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Beitrag vom 18.05.2009
Alice Greenway - Weiße Geister
Claire Horst
Weiße Geister, so werden Kate und ihre Schwester von den Einheimischen Hongkongs genannt. Wie die Autorin selbst wachsen die Amerikanerinnen auf der Insel auf. Und Hongkong ist die eigentliche...
... Hauptfigur des Romans.
"Der Sommer, von dem ich erzählen will, ist die einzige Zeit von Bedeutung. Es ist die Zeit, an die ich denken werde, wenn ich sterbe, so wie sich andere vielleicht einen verlorenen Liebhaber ins Gedächtnis rufen oder einer Liebe nachtrauern, die nie zustande kam. Für mich gibt es nur eine Geschichte. Es ist die meiner Schwester - Frankies Geschichte." Es ist die Ankündigung eines herannahenden Verlustes, mit der die Erzählung von Kate beginnt.
Kates Vater ist als Fotograf für das "Time Magazine" in Vietnam tätig, es ist das Jahr 1967. Die Familie lebt in Hongkong, wo er sie alle sechs Wochen besuchen kann. Kate liebt die Insel. Sie liebt ihr Kindermädchen Ah Bing, den tauben Jungen, Fisch genannt, das Meer, die Natur. Sie liebt auch die chinesischen Traditionen, mit denen sie durch Ah Bing vertraut ist. Hongkong ist für sie ein ganz bestimmter Geruch: "Ein kalter, erdiger, feuchter Geruch nach dem gestrigen Lagerfeuer [...] vermischt sich mit den Gerüchen aus Ah Bings Zimmer: süßlichem Räucherduft, scharfem Tigerbalsam, Haaröl, das nach muffigen Gewürznelken riecht, gedämpftem Reis." Ihre große Liebe zu Hongkong durchzieht den Roman von der ersten bis zur letzten Seite. Kate erzählt im Rückblick, voller Melancholie und Schwermut – wie man von einer vergangenen Liebe spricht.
Anders als ihre Mutter fühlt Kate sich hier wirklich zu Hause. Sie spricht die Sprache, sie kennt den Glauben und die Lebensweise der Hongkonger Bevölkerung. Mit dem Gott ihrer Mutter kann sie dagegen nichts anfangen. "Gottvater ist mir so fremd wie Kuan Yin [die Göttin, zu der Ah Bing betet], umso mehr, als er nicht vertraut auf Ah Bings Frisierkommode sitzt und hungrig von unseren pyramidenartigen Orangen- und Litschi-Opfern isst." Die Mutter möchte aus ihren Töchtern brave kleine Mädchen machen, selbst wenn sie längst in der Pubertät stecken. Sie nimmt sie in die Kirche mit, lässt sie Zöpfe tragen, und achtet auf ihren Umgang.
Doch die Schwestern machen sich lustig über die "plumpen englischen Kinder", die manchmal in ihrer Welt auftauchen. Kate und Frankie sind sich sehr nah: "Geheimnis-Schwestern. Schiffbrüchige Schwestern. Vietkong-Schwestern, so nennen wir uns selbst." Zu zweit ertragen sie das Wissen, dass die Mutter nur für den Vater lebt, dass sie selbst ihr nicht sehr wichtig sind. Zu zweit ertragen sie die Sehnsucht danach, geliebt zu werden, vom meist abwesenden Vater wie von der distanzierten Mutter. Doch Kate ist schon früh bewusst, dass ihre ältere Schwester labiler ist als sie selber. "Frankie ist schneller, größer, stärker. Aber sie ist auch bedürftiger. Sie braucht meine Teilnahme, meine Unterwerfung als Selbstbestätigung."
Schon auf den ersten Seiten wird deutlich, dass etwas Schreckliches passieren wird. Der Gedanke an Frankie, die geliebte und betrauerte ältere Schwester, schwebt über jeder Zeile. Kate erzählt voll Abschiedsschmerz von der Zeit, als alles noch gut war, von der Zeit, bevor alles zusammenbrach. Voller Liebe zum Detail beschreibt sie die Rituale, mit denen ein Fest begangen wird, die Obststände auf den Straßen, die Geschichten ihres Kindermädchens und die Spiele, die sich mit ihrer Schwester spielt.
Doch die Anzeichen für den Zusammenbruch dieser Idylle mehren sich. Das koloniale Hongkong scheint bedroht: Auf den Straßen marschieren Rotgardisten, Leichen treiben auf dem Fluss. Auch Frankies Veränderung zeigt sich langsam an. Mit dem Erwachsenwerden häufen sich die Konflikte mit der Mutter. Die Mutter selbst würde am liebsten nach Amerika zurückkehren, auf der Farm ihres Mannes leben, "es ihm gemütlich machen". Ihre Leidenschaft ist das Malen. Ihre Bilder zeigen ein idyllisches Hongkong der stillen Berge und urwüchsigen Landschaften. Von sozialen Konflikten und Krieg ist auf ihren Aquarellen nichts zu sehen.
Und auch der Vater versucht die Schwestern aus seiner Realität auszuschließen. In seinen Geschichten über Vietnam geht es nur um eine Ente, die er vor dem Suppentopf gerettet hat, um alte Märchen und Mythen. Zeitung lesen die Mädchen nur heimlich. "Saigon-Entes Geschichten sind Märchen für Kinder. In ihnen werden wir nicht erwachsen. Wir müssen die Geschichten aufspüren, die mein Vater nicht erzählt, die relevanten Fakten einfügen, die Dinge, die wir herausfinden müssen wie Jäger und Sammler, Spione im Feindesland."
Ein furchtbares Erlebnis bringt die Schwestern auseinander. Kate reagiert mit Rückzug. Der taube Junge ist nicht umsonst ihr bester Freund – ihm muss sie nichts erzählen. Frankie wird jedoch immer unberechenbarer. Am Abend ihrer geplanten Abreise in ein Internat geschieht etwas Furchtbares.
AVIVA-Tipp: In verknappter und dennoch zutiefst poetischer Sprache erzählt Alice Greenway vom Loslassen, vom Fertigwerden mit der Trauer über einen schrecklichen Verlust. "Weiße Geister" ist eine Liebeserklärung an Hongkong und zugleich eine Meditation über die Mechanismen, die in vielen Familien unter der heilen Oberfläche wirken – Konkurrenz, Verdrängung, Wut. Mit wenigen Worten erschafft Greenway eine dichte Atmosphäre – fast meint man die schwüle Luft Hongkongs zu riechen, die Unruhe zu spüren und die beklemmende Atmosphäre in der Familie. Ein sprachlich wunderschönes, nachdenkliches Buch.
Zur Autorin: Alice Greenway wurde 1964 in Washington D.C. geboren und ist in Hongkong, Bangkok, Washington, Jerusalem und Masachusetts aufgewachsen. Sie studierte an der Yale University. Heute lebt die Autorin mit ihrer Familie in Edinburgh, Schottland. "Weiße Geister" ist ihr erster Roman, der zweite ist in Arbeit.
Alice Greenway
Weiße Geister. Roman
Originaltitel: White Ghost Girls
Marebuchverlag, erschienen Mai 2009
Ãœbersetzt von Uwe-Michael Gutzschhahn
224 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag und Lesebändchen
ISBN 978-3-86648-101-5
19,90 Euro
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