Marko Martin - Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt - Aviva - Berlin Online Magazin und Informationsportal für Frauen aviva-berlin.de Literatur Juedisches Leben





 

Chanukka 5785




AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 09.05.2016


Marko Martin - Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt
Sigrid Brinkmann

Im Sommer 1991, wenige Monate nachdem Saddam Hussein Raketen auf Tel Aviv abfeuern ließ und der Schriftsteller Yoram Kaniuk dem neben ihm sitzenden Günther Grass vor laufenden Kameras die Freundschaft aufgekündigt hatte, reiste Marko Martin...




... zum ersten Mal nach Tel Aviv. Und ahnte nicht, dass er, der gehemmte, im Sommer ´89 aus der DDR geflüchtete "Sachsen-Junge", dort zum "zeitweilig Ansässigen" würde.

Warum? Weil er, "furchtsam, naiv" zwar, aber voller Verlangen, dem jungen Friseur Moshe in eine Diskothek gefolgt war und am frühen Morgen zum ersten Mal Sex mit einem Mann hatte. Weil er endlich in urbanen Gegenden und Landschaften umherstreifen konnte, deren Namen ihm seit Kindertagen vertraut waren. Früh hatte er angefangen, mit den Eltern - beide den Zeugen Jehovas verpflichtet - die Bibel zu lesen und sich alsbald aus der rigiden Lehre der Zeugen wie den Begrenzungen der DDR hinausgeträumt an die Levante.

Marko Martin blickt in seinem Buch zurück auf das, was ihm Tel Aviv in den letzten 25 Jahren an menschlichen Begegnungen geschenkt hat. Er befragt sich, mal selbstironisch, mal zweifelnd, er denkt laut nach und hat ein offenes Ohr für alles, was ihm auf den verschlungenen Pfaden durch den alten Kern der "Zauberstadt" zugetragen wird. "Schatzkästchen und Nussschale" ist die Stadt für ihn, weil in ihr unentwegt erzählt wird, und zweifellos hat Martin ein untrügliches Gespür für Menschen, die bereit sind, etwas aus ihrem Leben preis zu geben. Dennoch passiert es immer wieder, dass er - wenn er etwa an Bauruinen vorbei schlendert - eine plötzlich eintretende Stille wahrnimmt. Er notiert: "Nuancen vom Schweigen in einer Stadt, deren Lärm du immer auch als Schutz vor den Zumutungen des Todes begriffen hast".

Um die Fülle der Sinneseindrücke zu bündeln, hat Marko Martin sein Buch in vier Kapitel gegliedert: Meine Hotels - Meine Restaurants und Kollegen - Meine Clubs - Meine Strände. Innerhalb dieser Ordnung lässt der Autor seinen Erinnerungen freien Lauf - vorbehaltlos offen, nichts beschönigend, immer emotional ergriffen. Spielend leicht umreisst Martin mit nur wenigen Sätzen das Spezifische sämtlicher Lokalitäten im Umkreis der staubigen Allenby Straße, wo niemals "mürbe divahafte Melancholie erblühen" wird. Hier verkehren Männer, die ihre kurzärmligen Hemden offen tragen "bis zu den Blinddarm- und Leistenbruchnarben". Für sie hat die im Bell Hotel arbeitende Marina keinen Blick übrig. Das in den Textfluss eingewobene Porträt der literaturbewanderten, russischen Einwanderin, die palästinensische Zimmermädchen anblafft, während sie staubsaugt und telefoniert, gehört zu den stärksten des Bandes. Martin unterbrach Marinas Monologe nie, weil er spürte, dass hinter dem wortverliebten Aufbrausen "nur halb verborgene Resignation" lauerte.

Marko Martins Abschweifungen folgt man willig, weil jede Verästelung eine Facette gelebten Lebens mehr enthüllt. Die "post-libidinösen Gespräche" in den Nachtclubs zeugen davon, die "Alltags-Huschigkeiten" der jungen Tel Avivnikim, die Legenden, die in der Familie eines jemenitischen Freundes tradiert werden oder die Diskussionen, die Leute auf der Strandpromenade führen, wenn wieder einmal jemand die Stimme des Friedensaktivisten Abie Nathan vom Band abspielt. Furor mischt sich in Martins Ton nur, wenn er an die selbstgerechte Prinzipienfestigkeit einer "rechtslinken Phalanx" israelkritischer - in Wahrheit antisemitischer - Deutscher denkt. Ihnen, wie jedem anderen auch, empfiehlt er Aufenthalte im strahlend schönen wie verlotterten Schatzkästchen und Gespräche mit Einheimischen, die geübt sind darin, das Anderssein und Gegnerschaft auszuhalten.

Zum Autor: Marko Martin verließ im Mai 1989 als Kriegsdienstverweigerer die DDR und lebt – sofern er sich nicht in Tel Aviv aufhält – als freier Schriftsteller in Berlin. Zu seinen zahlreichen Veröffentlichungen zählen unter anderem der Roman "Der Prinz von Berlin", die literarischen Tagebücher "Sommer 1990" und "Madiba-Days. Eine südafrikanische Reise." In der "Anderen Bibliothek" erschienen zuletzt die Erzählbände "Schlafende Hunde" und "Die Nacht von San Salvador".

Sigrid Brinkmann hat "Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt" für Deutschlandradio Kultur in Studio 9 am 3. Mai 2016 rezensiert. Zu hören ist ihre Besprechung in der Sendung unter dem Titel ´Geschichten vom Leben einer "Zauberstadt"´ unter:
www.deutschlandradiokultur.de


Marko Martin
Tel Aviv. Schatzkästchen und Nussschale, darin die ganze Welt

Mit Fotografien von Rainer Groothuis
Corso Verlag, erschienen März 2016
160 Seiten, gebunden
28,00 Euro
www.verlagshaus-roemerweg.de


Weiterlesen:

Wir vergessen nicht, wir gehen tanzen
Israelische und deutsche Autoren schreiben über das andere Land
Herausgeber: Norbert Kron + Amichai Shalev
Hardcover
Aus dem Hebräischen von Barbara Linner
Preis € 18,99
ISBN: 978-3-10-002391-9
Fischer Verlag, erschienen März 2015
Mehr Infos unter:
www.fischerverlage.de

Marko Martin: "Kosmos Tel Aviv. Streifzüge durch die israelische Literatur und Lebenswelt" (Wehrhahn Verlag 2012)
"Kosmos Tel Aviv" führt in Streifzügen durch eine israelische Literatur und Lebenswelt, die in ihrer flirrenden, selbstkritischen Heterogenität hierzulande noch kaum bekannt ist. Marko Martin schreibt als sympathisierender Flaneur – in Essays, Reportagen, Autoren-Porträts und Glossen. Die SchriftstellerInnen, die er hier trifft – von Shulamit Lapid, Batya Gur, Michal Zamir, Mira Magén über Nir Baram und Etgar Keret bis zu den israelisch-arabischen Autoren Sayed Kashua und Ayman Sikseck – vermitteln dabei ein ungleich komplexeres Israel-Bild als das medial übliche.
Mehr Infos unter:www.wehrhahn-verlag.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Andrea Livnat - 111 Orte in Tel Aviv, die man gesehen haben muss
Eine Liebeserklärung an die Stadt die niemals schläft aus der Sicht der Historikerin, der Kunstliebhaberin und der Feinschmeckerin. Die leitende Redakteurin des jüdischen Internetportals haGalil lebt seit nunmehr dreizehn Jahren in Tel Aviv und hat sich während der Recherche zu den "111 Orten" noch einmal ´ganz neu in die Stadt verliebt´. (2015)






Literatur > Jüdisches Leben

Beitrag vom 09.05.2016

AVIVA-Redaktion