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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 31.03.2009


Tamar Verete-Zahavi - Aftershock
Margret Müller

Leben nach dem Überleben und Aufarbeitung im Alter von 14? Ella verliert bei einem Anschlag in Jerusalem nicht nur ihre beste Freundin, sondern auch für einige Zeit den Glauben an das Leben.




Ella ist erst 14 Jahre alt, als sie im Supermarkt in Jerusalem nur knapp den Selbstmordanschlag überlebt. "Leicht verletzt", nach dem Entfernen der Splitter aus ihrem Rücken und der Behandlung ihrer Verbrennungen am Bein, kann sie schon bald aus dem Krankenhaus entlassen werden. Aber rechte (Über-)Lebensfreude will sich nicht einstellen. Ihre Freundin Jerus wurde bei dem Attentat in den Tod gerissen, und in Ellas Seele haben sich Splitter ganz anderer Art festgekrallt. Jedes Geräusch strapaziert ihre seit dem Anschlag hochsensiblen Ohren, sie ist nervös, gereizt, depressiv und die zahlreiche Zuwendung ihrer Familie verstärkt dies nur noch. Das Attentat lässt sie nicht los, ergreift Besitz von ihr. Schier endlos wälzt sie sich in Gedankenwelten um die Attentäterin, die, kaum älter als sie, ihr Leben auf den Kopf stellte, um ihre Freundin Jerus, deren Zukunft zerbarst und ihre Eigene, die ihr in den Händen zu zerrinnen scheint.

Ella verdrängt die Qual des Lebens nach dem Überleben nicht, kriechend begleitet die Leserin die so gar nicht heldenhafte Protagonistin und Ich-Erzählerin durch das steinige, düstere Tal der Aufarbeitung. In diesem soll ausgerechnet Maher, der arabische Junge aus dem Krankenhaus, Ellas Lichtblick sein. Die Konfrontation mit ihm, das Reiben am größten Stein, erweckt ihre Lebensgeister. Ihm kann sie ihre quälenden Fragen stellen, die sie von der Rückkehr ins "Leben" abhalten. Sie beschließt, Kontakt zur Familie der Attentäterin aufzunehmen und ihre "Heilung" im Epizentrum ihres Schmerzes zu suchen und erhält Antwort auf ihre Briefe. In diesem sensiblen Kontakt lernt sie das Leid der anderen Seite kennen, die Universalisierung des Schmerzes ist es, die ihre Qualen relativieren soll und hilft, an ihnen zu wachsen.

Der Roman basiert auf einem Attentat des Jahres 2002, das aufgrund seiner ungewöhnlichen Nachgeschichte weltweit für Aufmerksamkeit sorgte. Am 29. März 2002 reißt die 17-jährige Palästinenserin Ajat al-Achras in einem Supermarkt Jerusalems zwei Menschen mit sich in den Tod, den Wachmann Chaim Smadar und Rachel Lewi, 17 Jahre alt. Die beiden Mädchen, Märtyrerin und Opfer, sahen sich verblüffend ähnlich, wohnten nicht weit voneinander entfernt und doch in fremden Welten. Und auch in der Realität scheint Kontakt mit der Gegenseite die Hoffnung auf Linderung des Schmerzes der Hinterbliebenen. Avigail Lewi, Rachels Mutter, nimmt Jahre später Kontakt mit der Mutter der Attentäterin auf. Romantisch ist das folgende Video-Telefonat nicht. Stundenlang ringen die Frauen mit dem gleichen und doch so gegensätzlichen Schicksal miteinander um Verständnis, wollen Mauersprünge vom Gegenüber und können doch nicht über den eigenen Schatten springen. Die Geschichte beider Frauen wurde in vielen Artikeln aufgegriffen, das Telefonat bildet den Höhepunkt Hilla Medalias Film "To Die In Jerusalem".
Das Buch Verete-Zahavis nimmt diese Komponente der Aufarbeitung durch Konfrontation mit dem Gegenüber auf und macht, ohne sentimental, kitschig oder einseitig zu sein, den Schock einer Überlebenden Jugendlichen danach, schmerzhaft greifbar.

AVIVA-Tipp: Die Autorin beleuchtet den Nahostkonflikt aus der Makroperspektive eines Mädchens, das, statt Pubertätsprobleme bewältigen zu können, den Verlust der besten Freundin und den seelischen Schock des überlebten Anschlags verwinden muss. "Ich wollte durch Ella zeigen, wie man ein Trauma überwinden und an ihm wachsen kann", so Tamar Verete-Zahavi im Interview mit der Jerusalem Post. In Aftershock nimmt sie die LeserIn hinter die Kulisse der Nachrichtenbilder, in die Welt derer, an denen diese Bilder nie vorübergehen werden, für die das Leben immer in "vorher" und "nachher" eingeteilt sein wird und auch Zeit kein Allheilmittel ist. Dieses Buch wurde nicht zu Unrecht vom israelischen Erziehungsministerium als Lektüre an allen Schulen empfohlen.

Zur Autorin: Tamar Verete-Zahavi konnte ihren dritten Roman Aftershock ihre langjährige Arbeit als Leiterin von Gesprächsgruppen zwischen Juden und Arabern einbinden. Die 1957 geborene Hochschulprofessorin für Pädagogik erhielt für ihr Debüt den Martha-Preis zur Förderung von Toleranz in Jerusalem.

Tamar Verete-Zahavi
Aftershock

Originaltitel: Sruta (Aftershock)
Originalverlag: Am Oved
Aus dem Hebräischen von Eldad Stobezki, Mirjam Pressler
Randomhouse Verlag, Erscheinungstermin: Februar 2009
Gebundene Ausgabe, 205 Seiten
ISBN-13: 978-3570160084
Ab 12 Jahren
Gebundenes Buch mit Schutzumschlag, 208 Seiten
12,95 Euro


Literatur > Jüdisches Leben

Beitrag vom 31.03.2009

AVIVA-Redaktion