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Beitrag vom 15.04.2020
Zwischen den Zeilen. בין השורות. Herausgegeben von Yael Almog und Michal Zamir
Judith Müller
Mit Beiträgen von Heike Willingham, Zehava Khalfa, Gundula Schiffer, Maya Kuperman, iIllustriert von Maya Attoun. An einem spätsommerlichen Septembertag im Jahr 2017 trafen sich im Glashof des Jüdischen Museums Berlin vier Lyrikerinnen, um miteinander ins Gespräch zu kommen. Moderiert wurde die Diskussion von der Literaturwissenschaftlerin und Germanistin Yael Almog, Mitorganisatorin der Veranstaltung war Michal Zamir, Gründerin und Kuratorin der Hebräischen Bücherei Berlin e.V. Beide gemeinsam gaben nun den Band mit Gedichten …
… eben jener vier Dichterinnen, die Hebräisch und/oder Deutsch schreiben und den dazugehörigen Übersetzungen heraus.
Dass die über zwei Jahre zuvor initiierte Begegnung im Glashof stattfand, der vom Architekten Daniel Libeskind einer Sukka nachempfunden ist und so als ein Sinnbild von Exil und Migration gelesen werden kann, gab der Veranstaltung auch einen thematischen Rahmen, der sich in vielen der nun publizierten Gedichten spiegelt.
Heike Willingham, Zehava Khalfa, Gundula Schiffer und Maya Kuperman schreiben in ihrer Individualität Gedichte, deren weibliche Stimmen Erfahrungen zwischen Deutschland und Israel austauschen, Migration thematisieren und Zugehörigkeit oder die Unmöglichkeit derselben diskutieren. Die Mehrsprachigkeit ist ihnen, wie auch dem deutsch-hebräischen Gedichtband, immanent und trägt zu ihrer einmaligen Tonalität und Klangfarbe bei.
Wie aus den Kurzporträts am Ende – oder zu Beginn des Bandes – ersichtlich wird, hat die Literaturwissenschaftlerin und Lyrikerin Heike Willingham eine Neigung zur konsequenten Kleinschreibung auch in den Titeln ihrer zahlreichen Bände. Bei der Lektüre ihrer deutschsprachigen Gedichte parallel zu deren hebräischen Übersetzungen erfahren die Leser*innen so eine wundersame Annäherung zwischen den beiden Sprachen, von denen eine keine Groß- und Kleinschreibung kennt. In den Zeilen von "im norden südlich" (S. 27 und 26) wird Sprache nicht nur in ihren Zeichen thematisiert, sondern auch der "wortsinn / inmitten von wildwuchs" problematisiert. Das ganze Gedicht erscheint dabei zuerst als wild gewachsenes Textkonstrukt, das sich dann aber nach und nach in eine Begegnung mit Jerusalem verwandelt. Dabei überwiegt aber der Wildwuchs der Natur, denn abgesehen vom Teddy Kollek Park und dem Tor zur (!) Stadt, bedient sich das lyrische Ich vor allem Worten im semantischen Umfeld des Pflanzlich-Wachsenden.
Dem Wuchs der Sprache spürt auch Zehava Khalfa in "שפת אם (Muttersprache)" nach. Hier treffen sich Arabisch als Sujet und Sprache der Mutter mit der hebräischen Dichterinnensprache in einem Berliner Stadtbild. Das Gedicht liest sich komplex, viele Wort- und Sinnfäden scheinen verwirrt und verknotet. Zusammen verwebt sie die Erzählerin zu einem Teppich, der eine über Generationen und Völker hinwegreichende Migrationsgeschichte abbildet. Was verbindet, sind die Sprachen der Vorfahren und das von einer Generation zur nächsten weitergegebene Rezept traditioneller Speisen, die nun auch untereinander geteilt werden.
Das Gedicht "mir übers Haupt zwei Türme" von Gundula Schiffer verschränkt sich gleich mit der Übersetzung desselben ins Hebräische von Maya Kuperman, denn bereits die deutsche Version tritt in den Dialog mit der hebräischen Sprache, indem sie in der vorletzten Zeile das hebräische "על הסף" dem deutschen "auf der Schwelle" vorwegnimmt. Dieser zweisprachige Schlüsselsatz spiegelt den Inbegriff des nomadischen Daseins: Dazwischensein, das Nichtankommen und gleichzeitige schon wieder Weiterziehen, nicht nur räumlich, sondern auch sprachlich. Wenige Seiten später (S. 88 und 89) führen wiederum Original und Übersetzung (nun von Yarden Bar-Zur) ein Gespräch, wenn im Deutschen steht "sitze lese" und im Hebräischen "יושבת כותבת (sitze schreibe)". Nicht nur wird anhand der Übersetzung die weibliche Stimme identifizierbar, auch betont die parallele Lektüre beider Versionen die enge und tiefgreifende Beziehung von Lektüre und Schreiben.
Auf den Seiten, die mit Maya Kupermans Gedichten gefüllt sind, tritt eine weitere Sprache hinzu: das Englische. "Finally, it´s too late" wurde von Michal Zamir in die Muttersprache der Dichterin übertragen, eine deutschsprachige Version "fehlt", wobei das Original einige Spuren eines Dialogs auf Deutsch enthält. Generell sind Kupermans Verse oft im Dialog mit einem weiteren Subjekt: der verlorenen Geliebten, dem Großvater, einem Holocaust-Überlebenden, der nun über Erinnerungen in den Berliner Alltag vordringt und einer Sehnsucht, die das Geschriebene durchzieht.
AVIVA-Tipp: Eine unbestimmte Sehnsucht, das Leben auf der Schwelle, die Frage nach der Muttersprache oder auch die Dynamik der Mehrsprachigkeit sind nur einige Stichworte, die das Dazwischen des Bandes Zwischen den Zeilen בין השורות ausmachen. Dieses in manchen Versen fassbar werdende und dann wieder unbestimmt verschwindende Dazwischen wird zur Substanz des Buches, nicht nur geographisch und kulturell, sondern auch sprachlich. Denn wohin man auch blättert, man befindet sich auch als Leser*in immer zwischen Zeilen, zwischen Hebräisch und Deutsch, zwischen Israel und Deutschland, zwischen Sehnsucht und Erfüllung.
Zu den Herausgeberinnen:
Yael Almog, promovierte Germanistin und Literaturwissenschaftlerin, lehrt an der Universität Frankfurt.
Mehr Infos unter: barenboimsaid.de
Michal Zamir hat 2010 das Projekt "Ha-Sifriya ha-ivrit be-Berlin" (Hebräische Bücherei Berlin) als ein Gemeinschaftsprojekt zur Förderung der hebräischen Sprache und Kultur in Berlin ins Leben gerufen.
Mehr Infos unter: www.facebook.com/HasifriyaBerlin und www.hasifriya.berlin
Die Herausgeberinnen wurden für ihren bilingualen Gedichtband Zwischen den Zeilen von der Stiftung ZURÜCKGEBEN, Stiftung Förderung jüdischer Frauen in Kunst und Wissenschaft gefördert. Weitere Unterstützung erhielten sie von der Stiftung Jüdisches Museum Berlin, vom Bundesministerium für Bildung und Forschung, vom Selma Stern Zentrum für Jüdische Studien Berlin-Brandenburg und der Hebräischen Bücherei Berlin.
Zur Rezensentin: Judith Müller arbeitet an der Lutz-Zwillenberg-Lehr- und Forschungsstelle für Jüdische Literatur am Zentrum für Jüdische Studien der Universität Basel und schreibt ihre Dissertation zur Perzeption Europas in der Hebräischen Literatur von 1890 bis 1938 an der Universität Basel und der Ben Gurion Universität des Negev.
Mehr Infos unter: jewishstudies.unibas.ch
Yael Almog, Michal Zamir (Hg.)
Zwischen den Zeilen. בין השורות
Mit Beiträgen von Heike Willingham, Zehava Khalfa, Gundula Schiffer, Maya Kuperman
Illustriert von Maya Attoun
Passagen Verlag, Wien, Reihe Passagen Literatur, erschienen 2019, Aufl. 1
144 Seiten, 6 Abbildungen, 235 x 155 mm
ISBN 9783709203873
16,40 Euro
Der Lyrikband enthält Gedichte in Originalsprache (Deutsch/Hebräisch) mit beigefügter Übersetzung (Hebräisch/Deutsch).
Mehr zum Buch unter: www.passagen.at