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Beitrag vom 03.10.2022
Helga Bürster - Eine andere Zeit
Silvy Pommerenke
Im Mikrokosmos eines kleinen Dorfes an der Ostsee stellt sich den Schwestern Suse und Enne die große Frage, ob sie bleiben oder weggehen sollen. Nicht nur der Fall der innerdeutschen Mauer hat Einfluss auf ihre Entscheidung, sondern auch die Beengtheit der kleinen Dorf- und Familiengemeinschaft. Wie sehr kann die eigene Individualität ausgelebt werden, ohne andere damit vor den Kopf zu stoßen?
Die Geschichte ist in den 1970ern angesiedelt und dauert an bis ins Jahr 2019. Das kleine Fischerdorf Kamp, an der Ostsee gegenüber von Usedom gelegen, wird auch gerne als das Ende der Welt bezeichnet, weil sich dort Fuchs und Hase gute Nacht sagen. Im Gegensatz zur lärmenden Großstadt ist "diese weite Landschaft, wo der Blick sich endlos verlieren und man sich selbst vergessen konnte" ein Ort der Besinnung – aber auch der begrenzten Möglichkeiten.
Die beiden Schwestern Suse und Enne haben ein schwieriges Verhältnis zueinander. Suse, chronisch krank, muss oft in die Klinik und bekommt von den Eltern besonders viel Zuwendung, worunter Enne sehr leidet. Sie fühlt sich einerseits nicht gesehen, andererseits treibt sie die Sorge um ihre kleine Schwester um.
Helga Bürster entfaltet ein Szenario in der Abgeschiedenheit des kleinen Ostseedörfchens, in dem es weder Ärzt*in noch einen Supermarkt, geschweige denn Kino oder Theater gibt. Lediglich einen kleinen Konsum, indem das Nötigste eingekauft werden kann, gibt es dort. Die Menschen sind ganz auf sich gestellt und von der Natur abhängig. Diese Einsamkeit muss erst einmal ausgehalten werden können. Die Bewohner*innen zeichnen Wortkargheit und Pragmatismus aus. Für große Gefühle ist dort kein Platz. Das Highlight des Jahres ist der Besuch von Tante Magda nebst Cousine Christina aus dem Westen. Vor allem Christina blüht auf, wenn sie an der Ostsee ist. Dort fühlt sie sich geborgen und zu Hause: "Die große Ruhe hier auf dem Kamp sickerte in Christinas Leere ein und fing an sie auszufüllen. Sie legte sich wie Balsam um die wunden Ränder ihrer Existenz. Sie spürte wieder, wo sie anfing und wo sie aufhörte."
Helga Bürster entwickelt ihren Roman langsam, aber stetig und erzählt in zwei Zeitabschnitten. Die Gegenwart erhält allmählich durch die Vergangenheit Konturen. Wie bereits in ihrem vorherigen Roman Luzies Erbe hat fast jede/r der Protagonist*innen ein Geheimnis, das er oder sie sorgsam hütet. Das größte Geheimnis aber verbirgt Suse, denn sie ist 1989 auf der gemeinsamen Urlaubsreise mit ihrem Verlobten in Ungarn von einem auf den anderen Tag spurlos verschwunden. Niemand weiß, ob sie sich in den Westen abgesetzt hat, oder ob sie gestorben ist. Sie hat ihre Schwester und ihrem Verlobten nie eine Nachricht zukommen lassen. Diese Ungewissheit über das Fortbleiben von Suse zieht sich durch den Roman und lastet schwer auf den Figuren.
Der Roman bearbeitet nicht nur die persönliche Familien- und Schwesterngeschichte, sondern auch die Ost-West Geschichte und den Fall der deutsch-deutschen Mauer: "Die Unzufriedenheit war schon lange zu spüren gewesen, aber nun kamen die Dinge ins Rutschen und rissen immer mehr mit sich fort. [...] Es fühlte sich an, als säßen sie alle auf einem Vulkan, aus dem schon die Asche flog."
AVIVA-Tipp: Helga Bürster beschreibt anhand des dörflichen Lebens den ganzen Kosmos, den das Leben ausmacht. Die großen Themen des Romans sind Verlust und Sehnsucht. Und wie sich diese Leerstellen - nicht immer - miteinander vereinbaren lassen.
Zur Autorin: Helga Bürster 1961 geboren, wuchs in Dötlingen auf, einem Dorf bei Bremen, das auch in ihrem Roman Luzies Erbe den Schauplatz darstellt, und in dem sie auch heute wieder lebt. Nach ihrem Studium der Theaterwissenschaften, Literaturgeschichte und Geschichte in Erlangen, arbeitete sie als Rundfunk- und Fernsehredakteurin bis sie 1996 freiberufliche Autorin wurde. Neben Kriminalromanen (u.a. "Der letzte Weihnachtsmann", "Flintenweiber" oder "Insel, Wind und Tod") schreibt sie auch historische Romane, Hörspiele, Theaterstücke und Reiseliteratur.
Helga Bürster im Netz www.helga-buerster.de
Helga Bürster
Eine andere Zeit
Insel Verlag, erschienen 03/2022
Gebunden, 250 Seiten
ISBN 978-3-458-64285-5
Euro 23,00
Mehr zum Buch unter: www.suhrkamp.de
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Helga Bürster – Luzies Erbe
Die 100jährige Matriarchin Luzie Mazur stirbt und hinterlässt eine "aus den Fugen geratene Zeit" - jedenfalls für ihre unmittelbaren Angehörigen. Allen voran ihre Enkelin, die Mittfünfzigerin Johanne (die zugleich das Alter Ego von Helga Bürster ist), und deren Tochter Silje. Luzies Erbe ist ein bislang gut gehütetes Geheimnis. (2019)