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AVIVA-BERLIN.de im Dezember 2024 - Beitrag vom 18.10.2011


Lizzie Doron - Das Schweigen meiner Mutter
Susann S.Reck

Der mit dem Jeanette Schocken Preis im Jahr 2007 ausgezeichnete autobiografische Roman erzählt ebenso subtil wie direkt von der ersten Generation in Israel Geborener nach dem Holocaust.




Komm, lass uns meinen Vater suchen

Es ist nicht irgendein Kinderfoto auf der letzten Seite des Romans "Das Schweigen meiner Mutter" von Lizzie Doron, deren Romane "Es war einmal eine Familie", "Der Anfang von etwas Schönem" und "Ruhige Zeiten" ebenfalls das Leben und Überleben nach der Shoah in den Mittelpunkt stellten.
Das Bild zeigt die Autorin als kleines Mädchen vor dem Hintergrund eines Gebüschs aus dem - die BetrachterInnen werden durch einen nachträglich eingefügten Kreis darauf aufmerksam gemacht - ein Haarschopf ragt, der Schatten eines Menschen, der sich darin versteckt.
Dass dieser Mensch Lizzie Dorons Vater ist und sich tatsächlich bis zu seinem Tod vor ihr versteckt hat, dass dieses Foto das einzige Dokument bleibt, das beide unbeabsichtigt zusammen zeigt, ist das Thema des Romans. Er ist eine Mischung aus Fiktion und Autobiografie.

Das Mädchen, Lizzie Doron nennt es im Roman Alisa, wird nicht müde, nach seinem Vater zu suchen. Hartnäckig befragt es ihre Umgebung im Tel Aviv der 50erJahre, seine Freundinnen und deren Eltern. Aber alle, und ganz besonders Alisas Mutter schweigen sich darüber aus, was mit dem Vater passiert ist. Wer er ist oder war, ob er noch lebt oder tot ist.

Einfach Menschen

Es gelingt Lizzie Doron, ebenso subtil wie direkt von dieser Spurensuche zu erzählen, die sich im Verlauf als immer tragischer und auch irrwitziger erweist. Sie durchzieht Alisas ganzes Leben.
Auf zwei kunstvoll miteinander verflochtenen Zeitebenen zeichnet die Autorin das Gemälde einer weitgespannten Kindheit in Israel kurz nach dem Holocaust nach und, Jahrzehnte später ihr Leben als verheiratete Frau, die noch immer mit den Freundinnen von damals, Dorit und Chajale, Kontakt hat.
Auch mit dieser Freundinnen-Konstellation gelingt es Doron, die LeserInnen für das Erzählte einzunehmen, durch die streckenweise salopp-lakonische Art und Weise etwa, mit der sie die Dinge beim Namen nennen.

Lizzie Dorons ProtagonistInnen nehmen ein, obwohl - und vielleicht auch weil - sie zum Teil tief verstört sind. Sie zeigt Menschen die, der Hölle entkommen, einfach nur versuchen weiterzuleben. Im Stillen verzweifelt, zu Ausbrüchen neigend, manchmal boshaft und kalt, in ihren Verhalten für die LeserInnen von heute sicherlich nicht immer nachvollziehbar.
Auch das Schweigen der Mutter steht exemplarisch für die Verhaltensweise einer Überlebenden die, eingeschlossen in sich selbst, nicht in der Lage ist, über das Erlebte zu sprechen. Gerade sie aber ist besonders bewegend, denn Lizzie Doron gelingt es, ihr Unvermögen verständlich zu machen ohne es explizit zu thematisieren.

Phantom und Schattenwesen

Für Alisa ist nicht nur der Vater ein Phantom. Auch die Mutter bleibt ein Schattenwesen. So erfährt die Tochter erst auf Umwegen, dass sie vor dem Holocaust bereits verheiratet war und Kinder hatte.
"Was ich wollte dass Du weißt, weißt Du" wehrt sie selbst noch auf dem Sterbebett Alisas Fragen ab.

Was hat Gott von mir gewollt?

Lizzie Dorons Roman "Das Schweigen der Mutter" macht auch auch die LeserInnen sprachlos.
Das versierte, leichtfüßige Erzählen bis hin zum provozierten Lachen, das einer im Halse stecken bleibt, kann und will nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Roman von dem schier unmöglichen Unterfangen erzählt, im Israel der 50er und 60er Jahre die Fremdheit von Eltern und Kindern zu überwinden.
Er erzählt von Kindern, die als erste Generation nach dem Holocaust in Israel geboren wurden und die TäterInnen nie zu Gesicht bekommen haben, von Eltern, die vor dem Hintergrund von Verfolgung und Tod versuchen weiterzuleben als wäre nichts geschehen.
Er erzählt, dass die TäterInnen zwar aus ihrem Blickfeld verschwunden sind, aber alles andere eben auch. Dass die Auswirkungen und Folgen eines totalen Verlustes gewaltiger sind als das Neue, das daraus erwächst.

"´Was hat Gott von mir gewollt, dass er sie mir gegeben hat´, hörte ich sie noch auf Jiddisch vor sich hin murmeln.
Und von mir? Was hat er von mir gewollt? Fragte auch ich."


Was aber ist mit dem Vater von Alisa passiert? Die Auflösung ist ganz anders als die Vermutungen, die die LeserInnen im Verlauf der Geschichte anstellen. Der Vater war weder ein Deutscher noch ein Kapo. Die Tragik dieser Geschichte ist größer als das Leben selbst.

Zur Autorin: Lizzie Doron, geboren 1953, lebt in Tel Aviv. 2003 wurde ihr Roman "Ruhige Zeiten" mit dem von Yad Vashem vergebenen Buchman-Preis ausgezeichnet. 2007 erhielt sie für "Das Schweigen der Mutter" den Jeanette Schocken Preis - Bremerhavener Bürgerpreis für Literatur. In der Begründung der Jury hieß es: "Lizzie Doron ist eine israelische Schriftstellerin, die jenen eine Stimme gibt, die sie selber nicht erheben, die jenen Raum verschafft, den sie sich selber nicht nehmen könnten. Sie schreibt über Menschen, die von ´dort´ kommen, die den Holocaust überlebten und nun zu leben versuchen. In Israel. Fremd, schweigend, versehrt – und stets ihre Würde wahrend. Mit großer Behutsamkeit nähert die Autorin sich ihren Figuren und mit großem Respekt wahrt sie Distanz." (Quelle: Verlagsinformation)

AVIVA-Tipp: Keine andere Schriftstellerin vermag es, so präzise und dabei leicht über diesen ganz besonderen Generationenkonflikt zu erzählen.

Lizzie Doron
Das Schweigen meiner Mutter

Originaltitel: ve jom echad od nipagesch
Aus dem Hebräischen von Mirjam Pressler
Deutscher Taschenbuchverlag DTV, erschienen 2011
212 Seiten, Taschenbuch
14,90 Euro
ISBN 978-3-423-248952

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

"Es war einmal eine Familie", von Lizzie Doron aus 2009.

"Der Anfang von etwas Schönem" von Lizzie Doron aus 2007.

"Ruhige Zeiten" von Lizzie Doron aus 2005.



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Beitrag vom 18.10.2011

AVIVA-Redaktion