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Beitrag vom 02.10.2006
Lionel Shriver: Wir müssen über Kevin reden
Sabina Schutter
Wie geht es einer Mutter, deren Sohn mehrere seiner Mitschüler getötet hat? Eva, die Mutter von Kevin, setzt sich schonungslos mit Verantwortung, Schuld, Liebe und Hass auseinander.
"Vielleicht sind wir zu glücklich" begründet Eva ihren Wunsch nach einem Kind und weiß noch nicht, dass dieses Glücklichsein in einer Katastrophe enden wird. Retrospektiv, zwei Jahre nach dem Donnerstag, nach dem nichts mehr wie vorher war, arbeitet Eva ihre Geschichte in Briefen an ihren Mann auf. Sie, die erfolgreiche Reisebuchautorin und Franklin, der Location-Scout wissen mit Mitte Dreißig nichts, das ihr Leben besser vervollständigen würde als ein Kind. Es ist die Antwort auf die "große Frage" es ist das "Aufschlagen einer neuen Seite".
Kevin, der Sohn, beantwortet Fragen zunächst mit Schreien und später mit "mag ich nich". Noch später beantwortet er Fragen mit Gewalt. Die Unterschiede zwischen der zynischen, feingeistigen, vielgereisten Eva und dem fröhlich-oberflächlichen Vater Franklin treten durch das "Wunschkind" deutlich zutage. Während er mit aller Macht bis zuletzt die Probleme mit Kevin überspielt, verharmlost und durch bedingungslose Liebe zu besiegen versucht, wird Eva mehr und mehr zur Verfolgten im eigenen Haushalt. Ohne die Möglichkeit, sich gegenseitig zu unterstützen oder offen über Probleme zu sprechen, wird die glückliche amerikanische Familie mehr und mehr zu einem Kampf, in dem ineinander verkeilte Boxer sich nicht mehr loslassen können. Die Verzahnung wird schließlich von Kevin brutal aufgesprengt.
Mit erschreckender Klarheit beschreibt Eva dieses Ensemble und lässt in keiner Zeile den Verdacht aufkommen, sie wolle sich aus der Verantwortung stehlen. Schonungslos stellt sie jedes Versagen, jedes Gefühl, jede Verzweiflung dar, und der Leser vergisst, dass es sich um Fiktion handelt.
Zur Autorin:
Lionel Shriver arbeitet als Schriftstellerin und Journalistin u. a. für "The Wall Street Journal" und "The Economist". Sie lebt in London und New York.
AVIVA-Tipp: Der Autorin Lionel Shriver ist es gelungen, sich so an dieses Unglück anzunähern, dass der Roman weit von Sensationslust und einfachen Zuschreibungen entfernt ist. Sie lässt die Leser mit dem unbehaglichen Gefühl zurück, dass man nie alles richtig machen kann und es keine Garantie für ein glückliches Leben gibt - schon gar nicht für ein zu glückliches.
Lionel Shriver
Wir müssen über Kevin reden
Originaltitel: We need to talk about Kevin
Ãœbersetzt von Christine Frick-Gerke, Gesine Strempel
List Verlag Berlin, erschienen Februar 2006
ISBN: 3471786791
EAN: 9783471786796
Gebunden, 560 Seiten
19,95 Euro90008115&artiId=5171318">