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AVIVA-BERLIN.de im März 2024 - Beitrag vom 02.04.2018


Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff
Bärbel Gerdes

Die beiden langjährigen Arendt-Forscherinnen Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz haben einen weiteren Band mit Briefen von und an Hannah Arendt herausgegeben. Diesmal geht es um fünf Freundinnen, denen Arendt auf unterschiedliche Art nahe stand: Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff




Ihr Leben zeigt es: Hannah Arendt war eine Frau, der Freundschaften unendlich wichtig waren, um die sie kämpfte und an denen sie verzweifelte, wenn sie auseinanderbrachen, wie die zu Gershom. Für sie galt immer, dass es Wahrheit nur zu zweien gibt, wie ein weiterer Band, mit Briefen an Freunde, ebenfalls herausgegeben von Ingeborg Nordmann, betitelt ist.

Ihre Briefe an die Freundinnen richten sich an Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff. Die Art dieser Freundschaften war durchaus unterschiedlich. Während Helen Wolff vor allem Verlegerfreundin war, war die Journalistin und Publizistin Charlotte Beradt vor allem Übersetzerin einiger Arendt-Essays. Zudem war sie für einige Zeit die Geliebte Heinrich Blüchers, des Ehemanns von Arendt. Rose Feitelson wiederum unterstützte Arendt bei der englischsprachigen Fassung von The Origins of Totalitarianism and Human Condition

Ihre sicherlich wichtigsten Freundinnen waren, neben Mary McCarthy, für deren Briefwechsel ein eigener Band vorliegt ("Im Vertrauen", 1995), Anne Weil und Hilde Fränkel.
"Annchen, meine Freundin seit ich 14 Jahre alt bin", so Arendt, lernte sie in Königsberg kennen und ließ sie zeitlebens nicht aus den Augen. Wie ein warmes Tuch über den Schultern, sei diese Freundschaft, so Arendt, auch wenn Anne Weil sich nie ganz riskiere. Die Erwartungen an diese Verbindung differierten durchaus, denn während Weil darauf besteht "dass wir eins sind, lebt Arendt Freundschaften ja gerade nicht aus der Verschmelzung zweier Ichs, wie es in der Einführung zur jüdischen Jugendfreundin heißt. Weil hingegen schreibt an Arendt. "Ich hoffe, du bist dir einigermaßen darüber im Klaren, dass diese Art von Identität und ihre Unfraglichkeit für mich ziemlich wichtig ist – irgendwas muss ja schließlich unfraglich sein."

Martin Heidegger steht Anne Weil mehr als skeptisch gegenüber. "Weißt Du, dass Heidegger mit allen Mitteln versucht, sich jetzt als alten Antinazi darzustellen?", fragt sie die Freundin im Dezember 1945. Arendt will Heidegger trotzdem treffen, "obwohl mich das beruflich Kopf und Kragen kosten kann", wie sie Hilde Fränkel schreibt. Weil reagiert entsprechend kühl auf die Wiederbegegnung des Philosophen mit Arendt: "Hoffentlich bekommst du keinen Ärger, aber wenn ja, lohnt es, scheint mir."
Später berichtet Arendt über einen dieser Heidegger-Besuche: "Mit der Frau [der antisemitischen Elfriede Heidegger] habe ich mich schließlich aufs Beste geeinigt und auch sonst vorläufig mal eben alles in Ordnung gebracht."

Doch was Anne Weil ihr auch ist – eine größere Nähe, ja, Intimität verbindet Arendt mit Hilde Fränkel. Zu ihr fühlt sie sich hingezogen, weil sie gerade keine Intellektuelle ist, und nennt sie "erotisch genial veranlagt"

"Annchen – nein Hilde, was Du bist, wird sie nie sein können, weil wir uns auf einer Ebene nahe sind, die sie, fürchte ich, nicht kennt."

Die Freundschaft mit Hilde Fränkel dauerte nur wenige Jahre – und wenig ist über diese Frau bekannt, die Hannah Arendt in den dreißiger Jahren an der Frankfurter Universität am Institut für Sozialforschung kennenlernte. Vermutlich emigrierte sie Anfang 1940 nach New York. Fränkel arbeitete für Paul Tillich und wurde seine Geliebte. Es handelt sich um jenen protestantischen Dogmatiker und Religionsphilosophen, den Mary Daly in ihrem bahnbrechenden Buch Gyn/Ökologie – die Metaethik des radikalen Feminismus als widerlichen Pornokonsumenten enttarnte, der sich daran aufgeilte, nackte junge Frauen an Kreuzen zu betrachten.
Der Briefwechsel der beiden Frauen kam durch lange Europareisen Arendts zustande. Aus ihnen spricht eine sehr tiefe Verbundenheit. "Ich kann dir schlecht sagen, wieviel ich dir verdanke, nicht nur an Aufgelockertheit, welche aus der Intimität mit einer Frau, so wie ich sie nie gekannt habe, kommt, sondern an unverlierbarem Glück der Nähe. […] und wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen, wegen unvorstellbarer Verarmung, so als sei man dann in wichtigsten Dingen plötzlich zum Schweigen verdammt, nachdem man gerade erst Reden gelernt hat."
Jede der Briefpartnerinnen wird ausführlich von den beiden Herausgeberinnen vorgestellt, so auch Hilde Fränkel. Diese geraten zuweilen ärgerlich akademisch, besonders in diesem Fall. Die tiefe Zuneigung der beiden Frauen wird so verklausuliert, als ob nicht sein könnte, was nicht sein darf: eine wie auch immer gelebte Liebe zweier Frauen. Bei Ludz und Nordmann klingt das so: "In dieser gegenseitigen Vertiefung von Emotionalität und Poesie werden die Gegebenheiten der Sensibilität übertroffen und neue unvergessliche Wirklichkeiten entworfen, die wir auch in Arendts Briefen an Blücher nicht finden."

Schockierend jedoch ist beider Sicht auf ihre jeweiligen Partner, denn beide stützen das Unglück der anderen. Dass Hannah Arendt, wenn Blücher sich wochenlang nicht meldet, zumute ist, dass sie "wie ein verlorengegangenes Rad am Wagen" herumsaust, "ohne jegliche Verbindung mit einem Zuhause, mit etwas, worauf Verlaß ist", ist schnell vergessen, wenn ihr Mann endlich doch schreibt.
Schrecklich hingegen ihre Reaktion auf Tillich. Die an Lungenkrebs schwer erkrankte und nur wenige Monate zu lebende Fränkel arbeitet weiter an seinen Manuskripten. Er hingegen versetzt sie ständig oder besucht sie überhaupt nicht. In ihren Briefen drückt Fränkel ihre tiefe Verletztheit und ihre vollkommene Fassungslosigkeit darüber aus, worauf Arendt beschwichtigt: "Ja, die Männer sind eine ziemlich lästige Bagage, nur kommt man halt ohne sie doch nicht aus." Oder: "Ich glaube, ich weiß, wie dir zumute ist, aber auch, dass der Deinige Angst hat und in Szenen, die wohl unausweichlich wären, wenn er die Feiertage nicht zu Hause verbringt, nicht leben kann. Das kann übrigens niemand, und jede Frau hat es leicht, damit alles zu erzwingen".
Als Hannah Arendt für weitere Besuche bei Heidegger ihren Europaaufenthalt verlängert, schreibt Fränkel: "Um keine Frau der Welt gibt man das Zusammensein mit einem Mann auf, auch um mich nicht."

AVIVA-Tipp: Der Briefwechsel mit den Freundinnen gibt einen weiteren Einblick in das Leben und Denken Hannah Arendts. Noch einmal wird deutlich, wie lebenswichtig Arendt Freundschaften waren.

Zu Hannah Arendt: Die Publizistin und politische Theoretikerin Hannah Arendt wurde am 14. Oktober 1906 in Linden bei Hannover geboren, studierte Philosophie, Theologie und Griechisch unter anderem bei Heidegger und Jaspers. Als Jüdin von den Nazis verfolgt, verließ sie Deutschland 1933. Über Paris emigrierte sie nach Amerika, wurde von den Nazis ausgebürgert und war ab 1937 staatenlos, bis sie 1951 die amerikanische Staatsbürgerschaft erhielt. Hannah Arendt arbeitete als freie Autorin ab 1963 Professorin für Politische Theorie in Chicago, ab 1967 an der New School for Social Research in New York. Ihre wichtigsten Werke sind: "Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft", "Menschen in finsteren Zeiten", "Eichmann in Jerusalem. Ein Bericht von der Banalität des Bösen.", "Vita Activa" und "Rahel Varnhagen".
Hannah Arendt starb am 4. Dezember 1975 in New York.

Mehr Infos zu Hannah Arendt:

Hannah Arendts Beiträge im Archiv des "New Yorker" unter:

www.newyorker.com

archives.newyorker.com

Ein Interview mit Hannah Arendt aus den 1960er Jahren:

www.youtube.com

Zu den Herausgeberinnen:
Ingeborg Nordmann
ist promovierte Literaturwissenschaftlerin und seit vielen Jahren in der Hannah-Arendt-Forschung tätig.
Ursula Ludz ist Diplomsoziologin und seit 1980 Herausgeberin und Ãœbersetzerin des Werkes von Hannah Arendt.

Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff
Herausgegeben von Ingeborg Nordmann und Ursula Ludz
Piper-Verlag, erschienen 1.12.2017
688 Seiten, gebunden mit Schutzumschlag
ISBN 978-3-492-05858-2
38,00 Euro
Mehr Infos zum Buch "Hannah Arendt: Wie ich einmal ohne Dich leben soll, mag ich mir nicht vorstellen. Briefwechsel mit den Freundinnen Charlotte Beradt, Rose Feitelson, Hilde Fränkel, Anne Weil und Helen Wolff": www.piper.de

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

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