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Beitrag vom 14.03.2006
Der feurige Engel. Von Liliana Ke
Sabine Grunwald
Nina Petrowskaja, die Muse und Femme fatale der russischen Dekadenz lebte in Peterburg. Nach Stationen in Rom und dem "russischen Berlin" der 20er Jahre, starb sie 1928 verarmt und einsam in Paris
Die siebzehnjährige Petersburgerin Nina Petrowskaja, Tochter eines kleinen russischen Beamten, heiratet 1896 den reichen Kaufmannssohn Sergej Sokolow.
Sie hatte zuvor die staatliche Grundschule und das den jungen Frauen aus allen sozialen Schichten zugängliche Mädchengymnasium besucht.
Hauslehrer oder Gouvernanten aus dem Ausland konnte sich die Familie nicht leisten. Aber bereits die Tatsache, dass auf die Ausbildung der Tochter Wert gelegt wurde, war bemerkenswert. Denn in den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts konnte nur eine von hundert Russinnen die Schule besuchen.
Mit dem Abiturzeugnis stand den jungen Frauen allerdings nur die Möglichkeit offen, Grundschul- oder Hauslehrerin zu werden. Ein Studium war nur dem männlichen Teil der Bevölkerung erlaubt.
Für Nina und ihre Zeitgenossinnen gab es weder die Möglichkeit der Selbstverwirklichung noch die Befreiung von der elterlichen Autorität.
Heirat war für die Mehrheit der Frauen die einzig soziale Rechtfertigung ihres Daseins.
Nina war keine Vorzeigeschönheit, doch faszinierte ihre Art. Ein Zeitgenosse beschrieb sie ein paar Jahre nach ihrer Heirat mit den Worten:
Diese Frau, klein, rundlich, braun mit grünen Augen und einem großen verderbten Mund, nicht hübsch im landläufigen Sinn, aber sehr auffallend und für viele erotisch aufregend, etwas aufreizend dämonisch, was manche neugierig machen konnte…Halb Moskau war in sie verliebt.
Nina heiratete nicht aus Liebe, mit ihrer überstürzten Heirat wollte sie sich an einem ehemaligen Freund für ihre verletzten Gefühle rächen. Sokolow war eine beeindruckende Erscheinung, gut aussehend, geschmackvoll gekleidet mit einer samtweichen Stimme und rhetorisch gewandt. In den ersten sechs Jahren kam sie ihrer Pflicht als vorbildliche Ehefrau nach. Am Reichtum ihrer angeheirateten Familie konnte sie nur passiv teilhaben. Rechtlich hatte sie keinen Anspruch auf Eigentum. Sie hatte ihrem Mann zu gehorchen und Kinder zu bekommen, was in ihrem Fall allerdings nicht möglich war, die Mutterschaft blieb ihr versagt.
In ihrem ehelichen Zuhause fühlte sie sich unwohl. Nach ihrer Beschreibung herrschte eine unbeschreibliche Stillosigkeit, Wärme und Behaglichkeit fehlten gänzlich. In Moskau fühlte sie sich außerdem nicht heimisch.
Moskau gefiel mir nicht. Die große Stadt...war ein unordentlich zusammengestoppeltes großes Dorf. Es gab wenige Prunkstraßen, für europäische Begriffe keineswegs Avenuen oder Boulevards, doch schon die Seitenstraßen waren ärmlich und hässlich.
Nina rettete sich in die Welt der Bücher, sie las alles, was ihr in die Hände kam. Bücher, die sich mit Okkultismus befassten, die französischen Symbolisten, dann die russischen. Unter dem Einfluss der Frauenbildungsbewegung schrieb sie sich in einen Höheren Frauenkurs für Zahnmedizin ein.
Es mangelte an medizinischen Fachkräften, die Medizinerinnen sollten im Falle eines Krieges den Militärärzten zur Hand gehen. Nach vierjährigem Studium wurde Nina zur "wissenschaftlich ausgebildeten Zahnärztin" erklärt. Das erworbene Diplom war aber kein akademischer Grad und sie besaß auch nicht die gleichen beruflichen Rechte wie die männlichen Kollegen. Ninas Mann hatte inzwischen sein Jurastudium abgeschlossen und war in die Kanzlei seines Bruders mit eingestiegen.
Sokolows Salon entwickelte sich bald zum Treffpunkt des Moskauer Bürgertums. Nina fühlte sich in dieser Gesellschaft einsam und langweilte sich schrecklich.
Im Winter 1903 gründete Sokolow einen eigenen Verlag. Der Symbolismus hatte sich zu ungeahnter Blüte entwickelt und in Moskau gab es nur einen einzigen Verlag, mit Namen Skorpion, der sich auf diese Richtung spezialisiert hatte.
Auch dichtete Sokolow selbst.
Das Ehepaar einigte sich auf den Namen Greif. Brjussow, der Eigentümer des Skorpion duldete keinen Widerspruch bei seinen Autoren und so wechselten einige seiner Schützlinge zu dem neu gegründeten Verlag.
Der bürgerliche Salon der Sokolows wandelte sich zu einem Literatentreffpunkt. Es wurde gefeiert und getrunken, das Wort Dekadenz war in aller Munde. Einer der Stammgäste gestand aber:
"Am meisten waren wir von Sokolows Frau angetan."
Im ersten eigenen Almanach war Nina mit zwei kurzen Erzählungen der Herbst und Sie vertreten. Der Dichter Balmont wurde zur Galionsfigur des Verlages und Ninas Geliebter. Die leidenschaftliche Affäre war äußerst kräftezehrend und mit der Zeit verlor Nina die Lust, die Abende in lauten, verrauchten Spelunken zu verbringen. Außerdem hatte das Ehepaar Zwistigkeiten wegen interner Verlagsentscheidungen. Nina beendete die Beziehung zu ihrem Liebhaber und wandte sich dem jungen Dichter Andrej Belyi zu. Der schüchterne Poet gewann alle Herzen und bald war er Ninas Charme erlegen. Doch auch diese Liebschaft war quälerisch und Nina begann zu trinken, wurde depressiv, litt an Halluzinationen und hatte Anfälle von Hysterie.
In der undurchdringlichen, kontrovers diskutierten Hysterie liegt möglicherweise der Schlüssel zu Ninas unwiderstehlicher Anziehungskraft. In der Kindfrau Petrowskaja glaubte eine ganze Generation von Künstlern die Lösung für das Rätsel ihrer äußersten ästhetischen Schönheit gefunden zu haben. Denn nur einer perfekten, idealen Liebhaberin gelingt es, die zügellose, alle moralischen Gesetze verwerfende, dämonische Erotik mit der Unschuld, der seelischen Reinheit ja mit dem Göttlichen in der eigenen Person zu vereinen. Dieser Widerspruch steckt voller Zauber.
Ninas unwiderstehliche Anziehungskraft für die egomanischen Künstler wurde ihr zum Verhängnis. Ihre wechselnden Liebhaber konnten ihr nicht das geben was sie suchte. Sie waren zu sehr auf ihre eigene Person zentriert oder konnten sich nicht von ihren duldsamen Ehefrauen trennen. Nach ihrer Emigration aus Russland versuchte sie sich mit Übersetzungen über Wasser zu halten und scheiterte zuletzt an den politischen und ökonomischen Bedingungen. Ihre letzte Zuflucht war Paris, wo sie einsam und veramt 1928 freiwillig aus dem Leben schied.
AVIVA-Tipp: Die berührende Biographie einer intelligenten Frau, der es nicht vergönnt war, sich zu verwirklichen und die an der Sehnsucht, ihren Lebenshunger mit Liebhabern, Alkohol und Drogen zu stillen scheiterte.
Zur Autorin:
Liliana Kern, geboren 1958, studierte Slavistik und Osteuropäische Geschichte in Frankfurt am Main. Nach ihrem Studium arbeitete sie als Journalistin für verschiedene Zeitungen und die Deutsche Welle. Sie lebt als freie Autorin in Köln.
Liliana Kern
Der feurige Engel
Berliner Taschenbuch Verlag, erschienen Januar 2006
ISBN 3-8333-0359-X
11,90 Euro90008115&artiId=3584096"