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Beitrag vom 17.03.2006
Mein Leben unter Serienmördern. Helen Morrison und Harold Goldbe
Sabine Grunwald
Die Realität ist schrecklicher als jede Fiktion. Eine Profilerin und forensische Psychologin berichtet von ihren spektakulärsten Fällen, denen sie im Laufe ihrer dreißigjährigen Karriere begegnete
Die forensische Psychologin Helen Morrison forscht auf einem relativ jungen Gebiet. Sie hat es sich zur Aufgabe gemacht, die Persönlichkeit von Serienmördern zu untersuchen. Seit mehr als 30 Jahren beschäftigt sie sich wissenschaftlich mit der Frage, was Serienmörder veranlasst zu töten.
Sind es traumatische Erfahrungen in der Kindheit, das soziale Umfeld, ein bestimmter Auslöser, eine Hirnschädigung oder ein genetischer Defekt, wodurch diese Menschen zu gewissenlosen Mördern werden? Ihre Ansichten und Ergebnisse haben wenig mit den gängigen Klischees zu tun, mit denen wir durch entsprechende Filme wie beispielsweise „Das Schweigen der Lämmer“ und Krimis vertraut sind.
Die Profilerin hat die Täter in den Hochsicherheitstrakten der Gefängnisse besucht, zahlreiche Gespräche dokumentiert, deren Tagebücher gelesen, Briefe mit ihnen gewechselt, die Angehörigen besucht, mit den Anwälten gesprochen und hunderte Fotos von Opfern studiert.
Die Wissenschaft hat sich in den letzten zwanzig Jahren auf dem Gebiet der DNA- und Genomforschung rasant entwickelt. Mit ihrer Hilfe ist es heute möglich, TäterInnen zu überführen, die frührer mangels Beweise nicht verurteilt werden konnten.
Hielt man in den siebziger Jahren Serienmörder noch für „gewöhnliche Massenmörder“ so fand Helen Morrison in ihrer langen Tätigkeit heraus, dass es eindeutige Unterschiede gibt. Während der Massenmörder eine bestimmte Persönlichkeitsstruktur aufweist ist eine solche bei einem Serienmörder nicht vorhanden. Ersterer befindet sich in einem paranoiden Zustand, zeichnet sich durch Misstrauen, Wut und Rachegedanken aus, seine Morde sind von Motiven getragen. Schießt er um sich, ist es sein Ziel, so viele Menschen wie möglich zu töten, er hat das Gefühl, es irgendjemandem heimzuzahlen. Oft fallen sie ihren Mitmenschen als verschroben, ungewöhnlich oder seltsam auf. Häufig sterben sie bei Gefechten mit der Polizei oder begehen Selbstmord, um der Verhaftung zu entgehen.
Meist wird die Gesellschaft für ihre Nöte verantwortlich gemacht.
Der Serienmörder hingegen gilt bei seinen NachbarInnen häufig als hilfsbereiter, netter Mensch. Er bringt sich niemals selbst um, bevor er gefasst wird. Selbst im Gefängnis begehen die wenigsten Selbstmord.
Helen Morrisons These: weder Gesellschaft, Erziehung, noch unfallbedingte Gehirnverletzungen tragen dazu bei. Sie ist davon überzeugt, dass ein Defekt in den Genen einen Menschen zum Serienmörder werden lässt.
Die Menschen sind eine anpassungsfähige Spezies, und ihre Widerstandskraft ist größer, als man meist glaubt. Die Art von Zusammenbrüchen, wie sie Serienmörder erleiden, sind eher untypisch. Menschen mögen von der Gesellschaft verletzt oder emotional verwundet sein, aber sie leben dennoch weiter, werden vielleicht sogar zu Vorstandsvorsitzenden großer Unternehmen oder haben einfach eine Familie, die weit stabiler ist als die Verhältnisse, aus denen sie selbst stammen.
Die auffälligsten Kennzeichen der Serienmörder ist die völlige Abwesenheit von sozialen oder psychischen Bindungen, in ihrem Gefühlsleben gleichen sie kleinen Kindern. Psychologisch sind sie keine vollständigen Menschen, auch wenn sie vieles nachahmen und verschiedene Rollen spielen können. Nicht alle sind sexuell missbraucht oder körperlich misshandelt worden. Sie sind keine Psychopathen, den diese haben die Kontrolle über das, was sie fühlen und denken. Auch sind sie nicht geistig behindert, in den meisten Fällen liegt ihre Intelligenz über dem Durchschnitt. Sie sind mordsüchtig und können ihr Verhalten nicht kontrollieren.
Bei einem „normalen“ Menschen entstehen Entscheidungen auf verschiedenen Ebenen des zentralen Nervensystems. Aufgrund früherer Erfahrungen und seiner zukünftigen Erwartungen wählt er bestimmte Handlungen aus. Bei einem Serienmörder erfolgt die Entscheidung erst dann, wenn die Handlung stattgefunden hat, ergo ist er sich des Prozesses, der zum Mord führt, in keiner Weise bewusst. Irgendwelche Schaltprozesse laufen in seinem Gehirn schief.
Ihre ersten Verbrechen begehen sie immer erst als junge Erwachsene, was darauf schließen lässt, dass dies an den chemischen und hormonellen Veränderungen liegt, die sich während der Pubertät im Gehirn abspielen.
Irgendwann…wird der Tag kommen, an dem wir mit Hilfe der DNA-Analyse feststellen können, ob wir einen Serienmörder unter uns haben - und das, bevor der Mörder überhaupt geboren wird.
AVIVA-Tipp: Keine Lektüre für schwache Nerven. Die grausamen Einzelheiten der Fallstudien werden jeder Leserin „unter die Haut“ gehen. Vor allem die Tatsache, dass es sich nicht um Fiktion, sondern um reale Verbrechen handelt ist unfassbar und traumatisch zugleich.
Zu den AutorInnen:
Helen Morrison ist forensische Psychologin und Autorin zahlreicher Fachpublikationen. Dank ihrer internationalen Vortragstätigkeit hat sie sich den Ruf einer Koryphäe auf ihrem Fachgebiet erworben. Sie lebt mit ihrem Mann und ihren beiden Söhnen in Chicago.
Harold Goldberg ist ein renommierter New Yorker Journalist, der für zahlreiche namhafte amerikanische Tageszeitungen und Magazine arbeitet.
Helen Morrison, Harold Goldberg
Mein Leben unter Serienmördern
Eine Profilerin erzählt
Goldmann Verlag München 2006
Gebunden 352 Seiten
ISBN 3-442-30108-4
19,95 Euro90008115&artiId=5203757"