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Beitrag vom 29.12.2011
Robert Bober - Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen
Sigrid Brinkmann
Der Titel seines neuen Romans ist einem Gedicht von Paul Reverdy entlehnt. Das Buch, sagt Bober, der erst mit 62 Jahren Prosa zu schreiben begann, hätte auch "Begegnungen" heißen können.
Wenn Robert Bober aus den Fenstern seiner großen Wohnung im 11. Pariser Arrondissement schaut, blickt er auf kleine Geschäfte und die Haltestelle der Buslinie 96. Mit ihr kann man die ganze Stadt diagonal von Nordwest nach Südost durchqueren. Manchmal steigt Bober in den 96er, doch noch immer durchstreift er lieber zu Fuß Gegenden, die er liebt: den Süden von Paris rund um die rue de la Butte aux Cailles, in die er als zweijähriges Kind zog, und das östliche Viertel Belleville, in dem sein früh verstorbener Freund, der Schriftsteller Georges Perec, aufwuchs. Das Spazierengehen ist eine alte Leidenschaft. Er kennt jede Straße in Paris, und hinter den neuen Hausfassaden sieht er die alten durchschimmern. Paris ist für ihn über die Jahrzehnte hinweg zu einem "durchsichtigen Gewebe" geworden. Er zitiert einen Vers von Baudelaire, "Die Form einer Stadt wandelt sich schneller als das Herz eines Menschen", und fügt hinzu: "Ich gehe auch in den Herzen der Menschen spazieren".
Der Titel seines neuen Romans "Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen" ist einem Gedicht von Paul Reverdy entlehnt. Das Buch, sagt Bober, der erst mit 62 Jahren Prosa zu schreiben begann, hätte auch "Begegnungen" heißen können. Sein Held ist "disponibel", also offen und bereit für Treffen, bei denen Weichen gestellt werden, die ungeahnte Türen öffnen. Immer begegnet man in Bobers Büchern auch ihm selbst. In seinem Debütroman "Was gibt´s Neues vom Krieg" tritt er uns als Schneiderlehrling Maurice Abramowicz entgegen. Unweit seiner heutigen Wohnung, zwischen République und Bastille, im einstigen Schmattes-Viertel, hat Bober bis 1953 als Zuschneider und Näher gearbeitet. Er teilt die Erfahrungen seines Helden Joseph Berg, der in einer Ferienkolonie für jüdische Waisenkinder arbeitet und Jugendliche für Jazz-Musik, die Marx-Brothers, das Rollschuhfahren und die Tour de France begeistert. Und er gleicht haargenau der Figur Robert, die Paris durchkreuzt, um Drehorte für Francois Truffaut ausfindig zu machen.
1961 assistierte Bober Truffaut bei den Filmaufnahmen für "Jules und Jim". Fast vierzig Jahre später erzählt er nun die "jiddische Variante" der Kult gewordenen Liebesgeschichte. Sie ist zugleich eine große Hommage an das Paris der sechziger Jahre - melancholisch gefärbt, aber keineswegs eine nostalgische Beschwörung von Orten, Klängen und Bildern, die den jungen Bober ästhetisch prägten.
Die Wände in Robert Bobers Arbeitszimmer sind mit schwarz-weiß- Fotografien überzogen: Aufnahmen vom Schuhmachergeschäft seines Vaters und dem Lädchen der Mutter, die nebenan Korsagen und Büstenhalter nähte, Ansichten der rue Vilin, in der Perec zuhause war und über die Bober einen Film drehte, er selbst neben Jeanne Moreau und Oscar Werner bei den Dreharbeiten zu "Jules und Jim" und Familienfotos. Eines, datiert 1928, ist besonders kostbar. Es zeigt den Urgroßvater inmitten seiner Kinder, Enkel und Neffen. 1903 hatte er Polen verlassen, um über Wien nach Amerika auszuwandern. Sogar den Bart hatte er abnehmen lassen, um bei den Einwanderungsbehörden auf Ellis Island nicht als frommer Jude Auffallen zu erregen. Das Gesuch wurde abgewiesen. Er kehrte nach Wien zurück, ließ den Bart wieder wachsen und verdiente den Lebensunterhalt mit handgefertigten Leuchtern. Der Urenkel Robert, 1931 in Berlin geboren, flog 1979 nach New York, um einen Dokumentarfilm über Ellis Island, den größten Einwanderungshafen der USA zu drehen. Dort, angefüllt mit Geschichten über Diaspora und Exil, begann in ihm etwas zu wirken, für das er so schnell noch keine Form finden sollte. Er habe, sagt Bober, ein ganzes Leben gebraucht, um zu verstehen, warum er sich von jeher zu der Literatur von Arthur Schnitzler, Hugo von Hoffmannsthal, Stefan Zweig und Joseph Roth hingezogen fühlte. Der Urgroßvater und die Schriftsteller gehörten zur gleichen Generation. Nur, dass sein Vorfahr nicht lesen konnte. Bober arbeitet an einem Film, der den illiteraten Ahnen ein Denkmal setzt.
Auch von Madame Rayda hat der Filmemacher und Autor in seinem Zimmer eine kleine Fotografie aufgehängt. Ein dicker Pelzkragen schmückt den Hals der Wahrsagerin, die aus dem Fenster ihrer Wohnung in der rue Vilin lehnt und neugierig auf die Straße blickt. Auf einer Spanplatte am aufgeklappten Fensterladen hat sie in Schönschrift ihre Gaben aufgelistet: Hand- und Tintenflecklesen, Großes chaldäisches Tarock, Hellsehen nach Foto und brieflich, Wiedergewinnung von Zuneigung. Madame Rayda wurde in Bobers jüngstem Buch verewigt. Manchmal hat der 80-jährige das Gefühl, er müsse etwas gut machen, weil er allzu lange achtlos an einem Ort vorbeigelaufen ist. Es kommt ihm heute so vor, als ob Orte auf einen Ruf antworten. Robert Bober ist ein Sucher, der "der Nase nach" läuft, Türen aufstößt, späht und dabei gelegentlich auf Leute stößt, die sich unumwunden zu ihrem Laster bekennen - Geschichten zu mögen.
AVIVA-Tipp: Es sind Geschichten aus erster Hand von Leuten, die behaupten, alles selbst erlebt zu haben. Solche Zufallsbekanntschaften versprechen immer einen glücklichen Tag. Dem menschenfreundlichen und unermüdlichen Sammler von Geschichten verdanken wir wunderbar in Sprache und Bild verdichtete Augenblicksmomente. Möge er noch lange ein "unverbesserlicher" Spaziergänger bleiben.
Zum Autor: Robert Bober, geboren 1931 in Berlin, emigrierte 1933 mit seiner Familie nach Frankreich. Er arbeitete als Schneider, Töpfer, Erzieher, wurde Assistent von François Truffaut und drehte über 100 eigene Dokumentarfilme. In Deutschland wurde Robert Bober mit seinen Büchern "Was gibt´s Neues vom Krieg" (1995) und "Berg und Beck" (2000) bekannt.
Robert Bober
Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen
Originaltitel: On ne puet plus dormir tranquille quand on a une fois ouvert les yeux
Aus dem Französischen von Tobias Scheffel
Antje Kunstmann Verlag, erschienen 2011
284 Seiten, gebunden
19,90 Euro
Dieser Beitrag wurde uns von der Journalistin Sigrid Brinkmann freundlicherweise zur Verfügung gestellt. Erstmalig ist die Rezension im November 2011 in der Jüdischen Allgemeinen Wochenzeitung erschienen.
Lesen/hören Sie auch den Radiobeitrag von Sigrid Brinkmann auf Deutschlandradio Kultur:
www.dradio.de