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Beitrag vom 16.05.2016
Jennifer Clement - Gebete für die Vermissten
Christine Langer
Entführungen von Frauen und Mädchen durch Drogenkartelle gehören im mexikanischen Bundesstaat Guerrero zum Alltag. Im Roman der Präsidentin von PEN International wird aus Sicht der 16-jährigen Ladydi von traumatischen Erlebnissen...
... und Hoffnungen der Betroffenen erzählt, die von der korrupten Polizei und Politik im Stich gelassen werden.
Das Verschwinden von 43 Studierenden bei einer Demonstration in Guerrero im September 2014 erlangte große internationale Aufmerksamkeit. Weltweit wurde daraufhin über die korrupten Verstrickungen von Politik, Polizei und Drogenkartellen in Mexiko berichtet. Bei dem Staatsbesuch des Präsidenten Enrique Peña Nieto am 11. und 12. April 2016 demonstrierte Amnesty International an vielen Orten in Deutschland gegen die Missachtung von Menschenrechten. Täglich werden in Mexiko vor allem Frauen und junge Mädchen verschleppt. Die wenigsten Entführungen werden jedoch aufgeklärt.
Jennifer Clement hat für "Gebete für die Vermissten" zehn Jahre lang in Mexiko recherchiert und hunderte Interviews mit den leidtragenden Mädchen und Frauen des Drogenkrieges geführt. Nachdem sie Freundinnen, Ehefrauen und Töchter von Drogenhändlern interviewt hatte, ist sie auf diejenigen aufmerksam geworden, die ein Leben im Versteck führen und hat daraufhin beschlossen sie in den Mittelpunkt der Geschichte zu stellen, um sie sichtbar zu machen. Die Frauen in dem Roman werden aber nicht wie so oft als Opfer stigmatisiert, vielmehr steht ihre Widerstandskraft, sich dem Terror der Kartelle entgegenzusetzen, um vor allem ihre Töchter zu schützen, im Vordergrund.
"In Mexiko ist es das Beste, ein hässliches Mädchen zu sein."
In einem Bergdorf südlich von Mexiko-Stadt in der Nähe der Stadt Chilpancingo werden Mädchen bis zum Beginn der Pubertät als Jungen verkleidet und mit Kohle angemalt. Sie dürfen nicht alleine das Haus verlassen und werden in Erdlöchern versteckt, sobald sich die schwarzen SUVs der Drogendealer nähern.
"Die Drogendealer mussten nur hören, dass irgendwo ein hübsches Mädchen rumlief, schon kamen sie mit schwarzen Escalades angerauscht und nahmen es mit."
Die ärmliche Häusersiedlung, in der die Protagonistin Ladydi Garcia Martinez aufwächst, liegt in Mitten von Mohn- und Marihuanafeldern und wird vom einem Kartell beherrscht und kontrolliert, das die Bevölkerung systematisch terrorisiert, Mädchen entführt und als Sklavinnen weiterverkauft. Da die Männer aus dem Dorf zum Arbeiten in mexikanische Großstädte oder in die USA auswandern, bleiben nur die Frauen und jungen Mädchen zurück.
Wie strukturell vernachlässigt die Gegend ist, wird unter anderem dadurch deutlich, dass in der Schule nur Lehrer_innen aus Mexiko-Stadt unterrichten, die dort ein Freiwilliges Soziales Jahr absolvieren und meistens nur wenig Verständnis für die Verhältnisse vor Ort haben. Die Ärzt_innenteams, die alle acht Jahre in die Region kommen, um besondere Fälle wie die Hasenscharte von Ladydis Freundin Maria zu behandeln, kommen nur mit Militärschutz, damit sie nicht überfallen und entführt werden. Dass die Taxis in Guerrero Schilder mit der Aufschrift "Nehmen keine blutenden Fahrgäste mit" tragen, zeigt dass Gewalt Bestandteil des Alltages ist.
Armeehubschrauber werden dafür bezahlt, Pestizide über den Drogenanbaugebieten zu verschütten. Da das Militär jedoch von den Kartellen bestochen wird, werfen sie das giftige Paraquat über den Hütten der Bevölkerung ab, anstatt über den kostbaren Feldern. Während die Anführer der Mafia im Luxus leben, leiden vor allem die Frauen und Mädchen der ärmeren Bevölkerung unter dem Drogenkrieg.
Nachdem Ladydis Vater nicht mehr aus den USA zurückkehrt und in New York eine neue Familie gründet, beginnt ihre Mutter zu trinken. Die Gemeinschaft in dem Dorf bricht nach und nach zusammen, und die meisten Bewohner_innen verlassen den Berg mit der Hoffnung, an einem anderen Ort ein besseres Leben zu beginnen. Ladydi erhält die Chance, der Armut, dem Terror des Kartells sowie dem Alkoholismus ihrer Mutter zu entfliehen und in einer reichen Familie in Acapulco als Hausmädchen zu arbeiten. Nach sieben Monaten wird das Haus jedoch von der Polizei gestürmt, da Ladydi vor ihrer Ankunft in Acapulco unwissentlich in den Mord an einem der größten Drogenbosse des Landes verwickelt wurde.
Auf dem Weg ins Gefängnis im Militärhubschrauber nach Mexiko-Stadt, wird das Ausmaß des paradoxen Teufelskreises als auch die Ausweglosigkeit sichtbar, in dem sich Mädchen wie die Protagonistin des Romans befinden. Neben Ladydi steht ein Kanister, der mit Totenköpfen und dem Wort "Paraquat" gekennzeichnet ist und ein Polizist, der die mit Handschellen gefesselte 16-jährige bewacht, wirft ihr vor, dass alle Mädchen in Mexiko dumm seien und nur an Geld denken würden.
Jennifer Clement lässt beiläufig ihre gesammelten Informationen in die Geschichte einfließen. Sie hat ein Stipendium des National Endowment for the Arts (NEA) erhalten, sowie eine Förderung des Fondo Nacional para la Cultura y las Artes (FONCA), um für das Buch zu recherchieren.
AVIVA-Tipp: Aus der Ich-Perspektive einer 16-jährigen berichtet Jennifer Clement in "Gebete für die Vermissten" nüchtern über die tagtägliche Brutalität des Drogenkrieges und schildert die mutigen Überlebensstrategien der betroffenen Frauen und Mädchen. Durch authentische Dialoge und viele Metaphern erhalten die Leser_innen tiefe Einblicke in die Lebensrealität der Protagonistin und ihres Umfeldes. Auch wenn die Geschichte fiktiv ist, macht Clement mit dem Roman auf diejenigen aufmerksam, die in Debatten um die Macht der Drogenkartelle in Mexiko oft aus dem Blickfeld geraten.
Zur Autorin: Jennifer Clement, geboren 1960 in Connecticut, ist in Mexiko-Stadt aufgewachsen und hat in New York und Paris Literaturwissenschaften studiert. Sie ist Schriftstellerin und als erste Frau Präsidentin von PEN International, einem der bedeutendsten Autor_innenverbände, der sich weltweit für freie Meinungsäußerung einsetzt. Zuvor war Clement bereits Präsidentin von PEN Mexiko, wo sie sich vor allem mit Entführungen und Ermordungen von Journalist_innen in Mexiko beschäftigt hat. Viele ihrer Romane wurden mit Preisen ausgezeichnet und als Theaterstücke aufgeführt, wie unter anderem "A True Story Based on Lies", in dem die Misshandlung von Hausangestellten thematisiert wird.
Mehr Informationen zu Jennifer Clement unter:
www.jennifer-clement.com
Jennifer Clement
Gebete für die Vermissten
Originaltitel: Prayers for the Stolen
Aus dem Englischen übersetzt von Nicolai von Schweder-Schreiner
Suhrkamp Verlag, erschienen 7. Dezember 2015
Taschenbuch, 230 Seiten
ISBN: 978-3-518-46640-7
www.suhrkamp.de
Weitere Informationen zu Menschenrechtsverletzungen in Mexiko unter:
www.amnesty.de
Amnesty Aktion: Fordern Sie vom mexikanischen Präsidenten: "Stop Folter!"
Human Rights Watch - Mexico
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