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Beitrag vom 24.02.2017
Irmgard Keun - Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften. Irmgard Keun - Kind aller Länder
Sharon Adler
Ihre gesellschaftskritischen Romane, "Gilgi, eine von uns" (1931) und "Das kunstseidene Mädchen" (1932) machten sie schlagartig berühmt. Der Star der Literaturszene der Dreißiger Jahre, deren Werke wegen ihres messerscharfen Satire-Stils und Gesellschaftskritik von den Nazis verboten und verbrannt wurden, geriet in den 1950er Jahren in Vergessenheit. Erst durch ...
... eine Veröffentlichung im "Stern" im Jahr 1977 wurde Irmgard Keun wieder in das Bewusstsein der literarischen Öffentlichkeit gebracht.
Keun, die zeitlebens ein unabhängiges Leben führte, schuf auch in ihren Romanen Frauenfiguren, die sich frei machten von gesellschaftlichen Konventionen, die "ein Glanz werden" und etwas erleben wollten.
Ihre Figuren spiegelten den Zeitgeist nicht nur, sie waren ihm auch häufig voraus, was vor allem in den prüden 1950er Jahren in Deutschland zur Ignoranz ihrer Werke führte. Freie Frauen waren verpönt, ansonsten wollte niemand etwas von den Machenschaften der Nazis gehört oder gesehen haben. Irmgard Keun war nicht mehr angesagt.
Der Journalist und Sammler Jürgen Serke hatte es sich zur Lebensaufgabe gemacht, für seine Portraitserie "Die verbrannten Dichter" die Schriftstellerinnen und Schriftstellern, die in das tödliche Visier der Faschisten geraten waren, zu recherchieren. Darunter auch Irmgard Keun, die zu diesem Zeitpunkt vergessen, verarmt und alkoholkrank in einer winzigen möblierten Wohnung in Köln lebte.
Die Wohnung hatte ihr der Kölner Journalist und damalige Kulturredakteur des "Kölner Stadt-Anzeiger" Wilhelm Unger organisiert, der wie Keun selber viele Jahre in der Emigration verbracht hatte. Er sorgte auch dafür, dass Irmgard Keun vor Schulklassen in Bonn aus ihren Romanen las und so ihrer Isolation entkam.
Erst in den 1970er Jahren wurden ihre Romane durch den Claassen Verlag, der sämtlichst alle ihrer Romane wieder neu auflegte, wiederentdeckt, und Keun zu öffentlichen Lesungen eingeladen.
Sie, die von den Nazis um ihr halbes Leben, um ihre Karriere gebracht wurde, wurde nun (wieder) hofiert und genoss es. Volle Säle. Standing Ovations.
Die Schriftstellerin erfuhr so zum Ende ihres wechselvollen Lebens eine späte und verdiente Anerkennung.
Anders als in ihren in Berlin verfassten Großstadtromanen stellte sie in ihren Exilromanen "Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften" und "Kind aller Länder" nicht junge Frauen, sondern die Mädchen in den Fokus. Die handeln, anders als ihre älteren literarischen (fiktiv-autobiographischen) Schwestern, nicht immer aus freien Stücken, sondern werden dazu gezwungen zu handeln, mit den Gegebenheiten im Exil und auf der Flucht umzugehen.
1938 erstmals erschienen: die semi-autobiographische Geschichte vom Leben der zehnjährigen Kully im Exil – aus ihrer Sicht und von ihr selbst erzählt: "Kind aller Länder"
Nachdem Irmgard Keuns Bücher in Deutschland verboten worden waren ging sie ins Exil nach Ostende, traf dort den Schriftsteller und Trinker Joseph Roth, begann eine leidenschaftliche Affäre mit ihm – und diesen Roman, der unschwer die (Liebes-)Geschichte von Keun und Roth erkennen lässt. Keun und Roth lieferten sich wahre Schreibduelle, arbeiteten – unter immensem Alkoholeinfluss – bis zur Erschöpfung.
Im typisch lakonischen Keun´schen Erzählstil lässt die Schriftstellerin in "Kind aller Länder" die zehnjährige Kully von ihrem Leben in der Emigration erzählen. Ihr Vater, ein spielsüchtiger Filou, der das gute Leben liebt und vor dem Naziregime ein erfolgreicher Schriftsteller war - steckt ständig in finanzieller Bredouille, denn da seine Bücher in Deutschland verboten sind lebt er von spärlichen Aufträgen für Zeitungsartikel und verhandelt immer neue Vorschüsse seiner Auslandsverlage – und ist ständig auf der Jagd nach Bargeld. Seine Beschaffungstouren führen ihn quer durch Europa, von Brüssel über Lemberg nach Prag, Paris, Nizza und sogar nach New York. Mutter und Tochter lässt er dann als lebendes Pfand an immer anderen Orten Europas in Hotels oder Pensionen (mal schick, mal weniger schick) zurück, wo Rechnungen zu begleichen und ständig neue Ausreden der dort Gefangenen gefordert sind.
In einer Mischung aus Unaufgeregtheit und kindlicher Naivität erzählt Keun/Kully vom Leben im Exil. Von einem Leben, das je nach Geldlage aus Kaviar und Champagner oder einem Leben aus dem Koffer, ohne Aussicht auf etwas zu essen besteht. Von Emigrantinnen und Emigranten, die ständig auf der verzweifelten Suche sind nach Visa und Affidavits für das von den Nazis erzwungene Exil. Von der Liebe zu den Eltern, die der Eltern zum Kind und doch der absoluten Einsamkeit inmitten von Menschen, die nicht verfolgt sind.
Mit den Augen eines ebenfalls zehnjährigen Mädchens erleben wir im Sommer 1918, wie der 1. Weltkrieg zu Ende geht: Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften
Wie in "Kind aller Länder" geht es in Irmgard Keuns erstem Exilroman, der 1936 bei Querido erschien, wieder um ein junges Mädchen. Diese hier namenlos bleibende hat eine grenzenlose Phantasie, die sie in immer neue und verzwickte Situationen geraten lässt. Durch ihre Chuzpe hat sie pausenlos jede Menge neue Probleme: Mit Lehrerinnen, den Eltern, kurz. Der Obrigkeit ihrer kleinen Welt.
Dabei ist das Leben im Krieg ist beschwerlich genug. Der Kupfertopf wurde für die Kanonenproduktion requiriert, Lebensmittel sind knapp, der Nachbar hat im Feld einen Arm verloren, das Mädchen muss Steckrüben stehlen und begibt sich in große Gefahr. Mit einem Brief an den Kaiser will sie endlich für Frieden sorgen, denn "Frieden wär viel schöner als Krieg".
Irmgard Keun gelingt es in diesem Roman, wie in allen ihren Werken, erneut äußerst geschickt, die großen Themen der Zeit, die Kritik an den Zuständen, durch die Augen weitsichtiger und kluger Mädchen, deren kindlicher Naivität und glasklarer Sicht, zu einer scheinbar komisch-anrührenden Verbindung zu verpacken – das alles mit einem leichten, beinahe unschuldigem und gleichzeitig atemlosen Erzählton, der doch alle Abgründe nicht nur zwischen den Zeilen offenbart … Gemeinsam ist ihren Romanen der Stil der Neuen Sachlichkeit, die sie in ihrer ureigenen schnörkellos schöner Sprache zu einem völlig neuen Genre erhoben hat.
AVIVA-Tipp: Irmgard Keun hat bis heute definitiv zu wenig Beachtung gefunden, und das, obwohl ihre gleichfalls kritisch wie humorvollen Gesellschaftsanalysen heute so aktuell sind wie damals. Die Sprache: Ein Genuss. Die Geschichten und ihre Protagonistinnen: zum Verlieben. Irmgard Keun selbst: Einfach grandios.
Irmgard Keuns Biographie: Tragisch, schön, geprägt von Leidenschaft, Laster, Talent und Chuzpe. Unsere Empfehlung gegen den Zeitgeist: Irmgard Keun lesen!
Zur Autorin: Irmgard Keun, geboren 1905 in Berlin, ist nach dem Abschluss des Mädchenlyzeums und dem Besuch einer Handelsschule als Stenotypistin tätig, bevor sie in Köln die Schauspielschule besucht. Ihre Schauspielkarriere beendet sie früh und veröffentlicht 1931 ihren ersten Roman "Gilgi, eine von uns", der sie blitzartig berühmt macht. Verfilmt wird er 1932. Der Verkaufserfolg ihres zweiten Romans "Das kunstseidene Mädchen" (1932) vergrößert ihren Ruhm noch.
Doch: Ihre Romane stehen bald auf der "schwarzen Liste" der Nazis, sie wird verhört und gefoltert.
Unglaublich, aber wahr - denn Irmgard Keun ist eine, die sich ihren Mund nicht verbieten lässt. Sie reicht beim Berliner Landgericht Klage gegen die Verbrennung ihrer Bücher ein:
"Der mir entstandene Schaden begrenzt sich keineswegs mit meinen Urheberanteilen aller beschlagnahmten Bestände, sondern ergibt sich aus der erweislichen Tatsache, dass mein Monatseinkommen vor der Beschlagnahme sich auf mehrere tausend Mark belief und infolge der Beschlagnahmung keine hundert Mark mehr beträgt."
Nach den Bücherverbrennungen und dem Verbot ihrer Bücher und der Ablehnung ihrer Aufnahme in die Reichsschrifttumskammer geht Keun 1936 ins Exil, zunächst nach Ostende, lebt, reist und trinkt zwei Jahre zusammen mit Joseph Roth.
1936 schreibt sie im Exil den Roman "Nach Mitternacht", der 1937 in Amsterdam bei Querido erschien. Er schildert die Ereignisse der 48 Stunden im Leben einer 19 jährigen Frau vor ihrer Flucht aus Nazi-Deutschland.
Nach der Trennung von Roth, nach der Besetzung Hollands durch die Nazis, reist Keun für kurze Zeit nach Amerika, trifft sich dort mit ihrem einstigen heimlichen Geliebten, dem jüdischen Arzt Arnold Strauss, 1940 kehrt sie "illegal" zurück nach Deutschland, wo sie bis 1945 versteckt bei ihren Eltern in der Illegalität (über)lebt.
Nach dem Krieg interessiert sich niemand für ihre Werke. Ihr 1950 erschienener (letzter) Roman "Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen" wird verrissen.
Irmgard Keun trinkt, ist tablettensüchtig. 1951 bringt sie ihre Tochter Martina zur Welt. Den Vater hält sie geheim.
Später wird Keun für sechs Jahre in das Landeskrankenhaus Bonn eingewiesen. Die Tochter kommt in die Obhut des Jugendamts. Sie erinnert sich bis heute vor allem an ihre großzügig-liberale Erziehung und das unkonventionelle Verhalten ihrer Mutter.
Keuns Roman "Das kunstseidene Mädchen" 1959 verfilmt, erhält beinahe ausschließlich schlechte Kritiken. Erst in den späten 1970er Jahren erlebt sie ihre Wiederentdeckung und ihre Romane werden neu aufgelegt.
1981, ein Jahr vor ihrem Tod, erhält sie den Marie-Luise-Fleißer-Preis der Stadt Ingolstadt.
Irmgard Keun stirbt am 5. Mai 1982 an Lungenkrebs.
Heute widmen sich diverse Publikationen der Analyse von Irmgard Keuns Werk, der Verlag Kiepenheuer & Witsch veröffentlicht ihre Bücher, die im Audioverlag auch als Hörbuch erschienen.
Irmgard Keun
Das Mädchen, mit dem die Kinder nicht verkehren durften
Mit einem Nachwort von Volker Weidermann, aus "Das Buch der verbrannten Bücher, 2008
Kiepenheuer&Witsch, erschienen am 08.09.2016
ISBN: 978-3-462-04991-6
208 Seiten, gebunden mit SU
16,00 Euro
www.kiwi-verlag.de
Irmgard Keun
Kind aller Länder
Mit einem Nachwort von Volker Weidermann, aus "Das Buch der verbrannten Bücher, 2008
Kiepenheuer&Witsch, erschienen am 18.02.2016
ISBN: 978-3-462-04897-1
224 Seiten, gebunden mit SU
17,99 Euro
www.kiwi-verlag.de
Informationen zu den Veröffentlichungen von Irmgard Keun finden Sie auf der Webseite "VERBRANNTE und VERBANNTE. Die Liste der im Nationalsozialismus verbotenen Publikationen und Autoren" unter:
verbrannte-und-verbannte.de
Eine Biographie ist online unter:
www.fembio.org
Bücher von Irmgard Keun:
"Gilgi - eine von uns", Roman.
"Das kunstseidene Mädchen", Roman.
"Nach Mitternacht", Roman.
"Ferdinand, der Mann mit dem freundlichen Herzen", Roman.
"D-Zug dritter Klasse", Roman.
"Ich lebe in einem wilden Wirbel", Briefe an Arnold Strauss 1933-1947.
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(Quellen: AVIVA-Berlin, Kiepenheuer&Witsch)