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Beitrag vom 11.12.2008
Jutta Vogel - Die Odyssee der Kinder. Auf der Flucht aus dem Dritten Reich ins Gelobte Land
Alexandra Kasjan
Diese Geschichte dokumentiert das Schicksal der "Teheran-Kinder", die im Herbst 1938 vor den Nationalsozialisten fliehen mussten...
... Die jahrelange Irrfahrt über 20.000.Kilometer und zwei Kontinente hinweg endete schließlich in Palästina, ihrer neuen Heimat.
Die "Teheran-Kinder"
Die fünf ZeitzeugInnen Josef Rosenbaum, Lydia Granoth (geborene Mamer), Rachel Gera (geborene Steinberg), Uri Gefen (geborener Felix Frenkel) und Avraham Nencel verbindet ein gemeinsames Schicksal. Sie mussten als Kinder eine schreckliche Odyssee durchmachen. Ende Oktober 1938 wurden im Rahmen der "Polen-Aktion" etwa 17.000 jüdisch-polnische StaatsbürgerInnen aus dem nationalsozialistischen Deutschen Reich ausgewiesen. Dies betraf auch völlig unvorbereitet die Familien der fünf "Teheran-Kinder". Letztere brechen nach langer Zeit ihr Schweigen und erzählen von ihren unauslöschlichen Erlebnissen.
"Polen-Aktion"
Nachdem die polnische Regierung zum 1. November 1938 allen polnischen BürgerInnen im Ausland, die ihre Staatsangehörigkeit nicht bestätigten, die Staatsbürgerschaft entziehen wollte, ließ Reinhard Heydrich, Chef des Reichssicherheitshauptamtes, alle polnischen Juden im deutschen Reich verhaften und ausweisen. An der deutsch-polnischen Grenze wurden die jüdischen Flüchtlinge zunächst in Baracken untergebracht, wo es aufgrund unhygienischer Bedingungen zu Krankheiten und Todesfällen kam. Die polnische Regierung weigerte sich, eine so große Masse jüdischer Flüchtlinge aufzunehmen und hoffte bis zuletzt, dass die Deutschen ihre Entscheidung widerriefen. Es kam jedoch nicht dazu.
"Deutsch-sowjetischer Nichtangriffs-Vertrag"
Am 23. August 1938 unterschrieben die beiden Außenminister Joachim von Ribbentrop und Wjatscheslaw Michailowitsch Molotow in Moskau den "Hitler-Stalin-Pakt". Diesem Nichtangriffs-Vertrag folgte am 28. September 1938 der "Grenz- und Freundschaftsvertrag", der die Interessensphären der beiden Mächte in Polen festlegte. Am 1. September 1939 folgte der Überfall auf Polen. Die jüdischen Flüchtlinge, die es bis nach Ost-Polen geschafft haben, waren auch hier nicht mehr sicher, da die Sowjets in dieses Gebiet einmarschierten. Als Verbündete mit den Deutschen ließen sie viele tausend Flüchtlinge zum Arbeitsansatz nach Sibirien deportieren. Selbst Kinder wurden nicht verschont und mussten dort bei mörderischer Kälte ausharren. Die Nahrungsrationen, die verteilt wurden, reichten bei Weitem nicht aus. Angetrieben vom Hunger suchten sie in dem riesigen Waldgebiet mit dem Risiko, nicht mehr zurückzufinden, nach essbaren Pflanzen und Pilzen. Viele Kriegsgefangene fanden in Sibirien den Tod.
Ãœberfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion und die Aufstellung der Anders-Armee
Am 22. Juni 1941 überfielen die Deutschen die Sowjetunion. Das Blatt wendete sich: Die Sowjets verbündeten sich nun mit den Polen, so dass die Flüchtlinge im sibirischen Arbeitslager freigelassen wurden. Viele von ihnen, so auch jüdische Kinder, entschlossen sich, in Taschkent (Usbekistan) der Anders-Armee beizutreten. Diese sollte in Afrika gegen Feldmarschall Erwin Rommel kämpfen. Von Taschkent aus wurden die Flüchtlinge aus humanitären Gründen zunächst nach Teheran evakuiert.
Ankunft in Teheran und anschließende Rettungsaktion
Nur rund 1.000 jüdische Vertriebene, darunter viele Waisenkinder, schafften es bis zur persischen Hauptstadt, wo Reza Schah Pahlevi ihnen Zuflucht gewährte. Dort wurde die jüdische Untergrundbewegung Hagana auf die "Teheran-Kinder" aufmerksam. Es folgte eine dramatische Rettungsaktion: Mit einem Flüchtlingsschiff schaffte es die zionistische Organisation, ihre Schützlinge von Indien aus mit einer Zwischenstation im Jemen bis nach Ägypten zu bringen. Von dort aus ging die abenteuerliche Reise weiter, bis endlich am 18. Februar 1943 die insgesamt 861 jüdischen Flüchtlinge im "Gelobten Land" eintrafen.
Josef Rosenbaum: Ein "Teheran-Kind" erlebt die Hölle auf Erden
Josef ist eines der Kinder, die es bis nach Palästina geschafft haben. Er war gerade einmal sieben Jahre alt, als er mit seiner Mutter und seiner kleinen Schwester Nelly aus Köln vor den Nazis fliehen musste. Sein Vater hielt sich zu der Zeit in New York auf, um die Übersiedlung seiner Familie nach Amerika vorzubereiten. Josef musste erleben, wie er mit seiner Mutter und Schwester in Viehwaggons, zusammengedrängt mit anderen Flüchtlingen, in das sibirische Arbeitslager geschafft wurde. Dort versetzte seine Mutter selbst ihren Ehering für eine winzige Zusatzration an Nahrung. Dennoch starb sie in den Armen ihres Sohnes an Unterernährung. In Taschkent musste Josef betteln, stehlen und im Müll wühlen, um sich und seine Schwester vor dem Hungertod zu bewahren. Doch auch Nelly verhungerte. Der unter Schock stehende Junge wurde später in ein Hospital gebracht. Dort hörte er von einem Waisenhaus, dessen Kinder nach Persien gebracht werden sollten, einem Land, so dachte der Junge damals, dass nah bei Amerika liegt, wo sein Vater sich aufhielt. Mit List schaffte es Josef sich dort einzuschmuggeln...
Zur Autorin: Jutta Vogel, geboren 1952, ist Journalistin, freie Autorin und arbeitet für eine Produktionsfirma in Berlin. Sie führte zahlreiche wissenschaftlich-historische Recherchen für Fernsehfilme durch und wirkte an Drehbüchern für Dokumentationen mit. Für ihr Sachbuch "Die Odyssee der Kinder" und die gleichnamige ZDF-Dokumentation sprach sie mit zahlreichen Überlebenden in Israel. Jutta Vogel lebt mit ihrer Familie in Berlin.
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
"Ediths Versteck. Die Geschichte des jüdischen Mädchens Edith Schwalb" von Kathy Kacer und "Malka Mai" von Mirjam Pressler
AVIVA-Tipp: "Die Odyssee der Kinder" ist ein aufwühlendes Buch über jüdische Kinder, denen nur für kurze Zeit eine normale Kindheit innerhalb einer wohlbehüteten Familie vergönnt war. Durch die Nationalsozialisten wurden sie jäh aus ihrem Alltag herausgerissen und mussten traumatische Erfahrungen durchleben, wie die lebensgefährliche Flucht vor den Nazis, schrecklichen Hunger, eisige Kälte und die Trennung von nahestehenden Personen. Selbst mit dem Tod von Verwandten, Eltern, Geschwistern oder anderen Flüchtlingen wurden die "Teheran-Kinder" konfrontiert. Die authentische Geschichte ist herzergreifend, zeigt jedoch auch, wie Josef, Avraham, Felix, Rachel und Lydia dank ihres starken Überlebenswillens es letztendlich bis nach Palästina geschafft haben.
Jutta Vogel
Die Odyssee der Kinder: Auf der Flucht aus dem Dritten Reich ins Gelobte Land
Eichborn Verlag, 1. Auflage erschienen Oktober 2008
Gebundene Ausgabe: 217 Seiten
Preis: 19,95 Euro
ISBN: 978-3-8218-7314-5