Martina Bitunjac. Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes. Erschienen bei Hentrich & Hentrich, Jüdische Miniaturen Bd. 231. Ausstellung der Jüdischen Volkshochschule Berlin vom 9. November 2023 bis 11. Januar 2024 - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Juedisches Leben



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 03.10.2019


Martina Bitunjac. Lea Deutsch. Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes. Erschienen bei Hentrich & Hentrich, Jüdische Miniaturen Bd. 231. Ausstellung der Jüdischen Volkshochschule Berlin vom 9. November 2023 bis 11. Januar 2024
Sharon Adler

Lea Dragica Deutsch wurde in den 1930er Jahren als "Zagreber Wunderkind" und als "kroatische Shirley Temple" gefeiert. 1943 wurde die hochtalentierte jüdisch-kroatische Schauspielerin, Sängerin und Tänzerin 16jährige von den Nazis ermordet. In ihrer sorgfältig recherchierten Biografie zeichnet Martina Bitunjac, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien und geschäftsführende Redakteurin der "Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte", deren intensives und viel zu kurzes Leben nach.




Lea Deutsch, als Lea Dragica Deutsch am 18. März 1927 in Zagreb als Tochter von Stjepan und Ivka, geborene Singer, geboren, galt als Ausnahmetalent und begeisterte weit über Zagrebs Grenzen hinaus Kulturwelt, Publikum und Presse gleichermaßen. Dass sie das nicht vor der Demütigung und Entrechtung, dem Ausschluss aus der Schule und Theater schützte, nicht vor der Verfolgung und Ermordung in einem der unzähligen überfüllten Züge nach Auschwitz, hat die Biographin Martina Bitunjac auf nur 60 Seiten und unter Hinzuziehung vielfältiger Quellen und intensiver Recherche in Archiven in Israel und Kroatien präzise zusammengetragen.

Dabei beleuchtet die Autorin die frühen Lebensabschnitte der berühmtesten jüdisch-kroatischen Kinderdarstellerin der Zwischenkriegszeit, ihre großen Erfolge und das vergebliche Ringen der Familie darum, den mörderischen Gesetzen der Nationalsozialisten zu entkommen. Ein besonderes Augenmerk richtet sie auch auf den willensstarken Charakter und den hohen künstlerischen Anspruch des Mädchens, der ihr großes Talent maßgeblich ausmachte.
Martina Bitunjac beschreibt, dass die Fünfjährige auf den großen Theaterbühnen die anspruchsvollen Rollen nicht nur ausfüllte, sie vielmehr interpretierte und darüberhinaus auch selbstbewusst Mitspracherecht in der Gestaltung ihrer Rollen bei den Regisseuren einforderte.

Im Leben wie auf der Bühne verkörperte sie einen freien und unabhängigen Geist. Von den (erwachsenen, renommierten) Bühnenkolleginnen und -Kollegen wurde sie dafür als ihresgleichen akzeptiert, vom Publikum geliebt und verehrt, in den Feuilletons der in- und ausländischen Presse als "ein Phänomen, ein Genie, als eine unvergleichliche Kinderkünstlerin" hochgelobt.

In den neun Jahren ihres Künstlerinnendaseins bezauberte sie ihr Publikum durch die Darstellung sowohl klassischer als auch moderner Charaktere. Lea trat u.a. als die "Pünktchen" in "Pünktchen und Anton", als "Louison" in "Der eingebildete Kranke" oder als "Marietta" in "So ist es auf der Welt, mein Kind" auch in zahlreichen "Hosenrollen" als Lord, Bauernjunge und Prinz auf, darunter als "Cedric Errol" in "Der kleine Lord".

In ihrer großen Leidenschaft für die Bühne wurde sie von ihrer künstlerisch aufgeschlossenen Familie unterstützt, neben ihren Eltern besonders von ihrer Tante Vera Singer, die als Klavierlehrerin arbeitete. Die Wohnung in der Zagreber Gundulićeva Straße 29 galt als Treffpunkt der Zagreber Kulturszene. Das Jüdische Leben in Zagreb fand öffentlich und nicht im Geheimen statt. Mit der Machtübernahme der kroatischen Faschisten wurde all dem ein Ende gesetzt. Lea Deutsch war es ab 1941 nach dem "Rassengesetz" verboten, das Theater zu betreten, weder als Schauspielerin, noch als Zuschauerin.

Martina Bitunjac dokumentiert in ihrer Recherche auch das letzte Spiel der Künstlerin Lea Deutsch, die am 15. März 1941 das letzte Mal in einem Theaterstück auftrat, als Kommentatorin in "Das lebendige Schachspiel". Beinahe prophetisch kann heute ihr Text gelesen werden: " (…) die ganze Vergangenheit, und all dies, was noch kommen wird, ist nichts anderes als eine Partie, ein ewiger Kampf, ob Niederlage, ob Sieg, in der Menschen nur Figuren sind. (…) Und nun ist unser Spiel vorbei."

Bereits ab den 1930er Jahren hatte es immer wieder antijüdische Übergriffe gegeben, und ab 1940 wurden antijüdische Gesetze erlassen (darunter am 30. April 1941 "Die Gesetzesverordnung über die Rassenzugehörigkeit"). Der Zweite Weltkrieg erreichte Jugoslawien am 6. April 1941. 80 Prozent der Jüdinnen und Juden Jugoslawiens wurden im Holocaust ermordet.

Neben der Biographie von Lea Deutsch liefert die Historikerin Martina Bitunjac einen fundierten Einblick in die (sich dramatisch verschlechternde) Situation der jüdischen Bevölkerung in Jugoslawien während der 1930er und 1940er Jahre, der politischen Landschaft Jugoslawiens, der Positionierung der Machthabenden und der Bevölkerung gegenüber den Nationalsozialisten sowie der Rolle der kroatischen faschistischen Ustaša-Organisation und deren Kollaboration mit deutschen Nationalsozialisten.

Die verzweifelten Versuche der Familie, zu fliehen, und Widerstand zu leisten, schlugen fehl. Im Mai 1943 wurde Lea Deutsch mit ihrer Mutter und mit ihrem Bruder Sasa nach Auschwitz deportiert und starb noch während des Transports im Zug, wahrscheinlich an Herzversagen und Diphtherie. Sie wurde 16 Jahre alt. Mutter und Bruder wurden in Auschwitz ermordet, ebenso ihre Tante, Vera Singer. Der Vater überlebte als einziger, weil ihn ein Freund, der Arzt Vilko Panac, bis Kriegsende auf der Station für Infektionskrankheiten des Zagreber Krankenhauses versteckte…

Lea Deutsch wurde als die "kroatische Shirley Temple" bezeichnet, doch anders als die US-amerikanische Schauspielerin ist Lea Deutsch, die in einem Interview erzählte, es sei ihr größter Wunsch, die Kollegin einmal persönlich kennen zu lernen, heute nur noch Wenigen ein Begriff. In ihrem Vorwort kritisiert Dr. Martina Bitunjac daher auch das Fehlen von Studien im Bereich der Biografie-, Theater-, Musik- und Kinderwissenschaften, sowie die Abwesenheit einer Gedenktafel in der Gundulićeva Straße 29.

"Weder eine Gedenktafel an ihrem Wohnhaus, noch eine Straße, schon gar nicht eine Skulptur und erst recht nicht ein Museum erinnern heute an die Koryphäe des Zagreber Theaters und das Opfer des kroatischen Faschismus und deutschen Nationalsozialismus." (Martina Bitunjac)

AVIVA-Tipp: Lea Deutsch hatte alles, was eine große Künstlerin ausmacht: Talent, Charisma, Herz, Seele, Intelligenz. Akribisch zeichnet Martina Bitunjac das tragische Schicksal des einstigen Kinderstars Lea Deutsch und ihrer Familie nach und setzt ihnen damit ein Denkmal gegen das Vergessen.

Zur Autorin: Martina Bitunjac, 1981 in Berlin geboren, ist wissenschaftliche Mitarbeiterin am Moses Mendelssohn Zentrum für europäisch-jüdische Studien und geschäftsführende Redakteurin der "Zeitschrift für Religions- und Geistesgeschichte". Sie promovierte in Berlin und Rom über Frauen der Ustaša-Bewegung und lehrt am Historischen Institut der Universität Potsdam. Zu ihren Forschungsschwerpunkten gehören der Zweite Weltkrieg und der Holocaust in Südosteuropa, TäterInnenforschung und Erinnerungskultur. In ihrem Buch "Verwicklung. Beteiligung. Unrecht. Frauen und die Ustaša-Bewegung" (2018, Verlag Duncker & Humblot) untersucht sie die Rolle von Anhängerinnen der kroatischen faschistischen Ustaša-Organisation und deren direkte Beteiligung und Verstrickung in die Verbrechen der NS.
Mehr Infos zur Autorin unter: www.hentrichhentrich.de/autor-martina-bitunjac

Martina Bitunjac
Lea Deutsch
Ein Kind des Schauspiels, der Musik und des Tanzes

Hentrich & Hentrich Verlag, aus der Reihe Jüdische Miniaturen, Bd. 231. 1. Auflage erschienen 2019
Sprache: Deutsch
70 Seiten, Broschur, 15 Abbildungen
ISBN: 978-3-95565-303-3
8,90 €
Mehr zum Buch und bestellen unter: www.hentrichhentrich.de

Ausstellung
Zwischen Ruhm und Vergessen. Lasst uns Lea Deutsch kennenlernen!
Jüdisches Gemeindehaus Fasanenstr. 79-80 | Foyer

9. November 2023 bis 11. Januar 2024 | Eintritt frei
Eröffnung: Mi 8. November 2023, 19 Uhr

Lea Deutsch (1927–1943) war eine in der Zwischenkriegszeit gefeierte jüdisch-kroatische Kinderschauspielerin. Bis zu ihrem 14. Lebensjahr spielte Lea in Dramen, Komödien, Opern und Operetten mit. Als in Kroatien 1941 die Ustascha an die Macht kamen, die nach nationalsozialistischem Vorbild begannen, Jüdinnen und Juden zu verfolgen, wurde sie von der Schule und vom Theater ausgeschlossen. Lea wurde im Frühling 1943 während des Transports nach Auschwitz oder unmittelbar nach der Ankunft im Vernichtungslager ermordet. Ihre Mutter und ihr Bruder starben mit ihr, während der Vater überlebte, indem er sich in einem Zagreber Krankenhaus versteckte.
Mit der Ausstellung gedenkt die Jüdische Volkshochschule Berlin dieses Jahr zum 80. Mal an die Deportation und Ermordung der Schauspielerin durch die Nationalsozialisten und kroatischen Faschisten. Gezeigt werden Fotografien aus ihrem Theaterleben, Presseartikel mit ihren Statements, sowie Dokumente aus der Zeit der Ustascha-Diktatur. Kurator*innen: Dr. Martina Bitunjac (MMZ/Universität Potsdam) und Prof. Dr. Damir Agičić (Universität Zagreb). Die Ausstellung wurde durch das Ministerium für Kultur und Medien der Republik Kroatien und das Moses-Mendelssohn-Zentrum für europäisch-jüdische Studien gefördert.
www.jvhs.de

Mehr zu Lea Deutsch

Page of Testimony auf den Seiten der Holocaust-Gedenkstätte Yad Vashem in Jerusalem: yvng.yadvashem.org

Der Film "Lea and Daria"
Fic, 97 min, 2011
Directed by: Branko Ivanda
Produced by: Lidija Ivanda
Written by: Branko Ivanda & Drago Kekanovic
www.ruthfilms.com

Die 2008 in kroatischer Sprache geschriebene Biographie "Lea Deutsch - Zagrebačka Ane Frank" ("die Zagreber Anne Frank") von Pavao Cindrić
zadovoljna.dnevnik.hr

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Das Hinterhaus - Het Achterhuis – Die Tagebücher von Anne Frank
Am 12. Juni 2019 wäre Anne Frank 90 Jahre alt geworden. Zu diesem besonderen Datum hat der S. Fischer Verlag im Juni 2019 ihre zwei fragmentarischen Tagebuchversionen, bestehend aus den ursprünglichen Einträgen, sowie ihrem Romanentwurf in einer Sonderausgabe herausgebracht. Diese entstand auf Basis der 2013 erschienenen Gesamtausgabe, aus dem Niederländischen übersetzt von Mirjam Pressler. (2019)

Otti (Otilija Ester) Berger. 1898 – 1944. Eine Recherchereise
Geboren wurde sie 1898 in eine jüdische Familie in dem Dorf Zmajevac, welches bis zum Ersten Weltkrieg zu Österreich–Ungarn gehörte und später Teil von Jugoslawien (heute von Kroatien) wurde. Otti verließ das Dorf und ihre Familie, um nach Zagreb zu gehen und dort Kunst zu studieren, und zog von dort aus nach Deutschland, um in die Avantgarde des Bauhauses in Dessau einzutauchen. Und dann, allein, in die Metropole Berlins. (2013)

Drei Frauen, eine Spurensuche - Die Tänzerin Tatjana Barbakoff
Layla Zami erzählt die bewegende Geschichte der chinesisch-lettisch-jüdischen Ausdrucks-Tänzerin, die 1944 in Auschwitz ermordet wurde und von der zeitgenössischen Künstlerin Oxana Chi in der TanzFemmage "Durch Gärten" geehrt wird. (2012)

Susanne Beyer - Palucca - Die Biografie. AvivA Verlag
Die SPIEGEL-Kulturredakteurin zeichnet mit dieser Biographie ein neues Bild dieser widersprüchlichen und charismatischen Frau, der Wegbereiterin des modernen Tanzes, Gret Palucca (1902-1993). (2009)

Ingeborg Boxhammer - Marta Halusa und Margot Liu. Die lebenslange Liebe zweier Tänzerinnen
Die bewegende Geschichte zweier junger Frauen, deren Liebe die Zeit des Nationalsozialismus überdauerte. Mit ihrer Kurzbiografie liefert die Journalistin und Software-Trainerin einen wichtigen Beitrag, um verfolgten lesbischen Frauen während der Nazizeit ein Gesicht zu geben. (Aus der Reihe Jüdische Miniaturen, Bd. 175, Hentrich & Hentrich Verlag Berlin, erschienen im August 2015)


Literatur > Jüdisches Leben

Beitrag vom 03.10.2019

Sharon Adler