturgeschichte der Frauen
Salonnières, Rennfahrerinnen, Künstlerinnen und Provokateurinnen aus Überzeugung prägten die weibliche Topografie Berlins in den 1920er Jahren. Irmgard Keun, Valeska Gert, Vicki Baum, Dora Benjamin und andere Freigeister dekonstruierten gängige Frauenbilder - bis der Nationalsozialismus sie von der Bühne verbannte. (2013)

Verboten - Verfemt - Vertrieben. Schriftstellerinnen im Widerstand gegen den Nationalsozialismus von Edda Ziegler
Gibt es eine speziell weibliche Exilsituation und -erfahrung? Diese Frage sei schwer zu beantworten, so Ziegler. Dennoch zeigt ihr Buch geschlechtsspezifische Unterschiede auf, indem es von einem breitgefächerten Ansatz ausgeht. (2010)

Nicole Nottelmann - Die Karrieren der Vicki Baum
Durch die Drehtür des Erfolgs tritt 1928 Vicki Baum bei Ullstein ein. Ihre Romanheldinnen verkörpern den neuen modernen Frauentypus und versprechen Tempo, Liebe und gute Unterhaltung. Ihre Exilromane erscheinen bei Querido. (2008)

Transit Amsterdam, Deutsche Künstler im Exil 1933 - 1945
Die geografische Nähe, die lange offenen Grenzen und die Gastfreundschaft führten dazu, dass Amsterdam bis zum Einmarsch der deutschen Truppen ein bevorzugter Ort für deutsche Flüchtlinge wurde. (2008)

Siegfried Kracauer - Straßen in Berlin und anderswo
Seinen Texten wohnt eine stille, unwiderstehliche Kritik inne, die nicht in messerscharfen Analysen daherkommt, sondern in beinahe flüsternder, wachsamer, kristallklarer Wahrnehmung von Wirklichkeit. (2009)




Literatur > Sachbuch

Beitrag vom 06.04.2017

Yvonne de Andrés