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AVIVA-BERLIN.de im November 2024 - Beitrag vom 23.02.2022


Die Fotografinnen Nini und Carry Hess
Juna Grossmann

Mit der Veröffentlichung des Bildbands über die Frankfurter Schwestern Nini und Carry Hess werden zwei jüdische Fotografinnen der Weimarer Republik gewürdigt, deren Leben und Erfolg von den Nationalsozialisten zerstört wurden. Ausstellung und Bildband stellen deren Biographien und Werk vor. Eine Buchbetrachtung von Juna Grossmann auf ihrem Blog "irgendwiejuedisch.com".




Die Fotografinnen Nini und Carry Hess

Sie starb im Urlaub. Hinter ihr lag ein demütigender jahrelanger Kampf um etwas Lebenswürde, um eine Rente, um etwas symbolische Wiedergutmachung für das, was man ihr raubte: ihre Schwester, Ihre Mutter, ihr Geschäft, ihre Leidenschaft. Was blieb von ihrem alten Leben war im wahrsten Sinne nur ihr Leben. Eine kleine Mansarde hat sich Carry in Paris von der letztlich erkämpften Zahlung gekauft, die nun monatliche Rente ermöglichte ihr endlich ein Leben, ohne Sorge um die täglichen Dinge. Zehn Jahre Kampf um etwas, was doch ihr Recht sein sollte. Es war der erste Urlaub, den sie sich erlaubte. Hier in der Schweiz wollte sie Ruhe finden, sich von all dem Kämpfen, den Demütigungen erholen, sie fand sie für immer.

Das Studio Hess in Frankfurt/ Main

In den letzten Jahren ist sie oft nach Frankfurt zurückgekehrt, um um all diese Dinge zu kämpfen, um ein würdiges Leben zu bekommen. Man erkannte sie dort, man umarmte sie auf der Straße. Sie war eine Berühmtheit – in Frankfurt. Sonst war sie vergessen, wie auch ihre Schwester, ermordet von den Nationalsozialisten, vergessen war. Die Schwester, mit der sie berühmt wurde, die Schwester, mit der sie arbeitete und ihr Studio betrieb: das Studio Hess. Nini und Carry Hess. Die Schwestern hatten dort alles vor der Linse, was Rang und Namen hatte, sie reisten mit der Kamera zu Aufträgen durch Deutschland. Ihre Bilder wurden zu Ikonen, ihr Name wurde (fast) vergessen. Bis jetzt.

Buch und Ausstellung

Als Begleitband geplant für eine Ausstellung im Museum Giersch der Goethe-Universität, die 2021 nicht gezeigt werden konnte, erschien das umfangreiche Werk "Die Fotografinnen Nini und Cary Hess" im Hirmer Verlag. Es ist ein Buch, in dem man versinken kann, in dem ich immer wieder Fotografien erkannte und verstand, wie wir die Fotografien, Bilder von Menschen kennen, selten die Namen der Machenden, erst recht nicht, wenn es Frauen waren (und sind). Als Berlinerin ist es das Bild von Claire Waldoff, das zuerst diesen Effekt hatte, aber auch das der Fechterin Helene Mayer und das Thomas Manns. Sie alle sind versammelt im Buch und blicken die Lesenden an, wie sie die Schwestern Hess einst ansahen. Eine gute Mischung aus informativen Essays, die eher leise in den Hintergrund treten und den kraftvollen Bildern, die die Machenden aus vielen Archiven und Sammlungen des Landes zusammentrugen, machen das Buch zu etwas sehr Besonderem. Nur sehr unterschwellig begreift man, welche Arbeit diese Ausstellung, dieses Buch gewesen sein muss.

Ausstellung ohne Archiv oder Nachlass

Kein geordnetes Archiv von Negativen und Glasplatten, keinen Nachlass gab es. Alle Arbeit, alle Originale wurden durch die Nazis zerstört, als mit dem Atelier an der Börsenstraße die Geschichte und Arbeit des Studios vernichtet werden sollte. Alle wertvollen Kameras, selbst jene im Tresor fielen dem Hass zum Opfer und damit auch die Zukunft für eine Auswanderung. Wie sollte man all das je wieder anschaffen können, ohne Ersparnisse?

Auswanderung und Deportation

Carry war zu dieser Zeit bereits in Paris und versuchte, für sie und ihre Schwester ein Leben aufzubauen. Als es allmählich gelang, besetzten die Deutschen Frankreich und Carry wurde nach Gurs deportiert. Der Weg nach draußen war für Nini und die Mutter zu dieser Zeit bereits abgeschnitten. Sie wurden wie zu viele Frankfurter Jüdinnen und Juden über die Großmarkthalle deportiert, an beide erinnern heute Namenstafeln in der Gedenkstätte Börneplatz

Theaterfotografie und HaBima

Doch noch mehr lernt man mit diesem Buch: die Geschichte der Fotografie, natürlich. Beide fotografierten viele Schauspielerinnen und Schauspieler, denn sie waren es, die gute Fotografien brauchten, Fotografien die anders waren. Die Schwestern fotografierten in Theatern, wurden engagiert, publizierten und setzen auch der Gruppe "HaBima" mit ihren Fotografien ein Denkmal und damit auch mit diesem Buch, das sich ganz dem jüdischen Theater – auf Hebräisch – widmete. HaBima hat heute wieder Nachfolger und Nachfolgerinnen, doch werden die an den einstigen Erfolg anknüpfen können? Menschen mit einer Theaterleidenschaft sollten in jedem Fall einen Blick ins Buch werfen.

Fazit

Das Buch schafft zwei Dinge und ist mehr als ein reiner Ausstellungskatalog. Es kann für den Moment die Ausstellung ersetzen, die nun ab 11. März 2022 gezeigt werden soll, es sammelt vor allem aber all das zusammen und lehrt, wie schnell Menschen und Namen vergessen wurden, wie schnell Leben zerstört wurden und dass man ihnen, wenn auch viel zu spät, die Aufmerksamkeit und Achtung zurückgeben kann, die sie verdienten. Nini und Carry Hess haben durch ihren eigenen Stil und ihre Porträts Maßstäbe gesetzt, nicht nur im Rückblick. Sie sind ein Teil des neuen Selbstverständnisses von Weiblichkeit. Ihre Fähigkeiten wurden in der Welt der Porträtfotografie schon zu ihren Lebzeiten hervorgehoben und gewürdigt, bevor die Nazis ihr Lebenswerk zu zerstören suchten und es fast schafften. Allein durch den Erfolg der Fotografinnen, haben wir das Glück, so viel ihrer Arbeiten noch immer sehen zu können, wenn auch ein Großteil für immer vernichtet ist. Wir können eine Ahnung davon erlangen, was Porträtfotografie bedeutete, bevor es Selfiefluten gab, was ein gutes Porträt bedeuten konnte für die Karriere eines Menschen – und was es eigentlich noch immer tut. Wir vergessen es vielleicht zu oft. Ein Bild soll den Menschen zeigen, mehr als nur sein Abbild.

Und vielleicht ist es gut, dass die Ausstellung 2021 nicht gezeigt werden konnte, vielleicht wäre sie untergegangen in 1700-Jahre-Feierlichkeiten. Frauengeschichten wie die von Nini und Carry Hess verdienen mehr Aufmerksamkeit als durch ein Jubeljahr hervorgerufen. Ihre Geschichten sollen unabhängig erzählt werden. Dazu besteht nun die Chance.

Die Fotografinnen Nini und Carry Hess
Hg. Eckhardt Köhn, Susanne Wartenberg

im Auftrag des Museum Giersch der Goethe-Universität
Beiträge von K. Bomhoff, H. Drummer, R. Jaeger, E. Köhn, M. Szwast
Hirmer Verlag, erschienen 2021
256 Seiten, 247 Abbildungen in Farbe
22 x 28,5 cm, gebunden
ISBN: 978-3-7774-3696-8
€ 39,90 (D)
Mehr zum Buch: www.hirmerverlag.de

Mehr zur Ausstellung
Museum Giersch der Goethe-Universität
11. März - bis 22. Mai 2022

Schaumainkai 83, 60596 Frankfurt am Main
www.museum-giersch.de

Diese Rezension ist zuerst erschienen am 18. Januar 2022 – 16 Shevat 5782 auf dem Blog von Juna Grossmann "irgendwiejuedisch.com" und wurde uns von ihr für die Veröffentlichung auf AVIVA-Berlin zur Verfügung gestellt.

Weiterlesen auf AVIVA-Berlin:

Germaine Krull – Fotografien. Ausstellung vom 15. Oktober 2015 bis 31. Januar 2016. Der Katalog erschien im Hatje Cantz Verlag
Zusammen mit dem Jeu de Paume, Paris, widmet ihr der Martin-Gropius-Bau eine umfassende Werkschau. Die kosmopolitische, unkonventionelle Fotografin gilt als Entdeckerin der Moderne, prägte einen neuen Typus technischer Fotografie, bewegte sich zwischen Surrealismus und Realismus, und war wie Margaret Bourke-White eine der ersten weiblichen Kriegsberichterstatter.

Margaret Bourke-White. Fotografien 1930-1945 Sie war in vielem die Erste: Die Pionierin des Fotojournalismus sah sich als "Auge ihrer Zeit". Sie war die erste Frau, die im 2. Weltkrieg auf amerikanischer Seite mitfliegen und -schwimmen durfte, die erste Frau, die Fotos von Stahlwerken, Generatoren, Maschinen und Material machte und als Industriefotografin Erfolg hatte. (2013)

Eva Besnyö
Der Bildband zur ersten deutschen Retrospektive der ungarisch-jüdischen Fotografin (1910-2003), die entscheidende Impulse aus dem Berlin der 30er Jahre in ihrem Schaffen verarbeitete. Fasziniert vom "Neuen Sehen" und der Diagonale erkundete sie hier ihre eigene Bildsprache, vor allem im regen Austausch mit der politischen Kunstszene. (2011)

Happy birthday, Lotte Jacobi
Am 17. August 2011 wäre die deutsch-amerikanische Fotografin Johanna Alexandra Jacobi, genannt Lotte Jacobi, 115 Jahre alt geworden. Im Jahr 1935 erreichte sie New York. Im Gepäck: Eine Rückfahrkarte, die sie erst 27 Jahre später einlösen wird. (2011)

Marianne Breslauer - Unbeobachtete Momente
"Interessiert hat mich nur die Realität, und zwar die unwichtige, die übersehene, von der großen Masse unbeachtete Realität". Die Berlinische Galerie zeigte bis zum 01. November 2010 eine Retrospektive zum Anlass des 100. Geburtstags der Fotografin.

UNBELICHTET. Münchner Fotografen im Exil
Die Begleitpublikation zur gleichnamigen Ausstellung des Jüdischen Museums München von Februar bis Mai 2010 stellt, neben einem erstmals erstellten bio-bibliografischen Lexikon aller jüdischen FotografInnen, die in München gelebt und gewirkt haben, die Arbeiten von drei Fotografen vor: Alfons Himmelreich, Efrem Ilani und Jakob Rosner. (2010)

Eine Frau mit Kamera - Liselotte Grschebina. Deutschland 1908 - Israel 1994
Der Martin-Gropius-Bau präsentierte vom 5. April bis zum 28. Juni 2009 die erste Retrospektive der Fotografin der Neuen Sachlichkeit, die 1934 nach Palästina emigrierte. Gezeigt wurden 100 Fotos aus dem Zeitraum zwischen 1929 und den 1960er Jahren.

Die Riess. Fotografisches Atelier und Salon 1918 bis 1932
Die Fotoausstellung vom 06.06. bis 20.10.2008 im Verborgenen Museum widmete sich der jüdischen Künstlerin Frieda Riess, die in den Zwanziger Jahren weit über Berlin hinaus für Portraits bedeutender Persönlichkeiten bekannt war.

Ruth Jacobi - Fotografien
Die Künstlerin stand, obwohl nicht weniger begabt, lange Zeit im Schatten ihrer bekannteren Schwester Lotte Jacobi (1896-1990). Daher hat das Jüdische Museum Berlin erstmalig eine großartige Auswahl ihrer Aufnahmen im Rahmen einer Ausstellung der Öffentlichkeit zugänglich gemacht, um auch deren fotografisches Talent zu würdigen. Das Begleitbuch zur Ausstellung zeigt nicht nur bemerkenswerte Fotografien, sondern gibt dank der Memoiren von Ruth Jacobi auch Einblick in ihren familiären Hintergrund, ihren Lebenslauf und in ihre Persönlichkeit. (2008)

Gisèle Freund. Photographien & Erinnerungen
Am 19. Dezember 2008 wäre sie 100 Jahre alt geworden. Die Fotografin und Fotoreporterin Gisèle Freund beeindruckt nicht nur durch ihr Œuvre, sondern auch durch ihre bewegte Lebensgeschichte. (2008)

Helen Levitt – Fotografien 1937-1991
Spielende Kinder, gelangweilte Erwachsene, ruhende Alte – jedes der Bilder Helen Levitts mutet an wie Poesie, dabei zeigen sie eigentlich nur den Alltag auf den ärmlichen Straßen New Yorks. (2008)

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Ellen Auerbach. Das dritte Auge
Aus Deutschland vertrieben, in Palästina keine Heimat gefunden und in die USA ausgewandert, befand sich die jüdische Fotografin stets auf der Suche. Heimat- und Orientierungslosigkeit prägten sie. (2007)

Changing New York 1935-1939 fotografiert von Berenice Abbott
Das ehrgeizige Projekt einer begabten und eigenwilligen Fotografin. Das Museum Ephraim-Palais zeigt bis zum 20. April 2004 eine Ausstellung aus dem Museum of the City of New York. (2004)


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Beitrag vom 23.02.2022

AVIVA-Redaktion