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Beitrag vom 23.12.2017
Manal al-Sharif - Losfahren. Eine autobiografische Erzählung
Doris Hermanns
Ihr Video, das sie beim für Frauen verbotenen Autofahren in Saudi-Arabien zeigt, ging um die Welt. Seit August 2017 liegt die beeindruckende Autobiografie von Manal al-Sharif, der ersten saudischen IT-Expertin für Datensicherheit eine der ersten Frauen Saudi-Arabiens, die gemeinsam mit Männern in einem Büro der staatlichen Ölfirma Aramco arbeitete, im Secession Verlag auch auf Deutsch vor.
Autofahren in Saudi-Arabien ist Frauen nicht gesetzlich verboten. Dass wir dies denken, die wir wenig von dem Land wissen, ist nicht weiter erstaunlich – aber auch Frauen wie Manal al-Sharif mussten dies erst einmal erfahren. Es gilt "nur" als Vergehen gegen den "Urf", den nicht schriftlich festgehaltenen herrschenden Verhaltenskodex, d.h. gegen saudische Sitten. So gab es dann auch keinen offiziellen Haftbefehl gegen sie, als sie von der Geheimpolizei verhaftet und ins Gefängnis gebracht wurde. Diese hat eine wichtige Funktion in der Gesellschaft: "Er trug Zivilkleidung, wie die anderen auch. Das, so weiß man, ist das Markenzeichen der Geheimpolizei. Sie trägt keine Uniform. Sie gibt sich nicht einmal als Polizei zu erkennen. Ihre Mitglieder haben andere Berufe, andere Identitäten. Doch sie sind in allen Teilen der Gesellschaft gegenwärtig. Ihre einzige Aufgabe besteht darin, Informationen zu sammeln und weiterzureichen. Sie sind Angestellte des Staates, um Bürger zu überwachen und die Einhaltung von Regeln zu garantieren."
Ausführlich beschreibt Manal al-Sharif, was es bedeutet, dass Frauen nicht Autofahren dürfen: Im Wesentlichen sind sie der Willkür von Männern ausgeliefert. Ohne sie können sie kaum irgendwohin gelangen, immer sind sie auf männliche Familienangehörige angewiesen oder auf private Chauffeure, von denen manche nicht mal eine Fahrerlaubnis haben oder Fahrstunden hatten, und die sich viele ohnehin nicht leisten können. Zudem werden viele Frauen von ihren Fahrern belästigt. Al-Sharif zeigt auf, wie absurd diese Situation ist: Selbst bei Unfällen oder Notfällen bei Krankheiten dürfen sie keine Hilfe leisten, um die Verletzten mit einem Auto ins Krankenhaus zu bringen: "Es ist nicht übertrieben zu sagen, dass der Tod hinnehmbarer ist als eine Verletzung der strikten Vormundschaftsregeln."
Aufgewachsen ist Manal al-Sharif als religiöses Mädchen, sie glaubte an eine sehr fundamentalistische Auslegung des Islams – eine andere kannte sie nicht. Eine wichtige Rolle in ihrem Leben spielte ihre Mutter, eine Libyerin, die in Ägypten aufgewachsen ist. Sie lehnte es nicht nur strikt ab, dass ihre Kinder – wie im Land üblich – bei der Hausarbeit helfen mussten, sondern sorgte auch dafür, dass ihre drei Kinder eine Ausbildung erhielten und einen unabhängigen Beruf ergreifen konnten und zwar bevor ihre Töchter heirateten. So wurde Manal al-Sharif die erste saudische IT-Expertin, ihre Schwester wurde Ärztin und ihr Bruder Erdöl-Geologe.
Während ihres Informatik-Studiums hatte Manal al-Sharif durch den Zugang zum Internet erstmals die Möglichkeit, internationale Nachrichten wahrzunehmen. Erst dadurch gelang es ihr, die salafistische Ideologie, mit der sie aufgewachsen war, in Frage zu stellen. Und sie stellte fest, dass sie in sozialen Netzwerken eine Stimme hatte, was für sie in einem Land, in dem Frauen so gut wie nie gehört werden, weitgehend rechtlos sind und für jeden Behördengang die Erlaubnis ihres Vormunds oder eines männlichen Aufpassers benötigen, eine wichtige Erkenntnis war.
Aber Manal al-Sharif erzählt in ihrem Buch nicht nur ihre persönliche Geschichte, sondern auch die des Landes in den letzten Jahrzehnten. Ausführlich geht sie dabei auch auf die Entstehung des Salafismus ein, der nicht nur als Grundlage für saudische Schulen im Unterricht galt, sondern über MissionarInnen in der ganzen Welt verbreitet wurde. Die Schulen für Mädchen bezeichnet al-Sharif dabei als "Haftanstalten" und als "Domäne islamistischer Theologen".
Nach ihrem Studium hatte Manal al-Sharif eine Stelle bei Aramco, einer großen Ölfirma, in einer Art westlichen Enklave im Land. Von da aus war es ihr möglich, an einem Austauschprogramm in den USA teilzunehmen. Dort erlebte sie, was es bedeutete, wenn sie alles selber erledigen konnte, für das sie in Saudi-Arabien die Erlaubnis ihres Vaters gebraucht hätte. Auch ihren Führerschein konnte sie ohne Zustimmung machen. Als sie 2011 wieder in ihre Heimat zurückging, wollte sie weiterhin Autofahren. Aber dies war ihr ausschließlich auf dem Firmengelände erlaubt.
Die jahrzehntelange Geschichte des Protests der Frauen in Saudi Arabien (dem einzigen Land weltweit, in dem Frauen nicht Autofahren dürfen), die sich gegen das Fahrverbot engagierten, ging auch durch die westliche Presse, nicht zuletzt durch das Video, das Manal al-Sharif hinter dem Steuer zeigt. Dieses Verbot soll nun laut eines Dekrets des Königs ab Juni 2018 aufgehoben werden. Andere Einschränkungen von Frauen werden jedoch weiterhin bestehen bleiben.
Wie sehr westlichen LeserInnen ein ausschließlich negatives Bild des Lebens mit dem Islam vermittelt werden soll, erzählte die Autorin bei einer Lesung in Berlin. Vieles, was sie an Positivem über ihre Kindheit geschrieben hatte, wurde von ihrem US-amerikanischen Verlag, in dem die Originalausgabe erschien, gestrichen. Dass Menschen, die mit diesem Glauben aufwachsen, auch positive Erlebnisse haben können, scheint für manche nach wie vor undenkbar. Wir brauchen noch mehr authentische Berichte von Frauen aus diesen Ländern, um uns auch nur ansatzweise ein Bild von deren Leben machen zu können.
AVIVA-Tipp: Eine beeindruckende Lebensgeschichte, die weit über das persönliche Leben der Autorin hinausgeht. So bietet das Buch auch einen tiefen Einblick in das Alltagsleben saudischer Frauen. Ausgehend vom Fahrverbot für Frauen und der Inhaftierung der Autorin macht es deutlich, wie viel es für Frauen in Saudi Arabien noch zu erstreiten gibt. Aber wie sie schreibt: "Der Regen beginnt mit einem einzigen Tropfen."
Zur Autorin: Manal al-Sharif (geboren 1979 in Mekka, Saudi-Arabien) war die erste saudische IT-Expertin für Datensicherheit und arbeitete als eine der ersten Frauen Saudi-Arabiens gemeinsam mit Männern in einem Büro der staatlichen Ölfirma Aramco. Der öffentliche Protest gegen das Fahrverbot für Frauen und das weltweite Echo darauf brachte ihr im eigenen Land Anfeindungen bis hin zu Morddrohungen ein. Sie gab ihre Stelle auf und zog nach Dubai. Seit 2017 lebt sie mit ihrem zweiten Ehemann, einem Brasilianer, in Australien und hat mit ihm einen Sohn. Ihren ersten Sohn musste sie nach der Scheidung beim Vater in Saudi-Arabien zurücklassen und darf ihn nur nach behördlicher Genehmigung besuchen. Ihre beiden Kinder haben sich noch nicht kennenlernen dürfen, da ihrem zweiten Sohn die Einreise nach Saudi-Arabien verwehrt wird, denn er besitzt keine saudische Staatsangehörigkeit.
Losfahren ist ihr erstes Buch. Für ihr Engagement für Frauenrechte erhielt sie zahlreiche Auszeichnungen, darunter den Václav Havel International Prize for Creative Dissent des Oslo Freedom Forum.
Das Time Magazine zählte sie zu den 100 einflussreichsten Persönlichkeiten der Welt, Foreign Policy zu den 100 Global Thinkers, Forbes zu den 10 Women Who (Briefly) Rocked 2011.
Interviews mit Manal al-Sharif finden Sie unter:
Auf youtube: www.youtube.com
Auf "ttt – titel thesen temperamente": www.daserste.de
Im Amnesty Journal: www.amnesty.de
Eine Biografie von Manal al-Sharif auf FemBio: www.fembio.org
Zur Übersetzerin: Gesine Strempel, 1940 in Berlin geboren, ist Autorin, Moderatorin, Reporterin und Übersetzerin. 1959-1966: Studium der Publizistik, Amerikanistik, Theaterwissenschaften und Kunstgeschichte. Ab 1967 hat sie die frauenpolitische Sendung Zeitpunkte beim SFB sowie die feministische Zeitschrift Frauen und Film mitinitiiert und gestaltet und war Mitglied der Frauengruppe Brot und Rosen. Seit 1975 arbeitet sie als Übersetzerin für amerikanische Literatur (u.a. M. French, T.G. Atkinson, M. Atwood). 2006 war sie Preisträgerin der Hedwig-Dohm-Urkunde des Journalistinnenbunds e. V.
Mehr Infos unter: www.journalistinnen.de
Manal al-Sharif
Losfahren
Eine autobiografische Erzählung
Originaltitel: Daring to Drive: A Saudi Woman´s Awakening
Aus dem Englischen von Gesine Strempel unter Mitarbeit von Joachim von Zeppelin
Secession Verlag, erschienen im August 2017
Gebunden, ohne Schutzumschlag. 379 Seiten
ISBN 978-3-906910-10-9
Euro 25,00
Mehr zum Buch: secession-verlag.com
Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:
Das Mädchen Wadjda - Ein Film von Haifaa Al Mansour. Ab 20.03.2014 auf DVD und Blu-ray
Die Geschichte der zehnjährigen Rebellin ist nicht nur das erste von einer Frau in Saudi-Arabien realisierte, sondern auch das erste vollständig im Land gedrehte Filmprojekt überhaupt. Die Regisseurin entwirft eine ebenso humorvolle wie traurige Geschichte über Widerstand, Hoffnung und Veränderung. (2014)
Copyright Foto von Manal al-Sharif: Doris Hermanns