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Beitrag vom 26.11.2009
Friedrich von Borries und Jens Uwe Fischer - Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel
Adriana Stern
Die Autoren verknüpfen in dem vorliegenden Werk deutsche Architekturgeschichte mit dem Leben von Juden in Deutschland seit dem Ende des 18. Jahrhunderts. Sie nehmen dabei vor allem eine zeit- und...
... kulturgeschichtliche Perspektive ein.
Schon der Titel spiegelt eine paradox anmutende Idee wider. Container sind etwas für einen Übergang, eine Heimat dagegen hat Bestand. Doch genau damit trifft die Kupferhausidee die Situation deutscher Juden präzise.
Der erste Teil, Heimatcontainer, zeigt auf 25 Seiten Farbabbildungen der Kupfer- Fertighäuser aus Israel, vor allem in Haifa, und aus Deutschland, insbesondere in Berlin und Eberswalde. Im Anhang finden sich Bildnachweise zu den Abbildungen, die leider ohne Seitenzahlen geblieben sind, was eine Zuordnung der Nachweise zu den Fotografien erschwert.
Der zweite Teil, Container, beschreibt die Geschichte der jüdischen Familie Hirsch vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zur Ermordung von Aaron Hirsch 1942 in einem KZ und stellt die Idee der Kupferhäuser vor.
In diesem Teil finden sich zehn Schwarz-Weiß Fotografien, zwei Zeichnungen und drei exemplarische Grundrisse der Kupferhäuser. Auf der Internetpräsenz des Suhrkamp- Verlags sind weitere Zeichnungen aus Katalogen abgebildet, die im Buch schmerzlich fehlen, weil gerade sie Entwürfe, Grundrisse und Preislisten speziell für Israel gedachte Kupferhäuser zeigen.
Die Absätze im Buch sind durch kleine grafische Icons, welche 25 verschiedene Kupferhausentwürfe symbolisieren gegliedert. Durch sie läuft das Thema "Heimatcontainer" wie ein roter Faden mit.
Die Geschichte des Kupferhauses lässt sich ohne die Geschichte der Juden in Deutschland nicht denken und nicht erzählen. Die Autoren bleiben stets nah an den geschichtlichen Ereignissen, die das Leben der Juden, auch das der Familie Hirsch, zutiefst geprägt und beeinflusst haben.
Diese unauflösliche Verknüpfung ist auf jeder Seite spürbar. So ist das Kupferhaus untrennbar verbunden mit jüdischer Geschichte zur Zeit der Aufklärung, mit dem Zionismus, der kurzen Zeit der Emanzipation von Juden und ihrer Flucht vor Verfolgung. Der Ahnvater, Rabbiner Naftali Hirsch Gumprecht, zog Ende des 18. Jahrhunderts aus dem Frankfurter Ghetto nach Halberstadt. Sein Sohn Aaron wurde Kaufmann und übernahm eine Altmetallhandlung: der Grundstein für den späteren Hirsch-Konzern.
Im Laufe der nächsten Jahrzehnte entstand gegen die Wirren der Zeit und den immer wieder aufkeimenden Antisemitismus ein aufstrebendes Handels- und Industrieunternehmen. In der Folge des Antisemitismus wurde Ende des 19. Jahrhunderts die Idee des Zionismus für Juden immer bedeutsamer. Dazu Borries und Fischer: Für die große Mehrheit der jüdischen Bevölkerung war die "Judenemanzipation" im Kaiserreich nur ein oberflächlicher Erfolg. Zwar stellte der Staat die jüdischen Deutschen mit der Reichsgründung 1871 rechtlich gleich, aber die antijüdischen Ressentiments blieben bestehen.
Die Familie Hirsch distanzierte sich lange von der Idee des Zionismus, dennoch entstand im Umfeld der Fabrik eine zionistische Bewegung. Einer ihrer Mitbegründer, Felix Rosenblüth, mit hebräischem Namen Pinchas Rosen, wurde erster Justizminister des Staates Israel.
1/5 der jüdischen Bevölkerung beteiligte sich am ersten Weltkrieg. Dennoch galten Juden als Kriegsgewinnler, die der Armee den Dolch in den Rücken gestoßen hätten. Neue politische Parteien und Massenbewegungen machten Nationalismus und Antisemitismus zur Grundlage ihrer politischen Programme
Die Hirsch-Familie setzte sich jetzt für den Zionismus ein, unterstützte die Bewegung finanziell und ideell. Sie engagierte den Agrarwissenschaftler Salomon Dyk, der junge Menschen das nötige Fachwissen für den Aufbau des Landes Israel lehrte. Siegmund Hirsch war an der Gründung des "Keren Hajessod" beteiligt, der bis heute ein Fond zur Finanzorganisation der zionistischen Bewegung ist.
Nach dem 1. Weltkrieg musste Hirsch neue Märkte erschließen. Vor diesem Hintergrund entstand die Idee des Kupferhauses. Der Ingenieur Förster und der Architekt Krafft beginnen 1930 mit der praktischen Umsetzung. Das Fertighaus als Massenprodukt aus dem selbst hergestellten Kupferblech So schließt sich der Kreis der unternehmerischen Interessen von Siegmund Hirsch mit seinem zionistischem Engagement.
Zeitgleich sucht der durch das gegründete Bauhaus berühmt gewordene Architekt Walter Gropius nach Lösungen für Millionen Familien, die weder ein Einkommen noch ein Dach über den Kopf haben. Er stößt 1931 auf die Kupferhausidee und träumt von einem Fertighaus nach dem Baukastenprinzip, das sich gemäß der finanziellen Möglichkeiten beliebig erweitern lässt. Faszinierende Grundrisse in der Mitte des Bandes zeigen die Idee vom flexiblen, wachsenden Haus. Er entwickelte ein Stecksystem, mit dem die Häuser leicht auf- und abgebaut werden konnten, wodurch sie quasi zu Nomadenbehausungen wurden. Die Idee des Kupferhauses war leider ein finanzielles Fiasko. Insgesamt wurden nur etwa 50 Häuser gebaut, 20 davon in Israel, von denen heute nur noch vier Häuser erhalten sind.
Zwischen 1932 und 1938 flohen 200.000 Juden aus Deutschland nach Palästina. Nur wenige nahmen ein Kupferhaus mit, obwohl diese nicht unter die Devisenbeschränkungen fielen.
Der letzte Teil des Buches, Heimat, enthält Geschichten der BewohnerInnen verbliebener Fertighäuser in Israel und ein Interview mit BewohnerInnen in Eberswalde. Das letzte Interview mit Dan Hirsch, einem Ur-Ur-Ur-Ur-Urenkel des Firmengründers Aron Hirsch, der seit 2008 in Berlin lebt und in Israel aufgewachsen ist, beschließt diesen außergewöhnlichen Bericht. Sein Großvater, in Berlin aufgewachsen, rät ihm: "Geh nach Deutschland, studiere dort. Aber dann kommst du zurück nach Israel.“
AVIVA-Tipp: Hier wird nicht nur die Geschichte einer theoretisch genialen Erfindung erzählt, die praktisch eine absurde Geschichte des Scheiterns ist, sondern auch die Geschichte eines Jahrhunderte lang währenden Kampfes gegen Antisemitismus und für Gleichberechtigung eines Volkes, das bis 1948 kein eigenes Land besaß.
Insofern ist das vorliegende Werk ein zutiefst beeindruckendes zeit – und kulturpolitisches Dokument, das weit über die Beschreibung der Kupferhäuser hinausgeht. Das Werk erzählt auf eigenwillige und bewegende Weise anhand einer genialen Idee die Geschichte der Juden seit der Zeit der Aufklärung. Die Autoren berichten sie fundiert und kenntnisreich an dem konkreten Beispiel einer jüdischen Familie, die als Musterbeispiel für den wirtschaftlichen und gesellschaftlichen Aufstieg Deutscher jüdischen Glaubens im 19. Jahrhunderts und ihres Schicksals in Deutschland gelten kann.
Hinweise:
Ausstellung
"Heimatcontainer. Deutsche Fertighäuser in Israel"
Meisterhaus Schlemmer
Ebertallee 67
06846 Dessau-Roßlau
Vom 05.12.2009 bis zum 07.03.2010, Di-So: 10-17 Uhr
Kuratoren: Friedrich von Borries, Jens-Uwe Fischer
Beteiligte KünstlerInnen: Daniel Bauer, Hannes Gieseler, Annette Kelm, Wiebke Loeper, Bas Princen Schirmherr der Ausstellung ist Yoram Ben Zeev, Botschafter des Staates Israel
www.literaturportal.de
Buchpräsentation
05. Dezember 2009, 15:00 Uhr
Meisterhaus Schlemmer
Ebertallee 67
06846 Dessau
Videobeitrag zum Buch
www.allende-zorro.de
Zu den Autoren:
Friedrich von Borries, geboren 1974 in Berlin, ist Architekt. 2008 war er Generalkommissar des Deutschen Beitrags auf der Architekturbiennale in Venedig. Er lehrt als Professor für Designtheorie und kuratorische Praxis an der Hochschule für Bildende Künste in Hamburg. Er studierte Architektur an der Universität der Künste Berlin, der ISA St. Luc Bruxelles und an der Universität Karlsruhe (TH), wo er 2004 promovierte. Von 2001 bis 2003 lehrte er an der Technischen Universität Berlin, von 2002 bis 2005 an der Stiftung Bauhaus Dessau. 2007 bis 2008 war er Gastwissenschaftler an der ETH Zürich und dem MIT Cambridge sowie Gastprofessor an der Akademie der bildenden Künste Nürnberg. Er ist Research Fellow am Goldsmith College in London sowie Mitglied der Jungen Akademie an der Berlin- Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften und der Deutschen Akademie für Naturforscher Leopoldina. 2008 war von Borries Generalkommissar für den Deutschen Beitrag auf der Architekturbiennale in Venedig. Gemeinsam mit Matthias Böttger leitet er "raumtaktik - räumliche Aufklärung und Intervention" in Berlin.
(Quelle: Suhrkamp Verlag und Perlentaucher)
Jens-Uwe Fischer, geboren 1977 in Nordhausen (Thüringen), ist Historiker. Er arbeitet in der kulturellen und politischen Jugendbildung, unter anderem in der KZ Gedenkstätte Mittelbau-Dora.
(Quelle: Suhrkamp Verlag)
Weitere Infos zu den Autoren und Kontakt:
www.raumtaktik.de
und
www.suhrkamp.de
Friedrich von Borries / Jens Uwe Fischer
Heimatcontainer
edition suhrkamp 2593, erschienen: 16.11.09
Broschur, 200 Seiten
ISBN: 978-3-518-12593-9
12,00 Euro