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AVIVA-BERLIN.de im Oktober 2024 - Beitrag vom 18.09.2023


Nea Weissberg & Alexandra Jacobson: Schabbat im Herzen. Suche nach Zugehörigkeit
Nikoline Hansen

Es waren viele Fragen, die sich die Herausgeberinnen immer wieder stellten, die zu diesem Buch führten, in dem neunzehn Menschen zu Wort kommen, die auf die vielfältigste Art mit dem Judentum verbunden sind. Daraus entstand …




…ein "weitgefächertes Kaleidoskop unterschiedlicher Persönlichkeiten, Herkunftsländer, gesellschaftspolitischer Färbungen, Sensibilitäten, Verlusterfahrungen und Hoffnungen", wie Nea Weissberg und Alexandra Jacobson in ihrem Vorwort schreiben.

Schabbat im Herzen

Fragen über ihre Vergangenheit, das Schicksal ihrer Familien und ihre Sehnsucht nach Zugehörigkeit haben die beiden Herausgeberinnen umgetrieben, die ihre Gedanken zu dem Thema in den ersten beiden Beiträgen schildern. Der Titel des Buches ist einem Zitat aus einem Brief entlehnt, den die Großmutter von Alexandra Jacobson 1939 ihren im Exil in Guayaquil in Ecuador lebenden Töchtern schrieb: "Sabbat in der Wohnung und Sabbat im Herzen". Etwa 20 dieser Briefe erbte sie von ihrer Mutter, weitere erhielt sie von einem Cousin – privat und historisch ein wertvoller Schatz, der sie, wie sie schreibt, ihrer Großmutter, die in der Shoah ermordet wurde, näherbrachte. Sie selbst wurde in Costa Rica geboren und ihre Suche nach Zugehörigkeit ist noch nicht zu Ende:"Ich bin in Hannover aufgewachsen und fühle mich wie meine Familie dem liberalen Reformjudentum nahe. Meine Lieblingssynagoge ist die liberale Gemeinde Etz Chaim, Lebensbaum, in Hannover. Dort herrscht die für mich richtige Mischung aus Warmherzigkeit, Aufgeklärtheit, Tradition und Gemeinschaftssinn. In Berlin lebe ich seit 2003 und bin noch auf der Suche nach der für mich stimmigen Synagoge. Bisher habe ich sie noch nicht gefunden."

Auch Nea Weissberg hat sich intensiv mit der Geschichte ihrer Familie auseinandergesetzt und der Schmerz zwischen den Zeilen wird spürbar, der sich schon in der Überschrift "Lebende Gedenkkerzen" manifestiert. Sie hat sich immer wieder mit ihrer Familiengeschichte, dem Schicksal der Juden und Jüdinnen in Polen, wo ihre Familie herstammt, und der Zukunft jüdischen Lebens in Deutschland auseinandergesetzt. Dabei hat sie sich, so schwer wie ihr das fiel, in der Vergangenheit auch mit den Kindern der Täter und Täterinnen getroffen und für den Sammelband "Beidseits von Auschwitz" (2015) das Gespräch gesucht. Aufgrund dieser Vergangenheit ist Jüdisches Leben in Deutschland oft mit dem Vorbehalt verbunden, dass die "Normalität", nach der Jüdinnen suchen, durch die Zuschreibung des "Anderssein" beendet wird. Diese Diskriminierung war auch in der jungen Bundesrepublik Deutschland noch deutlich zu spüren: Erst 1963 erhielt die Familie Weissberg die deutsche Staatsbürgerschaft. Nea Weissberg sagt: "Ich nähere mich dem Judentum in erzählender Form an und schaue wehmütig auf das ostjüdische Alltagsleben meiner Großeltern, das es einst vor der Shoah so reichhaltig gab und so nie wieder geben wird. Es ist die jüdische Kultur, die ich liebe (ob religiös oder nicht), in die mein Leben und meine Art Geschichten zu erzählen, verwoben ist." Sie ist in Deutschland angekommen, trotzdem berühren sie die Ereignisse in Israel, wo ein Teil ihrer Familie Zuflucht fand, und erfüllen sie mit Sorge: "Für mich ist klar, die Judenheit in der Diaspora – ob sie will oder nicht – ist mit dem Bestehen Israels verbunden."

Jüdisch in Deutschland?

Jüdischsein in Deutschland hat viele Facetten: Bei ihrer Spurensuche haben die Herausgeberinnen Menschen unterschiedlicher Herkunft mit unterschiedlichen Biografien aus unterschiedlichen Generationen gefunden, die in ihrer Gesamtheit ein diversifiziertes und doch rundes Bild vom Jüdischsein in Deutschland widerspiegeln. Die klassische jüdische Familie, in der beide Elternteile im jüdischen Glauben verwurzelt sind und diesen praktizieren, sind in diesem Sammelband eher die Ausnahme. Besonders in der DDR spielte Religion in der Regel kaum eine Rolle. Der Physiker und Schriftsteller Gabriel Berger, der als Child Survivor in Frankreich geboren wurde und in der DDR aufwuchs, resümiert, dass sich etliche der jüdischen Rückkehrer in die DDR als politische Juden fühlten, auch wenn sie und ihre Söhne und Töchter in ihrem Leben mehrheitlich keine Synagoge betreten hatten und statt der jüdischen Feiertage kommunistische begingen. Ebenfalls aus der DDR stammt Dr. Ulrike Offenberg, eine Rabbinerin, die dort protestantisch aufwuchs und ihre Sehnsucht zum Judentum schon in jungen Jahren entdeckte. Kurz nach der Wende konnte sie konvertieren, die Hindernisse, die ihr viele Jahre später, als sie Rabbinerin werden wollte, vom mittlerweile entlassenen Leiter des Abraham Geiger Kollegs in den Weg gelegt wurden, schildert sie ohne Verbitterung. Der Umweg über Israel, den sie gehen musste, hat ihr neue Perspektiven eröffnet.

Kontroverse Diskussion um Konvertiten und Konvertitinnen

Nicht erst seit der Debatte, die Kantorin Avitall Gerstetter in der Zeitung "Die Welt" 2022 erneut angestoßen hatte, ist die Diskussion um Konversionen in den Jüdischen Gemeinden ein vielschichtig und kontrovers diskutiertes Thema, sondern gerade auch im Hinblick auf den Kontext einer möglichen Schuldumkehr. Rabbiner Dr. Walter Rothschild bezeichnet das Judentum mit seinem stets tiefgründigen Humor als "GmbH, ein Glaube mit beschränkter Hoffnung". Was motiviert also gerade nichtjüdische Deutsche, den Weg ins Judentum zu wählen? Diese Frage stellt sich in jedem einzelnen Fall. Für eine Frau ist Konversion der einzige Weg, wenn sie eine jüdische Familie gründen möchte, so wie Dr. Ulrike Offenberg, die über viele Jahre in das Judentum hineingewachsen ist, das getan hat. Dass es auch andere Möglichkeiten gibt, zeigt die klare Position des Judaisten und Religionswissenschaftlers Prof. Dr. Karl Grözinger, der mit einer Jüdin verheiratet ist. Seine Karriere begann er als evangelischer Theologie: "Ich habe Altes und Neues Testament studiert und gesehen, wie antijüdisch die Fachliteratur ist." Die sich daraus ergebenden Fragen wollte er in Israel klären – wo er seine künftige Frau kennenlernte. Er sagt: "Ich bin sehr bewusst aus der Kirche ausgetreten und wollte in keine neue eintreten. Ich bin dann auf meine Weise ins Judentum eingetreten, als jemand, der die Literatur und das Brauchtum kennt und in der Familie lebt, und alles aus jüdischer Perspektive betrachtet." Die gemeinsame Tochter Yael wurde jüdisch erzogen, erhielt aber in der Schule auch christlichen Religionsunterricht, um so für eine konstruktive Streitkultur gewappnet zu sein, und sie hat ihrerseits mit ihrem Mann Elio Adler eine jüdische Familie gegründet.

Antisemitismus und Israelfeindlichkeit

Regelmäßig tritt Antisemitismus in Deutschland mehr oder weniger offen zu Tage und die Bekämpfung dieses Phänomens ist Jüdinnen und Juden ein wichtiges Anliegen, wobei auch die gegenwärtige politischen Lage in Israel starke Gefühle auslöst und immer wieder auch zu offenem Antisemitismus Anlass gibt. In ihrem Beitrag "Mein Engagement für Israel ist die Verkörperung meines jüdischen Wesens" beschreibt Maya Zehden ihr Engagement für Israel als bewusste Bindung an jüdische Identität, die sie als Konsequenz der Ablehnung von Religion durch ihre Mutter, einer Holocaustüberlebenden, traf. Wie offensiv die Porträtierten ihre jüdische Identität in die Öffentlichkeit tragen, ist dabei nicht nur eine Frage der eigenen Stärke, sondern auch des gesellschaftlichen Umfelds, in dem sie sich bewegen. Einige Jüdinnen haben sich sehr bewusst für ein Leben in Deutschland entschieden wie etwa Marina Chernivsky, Psychologin und Verhaltenswissenschaftlerin. Ihre Erfahrungen formuliert sie so: "Es ist nicht immer einfach, als jüdische Familie in Deutschland zu leben. Die Gefahr von antisemitischen Untertönen, gar von Übergriffen ist real; die Frage der Inklusion jüdischer Lebenswelten, zum Beispiel in Kindertageseinrichtungen oder Schulen auch."

AVIVA-Tipp: Eine klare Leseempfehlung für alle, die sich dafür interessieren, wie unterschiedlich die hier befragten Jüdinnen und Juden heute ihr Leben in Deutschland empfinden und was sie mit dem Judentum verbinden.

Für Beiträge gewinnen konnten die Herausgeberinnen Rabbiner Yehuda Teichtal, Prof. Dr. Karl Grözinger, Toby Axelrod, Rabbiner Dr. Walter Rothschild, Marina Chernivsky, Rabbinerin Dr. Ulrike Offenberg, Gabriel Berger, Dr. Harald Lappe, Nadine Ilanit Weissberg, Nathalie Frank, Ilja Bondar, Julia Mostova-Schwartz, Ariella Seestern, Sonja Arendt, Maya Zehden, Salean A. Maiwald und Halina Birenbaum.


Nea Weissberg & Alexandra Jacobson
Schabbat im Herzen
Suche nach Zugehörigkeit

Lichtig Verlag, erschienen 2023
ISBN 978-3-929905-44-1
€ 20,--
Mehr Informationen zum Buch und Bestellung unter: www.lichtig-verlag.de


Literatur > Jüdisches Leben

Beitrag vom 18.09.2023

AVIVA-Redaktion