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Beitrag vom 28.05.2021
Margarete Beutler. Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet
Sabina Everts
Sprachgewaltig, scharfsinnig und humorvoll. Über siebzig Jahre nach ihrem Tod erscheinen Erzählungen aus dem Nachlass einer in Vergessenheit geratenen Schriftstellerin und Übersetzerin. Was für eine Wiederentdeckung!
Auf einem Hügel am Waldrand liegt eine junge Frau. Trotz des gerade erst beginnenden Frühlings ist sie nur mit einem Unterkleid aus gelber Seide bekleidet. Sie ist allein und möchte es nicht anders. Sie zieht die Knie an, spreizt die Beine und lässt die Sonne in ihre Vagina, ihr "Pförtchen der Freude" scheinen. Sie ist frei und vergnügt. Sie spürt ein Klingen in sich, ein silberner Klöppel, der an eine Glocke schlägt. Sie saugt euphorisch die zum Leben erwachende Natur in sich auf, jauchzt und lacht, reimt und tanzt auf dieser Wiese, die nur ihr allein gehört. Sie ist die Herrin ihres Königreichs. Da hört sie Stimmen. Die Stimmen zweier junger Männer. Unerbittliche Augen fressen sie, Lachen dringt hart in ihr Ohr. Zerschnitten sind ihr Rhythmus, ihre Linien, ihre Gedanken.
Wer ist Margarete Beutler?
In dieser ekstatischen Szene aus dem Kapitel "Fremdes Volk in meinem Königreich?" treffen wir eine in Vergessenheit geratene Schriftstellerin. Margarete Beutler, geboren 1876 im heute polnischen Goleniów, ist die Autorin der unter dem eigenwilligen Titel "Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet" gesammelten Erzählungen. Das im März 2021 im AvivA-Verlag erschienene Buch und seine Autorin sind eine echte Entdeckung. Genau genommen: eine Wiederentdeckung.
Margarete Beutler veröffentlichte bereits zu Lebzeiten mehrere Gedichtbände und andere literarische Arbeiten. Niemand Geringeres als der zu diesem Zeitpunkt selbst noch unbekannte Thomas Mann bat sie nach Erscheinen ihres ersten Texts in der satirischen Zeitschrift Simplicissimus um die Zusendung weiterer Arbeiten. In der Berliner Bohéme um 1900 ging sie ein und aus, trat in Kaffeehäusern und Cabarets auf, war bekannt mit Else Lasker-Schüler und Marie Madeleine und übersetzte Baudelaire und Moliére. Sie war ungewöhnlich wie vieles in ihrem Leben für diese Zeit – alleinerziehende Mutter und behielt die Identität des Vaters ihres ersten Sohnes bis an ihr Lebensende für sich. Nach ihrem Umzug nach München wurde sie Redakteurin der Zeitschrift "Jugend" und lernte im schwäbischen Intellektuellenkreis Christian Morgenstern und ihren späteren Mann Friedrich Freska kennen.
Ihrem Nachlass aus über 200 Gedichten, mehr als 50 Erzählungen, sieben Theaterstücken, einem Opernlibretto sowie Briefen, Rezensionen und Fotografien widmet sich nun seit 2017 der Germanist Winfried Siebert. Dass ihre umfangreichen Arbeiten erhalten blieben, ist einem Zufall und einem Enkel Beutlers zu verdanken.
Als Martin Freska 1985 einen letzten Rundgang durch das zum Verkauf stehende Haus seiner Eltern macht, entdeckt er auf dem Dachboden zwei von Spinnweben überzogene Kartons. Es sind Margarete Beutlers gesammelte literarische Arbeiten, die von einer außergewöhnlichen Produktivität, sprachlicher Begabung und nicht zuletzt von Scharfsinn und bissigem Humor zeugen. Sie selbst schrieb 1921 in ihrem Haus am See in Starnberg: "[…] und dann ist so unendlich viel Neues in dem pommerschen Schädel drin, dass ich es nicht bewältigen werde, auch wenn ich noch hundert Jahre lebe."
Erster Teil – Eine schöne Bescherung
Die nun erschienene Veröffentlichung aus ihrem Nachlass ist ein zweiteiliger Einblick in den genialen "pommerschen Kopf". Im ersten Abschnitt "Eine schöne Bescherung" zeigen dreizehn Szenen eine mitunter kafkaesk anmutende Kindheit. Ein junges Mädchen, das die Welt um sich herum noch nicht versteht, begreift schon früh, dass sie nicht gut in sie hineinpasst. Sie weiß nicht, was eine "Mutter" oder ein "Vater" ist, denn sie wächst bei ihrer Großmutter und der strengen Tante Helene auf. Sie stellt viele Fragen und hat schon früh einen eigenen Kopf. Es gibt in dieser Kindheit märchenhafte Charaktere wie die böse "Pimpelwute" oder den "schmutzigen August". Beutler erzählt die Entwicklung ihres kindlichen Denkens nach, das sich seiner selbst bewusst wird. Aus dem "man" wird ein "Ich".
"Man merkt, dass man ein nicht zu verwechselnder, auch für alle anderen Menschen deutlich erkennbarer Jemand ist, der will, wenn er will, und nicht will, wenn er nicht will. Man ist jemand, der Gretchen heißt und nicht um viele Hampelmänner Tante Helene heißen möchte."
Zweiter Teil – Erlauben Sie, das soll ein gewöhnliches Frühstück sein?
Die erwachsene Margarete wird dem Gretchen, das sie einmal war und das beim Lesen ans Herz wächst, sehr gerecht. Sie ist Individualistin, sich selbst genug und in den meisten ihrer Erzählungen emotional mehr mit der Natur als mit ihren Mitmenschen verbunden.
"Ein Arbeitstisch, niedriger Teehocker und ein einfacher Stuhl, und ein Raum ist geschaffen, in dem Harmonie und Ruhe ist, in dem Sinn ist für den Sinn des Lebens." Und "Herrlich wohltuend ist das Gefühl der Unerreichbarkeit", schreibt sie in "Das Jägerhaus an der Brücke".
In ihren Erzählungen veralbert sie mit besonderer Vorliebe und satirischem Witz einen, wie es scheint, gewissen Störfaktor ihres Lebens: Männer. Phantastische Erzählungen nehmen die Leser*in mit in "Das Himmels-Cabaret", das "Paradies für Neuromantiker" oder die "Ehescheidungsschule", in der Frauen als wichtigste Voraussetzung für eine gelingende Ehe noch vor der Heirat das nötige Handwerk für eine gelungene Scheidung lernen.
In "Tonetta" denkt die Protagonistin über die Ehe, Schwangerschaftsabbrüche, Abhängigkeit und Mutterschaft nach. Es zeigt sich, wie weit Margarete Beutler ihrer Zeit in vielerlei Hinsicht voraus war: "Wann wird meine Formel Gültigkeit haben in der Welt? Wann wird es keiner äußeren Bindungen mehr bedürfen zwischen den Geschlechtern? Wenn das Wort Verantwortung keinen Klang mehr hat von Zwang und Strafe."
Warten auf Nachschub
Inwiefern die literarische Figur "Margarete" der Schriftstellerin entspricht, sei dahingestellt, die vielen biographischen Bezüge legen aber Ähnlichkeiten nahe.
Die Autorin Margarete Beutler zieht sich mit Mitte Vierzig aus der literarischen Öffentlichkeit zurück und lebt fortan in ärmlichen Verhältnissen in ihrem Haus am Starnberger See. Es mag diesem Rückzug geschuldet sein, dass ihr literarischer Nachlass jahrzehntelang in der Ecke eines Dachbodens auf seine Wiederentdeckung wartete.
Umso mehr freut es nun also, in diesem Band Beutler´sche Originale lesen zu können, mit dem Wissen, dass frau nicht ohne Nachschub auskommen muss. Mehr Margarete bitte!
AVIVA-Tipp: Margarete Beutler bewegte sich zu Lebzeiten in den intellektuellen Kreisen der Berliner und Münchner Bohéme. Neben mehreren Gedichtbänden erschienen ihre Texte u.a. in der satirischen Zeitschrift "Simplicissimus". Nach ihrem Tod geriet sie in Vergessenheit, bis auf einem Dachboden ihr umfangreicher Nachlass entdeckt wurde. In "Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet", der ersten Veröffentlichung posthum, lernen Leserinnen eine geistreiche und humorvolle Schriftstellerin kennen, die eine echte (Wieder-) Entdeckung ist!
Zur Autorin: Margarete Beutler wurde 1876 im westpommerschen Gollnow (heute Goleniów) geboren und besuchte das Lehrerinnenseminar in Berlin, wo sie bald der Boheme-Szene angehörte. Sie war Mitglied der künstlerisch-literarischen Vereinigung "Die Kommenden", zu der auch Else Lasker-Schüler, Hans Ostwald und Ernst von Wolzogen gehörten, und sie war diejenige, die Erich Mühsam in den Kreis einführte.
1902 veröffentlichte Beutler nach Beiträgen in Zeitschriften wie dem "Simplicissimus" ihren ersten Gedichtband und zog von Berlin nach München. Dort trat sie vermutlich beim Kabarett "Die Elf Scharfrichter" auf, arbeitete als Redakteurin der Zeitschrift "Jugend" und war als Übersetzerin tätig.
Ihre Söhne Peter Claus und Hans Florian brachte sie in den Jahren 1900 und 1906 zur Welt. 1907 traute der Schriftsteller Christian Morgenstern Beutler mit dem sechs Jahre jüngeren Autor Kurt Friedrich-Freksa. 1908 erschien, protegiert von Christian Morgenstern, ein zweiter Band "Neue Gedichte" und 1911 der dritte mit dem Titel "Leb wohl, Bohème". Ab 1925 lebte Beutler, inzwischen von ihrem Ehemann getrennt, im selbst erworbenen kleinen Blockhaus in Seeheim am Starnberger See unter ärmlichen Verhältnissen.
Nach der Machtübernahme der Nationalsozialisten lehnte sie den Beitritt in die Reichsschrifttumskammer ab und verzichtete somit bewusst auf weitere Veröffentlichungen. 1939 wurde ihre Ehe mit Freksa geschieden. Beutler starb 1949 in einem Pflegeheim in Gammertingen in der Nähe von Tübingen.
(Quelle: AvivA-Verlag)
Zu den Herausgebern:
Winfried Siebert studierte Germanistik, Romanistik und Philosophie in Düsseldorf und war als Studienrat in Düsseldorf und Hamburg tätig. Seit 2017 widmet er sich dem umfangreichen unveröffentlichten Nachlass von Margarete Beutler. Er lebt in Hamburg.
Martin Freska schloss ein sozialwissenschaftliches Studium in Tübingen, München und Berlin mit der Promotion ab und war als Soziologe, Historiker und Publizist tätig. 1985 entdeckte er den Nachlass seiner Großmutter Margarete Beutler. Er lebt in Tübingen.
(Quelle: AvivA-Verlag)
Margarete Beutler
Ich träumte, ich hätte einen Wetterhahn geheiratet
Mit dem Text "Grete" von Erich Mühsam und einem Vorwort von Winfried Siebert
AvivA Verlag, erschienen: März 2021
Hardcover, 256 Seiten, mit Leseband
ISBN: 978-3932338953
22,00 Euro
Mehr zum Buch unter: www.aviva-verlag.de
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