Anna Hess - Briefe einer jüdischen Hamburgerin an ihre Tochter in Buenos Aires von 1937 bis 1943. Herausgegeben von Madelaine Linden, der Urenkelin der in Theresienstadt ermordeten Anna Hess - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Juedisches Leben



AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 09.05.2018


Anna Hess - Briefe einer jüdischen Hamburgerin an ihre Tochter in Buenos Aires von 1937 bis 1943. Herausgegeben von Madelaine Linden, der Urenkelin der in Theresienstadt ermordeten Anna Hess
Bärbel Gerdes

Das Trauma lastet schwer auf der Familie: während die Tochter mit Mann und Kindern nach Argentinien emigriert, bleibt die jüdische Mutter in Deutschland zurück. Ihre Briefe berichten vom Alltag in einer sie immer schwerer belastenden und bedrohenden Gesellschaft.




"Zu unpolitisch", "zu privat", so das Verdikt zahlreicher Verlage, denen diese Briefsammlung vorgelegt wurde.

Anna Hess, eine jüdische, deutsche Unternehmerwitwe, ist 82 Jahre alt, als ihre Tochter mit Ehemann und Kindern nach Buenos Aires flüchtet. Die Mutter hat sich für das Daheimbleiben entschieden. Daheim, das ist Hamburg, das ist das hanseatische Leben, das sind ihre Bridgefreundinnen und die vielen Verwandten und Bekannten.
Wiederholt bekräftigt sie ihrer Tochter gegenüber diesen Entschluss: "Alt und Jung paßt nicht zusammen und ich wäre Euch, die ihr ein neues, schweres Leben wieder beginnen mußtet, nur ein Stein am Wege gewesen", schreibt sie 1939 und setzt ein Jahr später hinzu: "Ich würde es nie getan haben, nur aus dem Grunde, meinen Kindern mit den unausbleiblichen Altersleiden nicht zur Last zu fallen. Aus der Entfernung ist eine Alte sehr liebenswert, aber das Alter verschönt nicht und ist für die Umgebung schwer zu ertragen."

Zu diesem Zeitpunkt zieht sich die faschistische und antisemitische Schlinge bereits enger um den Hals der Ollen, wie sie liebevoll von ihren Kindern genannt wird.

Anna Hess lebt in verschiedenen Alterspensionen. Sie erhält eine Rente aus dem ehemaligen Unternehmen ihres verstorbenen Mannes, das inzwischen den Besitzer "gewechselt" hat. 1937 liest sie ein Zirkular des neuen Inhabers "mit dem üblichen Inhalt und nun als bemerkenswert: mit dem Ausscheiden des Herrn E. Hess sei die Firma ganz arisch." Regelmäßig schreibt Anna Hess ihrer Tochter Martha, die sie zärtlich mit "mein Muckchen" anredet. Sie berichtet von ihrem Alltag, den Besuchen, die sie erhalten hat, der sich verschlechternden Demenz ihrer Schwester und vom Bridge. "Bridge habe ich ganz aufgegeben, bin auch aufgegeben worden. Durch mein Nichthören und langsames Denken und schlechtes Spiel werde ich nur aus Barmherzigkeit als Spielerin geduldet."

Ihre große Sorge ist ihr Sohn Rudolf. Er flüchtet von Land zu Land und kann nirgends Fuß fassen. Überall wird er verfolgt, und der Name "Rudolf Hess" macht ihm sein Dasein noch schwerer. "Er ist leider das verkörperte Sinnbild des jüdischen Volkes, ein gehetztes Wild, ruhelos von einem Ort zum anderen.", schreibt Anna ihrer Tochter im Dezember 1938. "Was nun wird, ist mir unklar, ein Mensch ohne Geld und ohne Beziehungen in einem fremden Land ist ein schrecklicher Gedanke."

Auch ihr eigenes Leben verändert sich stetig. 1937 finden Luftschutzübungen statt und die Fenster müssen verdunkelt werden. Im selben Jahr beantragt sie einen Pass, um Rudolf Geld zuzuschicken, und stellt fest: "Ich als Nichtarierin bekomme keinen Paß." Bekannte können nicht heiraten, weil eine Heirat eines Mischlings mit einem Arier nicht erlaubt sei. Immer mehr Freunde und Freundinnen wollen das Land verlassen und immer mehr begehen Selbstmord. Einige Briefe enthalten vier oder fünf Namen von Bekannten, die sich das Leben genommen haben.
Im August 1938 empört sie sich über die Namensänderungsverordnung. Im Oktober des gleichen Jahres erhält sie die Mitteilung, der neue Firmeninhaber dürfe jüdische RentnerInnen nicht länger unterstützen. Damit ist ihre finanzielle Situation äußerst bedroht. Zwar wird sie von zahlreichen Freundinnen und Freunden unterstützt, doch ein regelmäßiges Einkommen gibt es nicht mehr. Gegen diesen Bescheid erhebt sie Einspruch.

Madelaine Linden ist die Urenkelin Anna Hess´ und die Herausgeberin der Briefe. Ihre Urgroßmutter war "eine Ikone in unserer Familie. Und sie war das Trauma, die offene, nie verheilende Wunde." Die Idee zur Publikation kam von ihrem Vater, Egbert Meyer. Der hatte die Briefe, die in Sütterlin geschrieben waren, auf Band gesprochen. Mit der Publikation sei eine große Last von ihr gefallen, gesteht sie in einem Interview mit der Stuttgarter Zeitung. 32 Jahre lang habe sie sich mit dem "Thema" beschäftigt, ein Thema, das weit über den familiären Rahmen hinausgeht. Einerseits habe sie ihrer Großmutter ein Denkmal setzen wollen, anderseits aber aufzeigen, wie das Leben jüdischer Menschen immer enger und einsamer wurde.

"Wenn man mal mit anderen Menschen zusammen ist, hört man nur Trauriges", schreibt Anna Hess, "Deshalb ist es ja auch gut, daß ich mit sehr wenigen oder fast mit niemandem mehr zusammen komme. Meistens ist meine eigene Gesellschaft nicht so deprimierend."
Trotzdem ermutigt sie ihre Tochter jederzeit, sich ihr neues Leben schön einzurichten und nimmt regen Anteil an deren Familie. Das Briefeschreiben und das Briefeerhalten sind Festtage in ihrem Leben.

In ihrem letzten Brief vom 8. Juni 1943 schreibt die nun 88jährige in größter Eile. Sie muss ihn über Schweden verschicken. In ihm teilt sie mit, "daß wir heute nun doch die große lang geplante Reise antreten und bin ich nun froh, daß es nun soweit ist und man aus dem ewigen Bangen, ob man reisen würde oder nicht, herauskommt." Die Familie erreicht dieser Brief erst 1946.

Anna Hess wurde in Theresienstadt ermordet. Für Anna Hess wurde ein Stolperstein in Hamburg, Rothenbaumchaussee 207 (Eimsbüttel, Harvestehude) und ein Stolperstein vor dem Gebäude in der Bahnhofstraße 7 in ihrem Geburtsort Celle gelegt.

Es ist Madelaine Linden hoch anzurechnen, dass sie sich nicht hat entmutigen lassen, um die Briefe zu veröffentlichen. Der Dittrich-Verlag hat dies umgesetzt. Ihr Vater hat die Veröffentlichung leider nicht mehr erleben dürfen.
Vollkommen unverständlich bleibt, was an diesen Briefen unpolitisch sein soll.

AVIVA-Tipp: Die Briefsammlung gibt ein eindrucksvolles und erschreckendes Bild vom Leben jüdischer Menschen während der Nazidiktatur. Sie ist ein äußerst wichtiges und auch aktuelles Zeitzeugnis, in dem der schleichende Prozess der Ausgrenzung fast fühlbar wird sowie das beschwerliche Leben von Menschen, die sich auf der Flucht befinden.

Zur Herausgeberin: Madelaine Linden wurde 1954 in Montevideo, Uruguay geboren und lebte in Buenos Aires, Lausanne, Genf, Brüssel, New York, Hamburg und Stuttgart. Sie ist seit 1989 freischaffende Künstlerin.
Mehr Informationen zu Madelaine Linden unter: www.madelaine-linden.com

Mehr Informationen zu Anna Hess, geb Daniel (21. Mai 1855 - 28. September 1943)

www.synagoge-steinsfurt.org

www.celle.de

Anna Hess: Briefe einer jüdischen Hamburgerin an ihre Tochter in Buenos Aires von 1937 bis 1943
Herausgegeben von Madelaine Linden

Dittrich Verlag, erschienen November 2017
Klappenbroschur, 280 Seiten
ISBN 978-3-943941-93-7
19.80 Euro
Mehr zum Buch unter: www.dittrich-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Barbara Bišický-Ehrlich – Sag´, dass es dir gut geht. Eine jüdische Familienchronik
Persönliches Erinnern, historische Fakten und gesellschaftspolitisch aufoktroyierte Erinnerungskultur – das sind zwei Facetten eines Andenkens. In der vorliegenden Publikation stehen familiäre Erinnerungen im Fokus. (2018)

Angelika Schrobsdorff - Leben ohne Heimat. Herausgegeben von Rengha Rodewill
Angelika Schrobsdorff, deutsche Jüdin, Schriftstellerin, unangepasste Zeitgenossin, emanzipiert und polarisierend. 2016 ist sie in Berlin gestorben und hinterlässt – trotz ihrer zahlreichen autobiografischen Romane – viele unbeantwortete Fragen. Deren Großmutter wurde in Theresienstadt ermordet. (2017)

Verlorene und wieder gefundene Erinnerungen. Meta Adler
Die jüdisch-amerikanische Schriftstellerin Donna Swarthout zieht nach Berlin und stößt dort unerwartet auf eine verlorene und vergessene Verwandte. Sie macht sich auf eine Reise, um sicher zu stellen, dass das Andenken ihrer Großtante Meta erhalten bleibt. (2012)

Ilse Weber - Wann wohl das Leid ein Ende hat. Herausgegeben von Ulrike Migdal
Wiederentdeckte Briefe und Gedichte, die das Leid der Hörfunk- und Kinderbuchautorin Ilse Weber im KZ Theresienstadt beschreiben: Zeugnisse von Mut, zerstörter und unzerstörbarer Hoffnung. (2009)

Das Haushaltsbuch der Elsa Chotzen. Von Cornelia Kruse und Gorch Pieken
Der zufällige Fund einer verstaubten Kladde in einem süddeutschen Dorf stellte sich als ein außergewöhnlich detailliertes Stück Zeitgeschichte heraus: "Das Haushaltsbuch der Elsa Chotzen" liest sich als das dokumentierte Schicksal einer jüdischen Familie zwischen 1937 und 1946 und ist ein weltweit einzigartiges Dokument. (2008)


Literatur > Jüdisches Leben

Beitrag vom 09.05.2018

Bärbel Gerdes