AVIVA-Berlin >
Literatur > Jüdisches Leben
AVIVA-BERLIN.de im November 2024 -
Beitrag vom 28.12.2017
Juden und Muslime in Berlin während der Nazizeit - Anna Boros und ihre Rettung durch den ägyptischen Arzt Mod Helmy
Magdalena Herzog
Zwei Autoren haben unabhängig voneinander diese Geschichte nachrecherchiert. Ronen Steinke mit "Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin" und Igal Avidan in "Mod Helmy. Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete". Zugleich erleben die jüdisch-muslimischen Beziehungen in den letzten Jahren einen Aufwind: Ausstellungen, Konferenzen und Kulturtage widmen sich ...
... der geteilten Geschichte und Gemeinsamkeiten, während die gegenseitige Abneigung in anderen Bereichen nicht überwindbar scheint.
In diese Kerbe schlagen nun die Publikationen von Ronen Steinke und Igal Avidan über den Ägypter Mod Helmy. Er war der erste Araber, den die Gedenkstätte Yad Vashem 2013 posthum zum "Gerechten unter den Völkern" ehrte.
Der Mediziner Mod Helmy rettete die rumänische Jüdin Anna Boros vor der Deportation. Beide Bücher erinnern damit auch an die engen jüdisch-muslimischen Beziehungen in den 1920er- und 1930er-Jahren in Berlin.
Wer war Dr. Mohammed Helmy, alias Mod Helmy?
Er kam 1922 im Alter von 21 Jahren aus Kairo nach Berlin wo er Medizin studieren wollte. Die Weimarer Republik hatte muslimische Studenten eingeladen, um die diplomatischen Beziehung zu Ägypten zu pflegen. In dieser, ihm wohlgesonnenen politischen Atmosphäre, begann Helmy zu studieren und wurde 1930 am Städtischen Krankenhaus Moabit Assistenzarzt. Anschließend war er als Urologe im Robert-Koch-Institut tätig. Viele der Ärzte im Krankenhaus Moabit waren jüdisch, die mit der Machtübernahme der Nazis umgehend entlassen wurden. Helmy profitierte von den freigewordenen Positionen, stieg rasch auf und begann bald, seine arrivierte Stellung zu nutzen, um sich gegen die braunen Ärzte offen zu äußern. Nach wiederholten Diskriminierungen gegen Helmy aufgrund seiner Herkunft und seiner aktiven Haltung gegen das Regime wurde auch er 1937 aus dem Krankenhaus geworfen.
Anna Boros Familie und Mod Helmy
Helmy richtet eine private Praxis in der Krefelder Straße 7 in Berlin-Moabit ein, wo er wie auch im Krankenhaus weiterhin jüdische Patient_innen behandelte. Durch diese Tätigkeit lernte er 1936 die Familie Boros um das damals elfjährige Mädchen Anna kennen. Anna war 1925 in Arad (Rumänien) geboren worden und als kleines Mädchen mit Mutter und Großmutter nach Berlin gekommen. Hier baute die Familie vor allem unter der Führung der Großmutter Cecilie Rudnik ein gutgehendes Obstgeschäft auf. 1942 wandte sich Anna an Mod, um der drohenden Deportation durch die Nazis zu entkommen – sie konnte zunächst bei ihm in der Praixs eine Ausbildung machen und Mod gab sie als seine Assistenz aus. Dabei unterstützte ihn seine deutsche Freundin Emmy Ernst. Um Anna dauerhaft schützen zu können, brauchte es jedoch eine andere Lösung.
Anna wird Muslima
Mod nutzte seine Kontakte zur muslimischen Gemeinde und arrangierte eine offizielle Konversion zum Islam. So wurde Anna im Juni 1943 zu Nadja und zur Nichte Mods. Ein Kopftuch half, Anna auf der Straße für ehemalige Bekannte weniger leicht erkennbar zu machen. Eine Heirat mit einem engen Vertrauten Mods, dem Musiker Hammad, sollte die endgültige Rettung für Anna bringen: Durch die Heirat würde sie einen ägyptischen Pass erhalten, der ihr eine Ausreise ermöglichen würde. Man wusste in Berlin von Ärtz_innen in einem Krankenhaus in Alexandria, das deutsch-jüdischen Flüchtlingen half. Das Unterfangen war äußerst gefährlich: Während einerseits ein ganzes arabisches Netzwerk Annas Konversion und Heirat ermöglichte, war es andererseits empfindlich nah am Großmufti von Jerusalem, Mohammed Amin al-Husseini, einem engen Freund Hitlers. Denn dessen rechte Hand, Kamal el-Din Galal, war involviert in die Angelegenheit und Generalsekretär des Islamischen Zentralinstituts in Berlin, das Annas Übertrittsurkunde ausstellte.
Anna überlebt in der Illigalität in Buch
Der Schwindel jedoch konnte nicht lange aufrecht erhalten werden. Im Winter 1943 musste Anna untertauchen, erhielt damit keine Lebensmittelkarten mehr und war gänzlich von der Hilfe anderer abhängig. Mod stellt ihr seine Laube in Buch zur Verfügung, wo sie sich über ein Jahr lang versteckt hielt, größtenteils in einem kleinen Erdloch innerhalb des Hauses, um vor den Bomben geschützt zu sein. Mit ihrer Familie konnte sie kaum noch zusammenkommen: während die Großmutter für sich selbst sorgte und vor allem von einer Bekannten und Patientin Mods, Frieda Szturmann, versteckt bzw. versorgt wurde, schätzte Annas Mutter Julie die Situation oftmals falsch ein und verhielt sich unvorsichtig. Sie war relativ lange geschützt, da sie mit einem Nichtjuden, Georg Wehr verheiratet war, wenn auch dieser sich kaum für seine Familie einsetzte. Offensichtlich verplapperte sich Julie bei anderen Frauen, mit denen sie Zwangsarbeit bei dem Unternehmen Rose & Co. leistete, und so flog das Versteck Annas auf. Das Netzwerk Mods funktionierte auch im Winter 1945 noch – Anna kam bei dessen Freund_innen unter, bis sie sich sicher waren, dass die Gestapo sie nicht mehr suchte und kehrte zurück nach Buch, wo sie das Kriegsende erlebte. Noch in Berlin lernt sie ihren Mann Chaim Gutman kennen und wanderte mit ihrer Mutter und ihrem Stievfater in die USA aus. Ihre Großmutter und ihr Onkel wählten Palästina als ihre neue Heimat.
Annas und Mods Verwandte
Anna und Mod hielten nach dem Krieg den Kontakt zueinander aufrecht und sahen sich erstmalig 1969 in Berlin wieder. Ihr Vertrauen zueinander, in dem die religiöse Zugehörigkeit keine Rolle gespielt hat, konnten sie jedoch nur bedingt weitergeben. So sehr die Ehrung Helmys freut, so kompliziert und teils bitter ist der Blick in die Gegenwart: Sowohl Ronen Steinke als auch Igal Avidan konnten Gespräche mit Verwandten von Anna und Mod ermöglichen, die in den USA bzw. in Ägypten leben. Anna Boros Sohn Charles Gutman in New York äußerte sich auf Facebook bedenklich negativ über Muslime, während seine Schwester Carla Greenspan einen Brief an Verwandte Helmys nach Kairo sandte. Die Verwandten Mods in Kairo lehnten dessen Ehrung durch Yad Vashem lange ab, das Zertifikat von Yad Vashem nahmen sie nicht entgegen, weil es ein israelischer Preis ist. Dass Mod zur Rettung von Jüdinnen_ Juden entscheidend beigetragen hat, sahen sie nicht als eine Besonderheit an, er habe allen Menschen geholfen, unabhängig von ihrer Religion – so noch der Stand der Dinge bei den Gesprächen zwischen Ronen Steinke und Mods Familie. Ende Oktober 2017 jedoch nahm der Neffe Mods, Nasser Kotby das Zertifikat und die Medaille Yad Vashems in der israelischen Botschaft in Berlin erfreulicherweise doch entgegen – er sieht die Entgegennahme als Ehrung an. Igal Avidan fügt richtigerweise hinzu, es sei denkbar, dass auf die Familie von staatlicher Seite Druck ausgeübt wurde. Kontakte zu Israel, bzw. zu Jüdinnen_Juden zu pflegen, kann in Ägypten gefährlich werden – das musste auch der Schauspieler Omar Sharif erfahren, der nach dem Film mit Barbra Streisand für Funny Girl, in dem er den Juden Nick Arnstein spielt, zehn Jahre sein Heimatland nicht betreten durfte.
Jüdinnen_Juden und Muslime gestern und heute
Die Geschichte von Mod und Anna ist eine atemberaubende, denn so viele große Themen kommen hier zusammen: menschlicher Anstand, Mut und Cleverness, die komplexen außenpolitischen Verhältnisse des Naziregimes vor allem mit dem Nahen Osten, in die Annas und Mods Biographien und damit auch deren Rettung eingebunden waren, der Blick in die Kulturszene der 1920er- und 1930er-Jahre, in der muslimische Araber offensichtlich deutlich vertreten waren und große Affinitäten zu Juden_Jüdinnen hatten und sich lange vor 1933 gegen die Nazis verbündeten. Und nicht zuletzt die Gegenwart, die im Bezug auf die Beziehungen zwischen Deutschland und dem Nahen Osten und zwischen Juden_Jüdinnen/Israelis und Muslimen dort und hier komplex sind, von Bitterkeit, Feindlichkeit und doch gleichzeitig großer Nähe oder langsamen erneuten Annäherungsversuchen in der Kulturszene geprägt sind: schauen wir auf das Programm des Festivals "Desintegration", den Veranstaltungen des Jüdischen Museum Berlins und den erstmalig stattfindenden Jüdisch-Muslimischen Kulturtagen in Heidelberg im November 2017, wächst die Hoffnung, dass hier erneut wieder etwas zum Blühen kommt.
AVIVA-Tipp: Beide Publikationen stellen eine äußerst lohnenswerte Lektüre dar, die gerade durch ihren unterschiedlichen Ansatz sehr gut ergänzend gelesen werden können: Ronen Steinke als eine spannend erzählte und gut recherchierte Dokumentation der Rettungsgeschichte von Anna Boros, Igal Avidan als ein erzählendes, aufwendig und hervorragend recherchiertes Sachbuch, das zeitlich weiter und tiefgründiger in die Biographie, Tätigkeit Mod Helmys und in die politischen Verhältnisse einsteigt.
Zum Autor: Ronen Steinke, geboren 1983 in Erlangen, studierte Rechtswissenschaft und Kriminologie. Seit 2011 ist er Redakteur bei der Süddeutschen Zeitung, zunächst im Ressort Außenpolitik/Naher Osten, nun als Korrenspondent für die Themen Nachrichtendienste und innere Sicherheit mit Sitz in Berlin. 2011 wurde er promoviert über eine Arbeit zu den Kriegsverbrechertribunale von 1945 bis heute. Er war Gastwissenschaftler am Fritz-Bauer-Institut zur Geschichte und Wirkung des Holocaust in Frankfurt am Main. 2015 erschien beim Piper-Verlag seine Biographie über Fritz Bauer.
Zum Autor: Igal Avidan, 1962 in Tel Aviv geboren, hat in Israel Englische Literatur und Informatik und in Berlin Politikwissenschaft studiert. Seit 1990 arbeitet der Nahostexperte als freier Berichterstatter aus Berlin für israelische und deutsche Zeitungen und Hörfunksender. 2008 erschien sein Buch"Israel. Ein Staat sucht sich selbst". Ko-Autor seines Buches über Mod Helmy ist der Schriftsteller und Journalist Helmut Kuhn.
Ronen Steinke
Der Muslim und die Jüdin. Die Geschichte einer Rettung in Berlin
Berlin Verlag, erschienen August 2017
Hardcover, 207 Seiten, mit Bildmaterial
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-8270-1351-4
www.piper.de
Igal Avidan
Mod Helmy. Wie ein arabischer Arzt in Berlin Juden vor der Gestapo rettete
dtv, erschienen Oktober 2017
Hardcover, 248 Seiten, mit Bildmaterial
Preis: 20,00 Euro
ISBN: 978-3-423-28146-1
www.dtv.de
Mehr Infos zu Dr. Mohamed Helmy und Anna Boros Gutman auf Yad Vashem - The World Holocaust Remembrance Center:
www.yad-vashem.org.il
Filmprojekt "Mohamed and Anna – In Plain Sight"
Die Dokumentarfilmerin Taliya Finkel, die in Jerusalem und Wien arbeitet, sucht Unterstützer_innen, um diese Geschichte in einen Film zu bringen. Der Titel steht bereits fest: "Mohamed and Anna – In Plain Sight". Der Stoff ist mehr als geeignet dafür und sucht dringend finanzielle Unterstützung. Mehr Infos:
taliyafinkel.com
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
DIE UNSICHTBAREN - WIR WOLLEN LEBEN. Kinostart 26.10.2017
Berlin, 1943. Das Nazi-Regime hat Berlin offiziell für "judenrein" erklärt. Doch einigen Juden und Jüdinnen gelingt das Undenkbare. Sie beschließen zu "flitzen" und gehen in den Untergrund. Das Dokudrama erzählt stellvertretend für 7.000 Untergetauchte die Geschichte von vier jungen Berliner Jüdinnen und Juden, die sich für die Gestapo unsichtbar machen und durch pures Glück und in immer wechselnden Verstecken der Deportation entkommen können: Cioma Samson Schönhaus, Hanni Lévy, geb. Hannelore Weissenberg, Ruth Gumpel, geb. Arndt, Eugen Herman-Friede.
Else Krell - Wir rannten um unser Leben. Illegalität und Flucht aus Berlin 1943. Herausgegeben von Claudia Schoppmann
Sorgfältig und kenntnisreich hat die Historikerin und Publizistin die ihr anvertrauten Erinnerungen und Manuskripte in Buchform aufbereitet und schließlich, sechs Jahre später, eine Veröffentlichung erwirkt. (2016)
Ilse-Margret Vogel - Über Mut im Untergrund. Eine Erzählung von Freundschaft, Anstand und Widerstand im Berlin der Jahre 1943-1945
Wie konnten Verfolgte im Berliner Untergrund während des NS überleben? Und wie haben die wenigen, die ihnen halfen, den Mut dazu aufgebracht? Die Erinnerungen von Ilse-Margret Vogel entfalten die Perspektive einer nichtjüdisch-deutschen, selbstbestimmten und moralisch autonomen Frau, die mit Verfolgten des NS-Regimes trotz der Propaganda befreundet bleibt, ihnen Unterschlupft bietet und sich bis Kriegsende erfolgreich verweigert den Hitler-Gruß auszuführen. (2015)
Regina Steinitz mit Regina Scheer - Zerstörte Kindheit und Jugend. Mein Leben und Überleben in Berlin. Herausgegeben von Leonore Martin und Uwe Neumärker
Die "Stiftung Denkmal für die ermordeten Juden Europas" gibt die "Zeitzeugenreihe" heraus, in der Holocaust-Überlebende zu Wort kommen, von denen viele erst im hohen Alter von dem traumatisch Erlebten ihrer Kindheit und Jugend berichten können. (2015)
Marie Jalowicz Simon - Untergetaucht
50 Jahre "danach", am Ende ihres Lebens, hat Marie Simon, Altphilologin und Philosophiehistorikerin an der Humboldt-Universität, ihre Überlebensgeschichte "ausgeschüttet wie einen Eimer Wasser, so ihr Sohn Hermann Simon, Direktor der Stiftung "Neue Synagoge Berlin – Centrum Judaicum". Unmittelbar danach ist sie 1998 gestorben. (2014)
Als Jüdin versteckt in Berlin
"Versuche, dein Leben zu machen". Diese Worte hinterließ die Mutter der 21-jährigen Margot Bendheim, als sie deportiert wurde. Sechzig Jahre später erzählt sie ihre bewegende Geschichte. (2008)
Regina Scheer – "Im Schatten der Sterne" Eine jüdische Widerstandsgruppe. Regina Scheer folgt den Spuren einer jüdischen Widerstandsgruppe in Berlin, deren Mitglieder gegen das nationalsozialistische Regime kämpften und dabei ihr Leben riskierten. (2004)
Lea Goldberg. Verluste - Antonia gewidmet Ein Roman, der 1935 in Palästina von der Dichterin und Literaturkritikerin Lea Goldberg auf Hebräisch verfasst wurde. Dieser wird bereichert um ein Werk, das im Berlin der Jahre 1932 bis 1933 spielt und sich sprachlich aus der Moderne und aus den religiösen Texten des Judentums speist. Im Fokus steht der Islamwissenschaftler Jehuda Elchanan Kron. Der Roman erinnert auch an eine wichtige Phase der Orientalistik und Islamwissenschaft, in der es viele Jüdinnen und Juden waren, die dazu beitrugen, diese Disziplin zum erblühen zu bringen – in Deutschland und im damaligen Palästina. (2016)
Ausstellung "Juden, Christen und Muslime. Im Dialog der Wissenschaften 500-1500"
9. Dezember 2017 - 4. März 2018 im Martin-Gropius-Bau
Im Fokus der umfassenden, faszinierenden Ausstellung steht die Aufarbeitung des Dialogs der drei mosaischen Religionen vor dem Hintergrund von Medizin, Mathematik, Astronomie und Astrologie und deren Einfluss auf die Menschen. Mit Angeboten wie Tandem-Führungen oder Workshops liefert sie damit auch einen aktuellen Bezug zum multikulturellen Europa von heute. (2017)
Ausstellung "Welcome to Jerusalem"
11. Dezember 2017 bis 30. April 2019 im Jüdischen Museum Berlin
In der Ausstellung wird die Geschichte Jerusalems von der Zeit Herodes bis heute mit ausgewählten Themen dargestellt. In zehn Räumen, auf 1.000 Quadratmetern, werden die vielfältigen Herausforderungen Jerusalems aufgegriffen und mit historischen Exponaten, künstlerischen Reaktionen und medialen Inszenierungen präsentiert: Aspekte der Stadtgeschichte, in der Alltag, Religion und Politik unauflöslich miteinander verflochten sind Kulturhistorische Objekte mit Leihgaben aus internationalen Museen und aus Privatsammlungen, darunter aus dem Victoria & Albert Museum, der Tate, dem Musée du Quai Branly, den Uffizien und dem Israel Museum sind ebenso zu sehen sein wie Arbeiten zeitgenössischer Künstler*innen.